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Paläontologie: Rätsel um das Tully-Monster

Ein Fisch, ein Wurm oder eine riesige Schnecke mit Reißzähnen – was war das Tully-Monster? Ein Forscherteam hat jetzt neue Hinweise gefunden.
Rekonstruktion des rätselhaften Tully-Monsters. Das Bild zeigt eine seltsam geformte Unterwassergestalt mit langen Stielaugen und einem rüsselähnlichen Maul mit Zähnen.
So könnte es einst ausgesehen haben, das rätselhafte Tully-Monster (Illustration).

Nur wenige Geschöpfe aus Fossilienfunden haben Paläontologen bislang mehr verblüfft als das Tully-Monster. Die seltsame Meereskreatur mit ihrer rüsselförmigen Schnauze mit Zähnen und ihren seitlich abstehenden Stielaugen ließ sich einfach nicht klassifizieren. Seit der Erstbeschreibung im Jahr 1966 haben Forscher das Tier mit einer Vielzahl von Organismen in einen Topf geworfen, darunter Ringelwürmer, Schwimmschnecken und primitive aalähnliche Kreaturen. In den vergangenen Jahren brachten Paläontologen das Tully-Monster sogar mit kieferlosen Fischen wie Neunaugen in Verbindung, die wegen ihrer wirbelsäulenartigen Struktur zu den Wirbeltieren zählen.

Ein japanisches Forscherteam hat nun einen hochauflösenden Laserscanner eingesetzt, um die dreidimensionale Anatomie der Fossilien des Tully-Monsters zu analysieren. Die in der Fachzeitschrift »Palaeontology« veröffentlichten Ergebnisse legen nahe, dass es sich bei dem rätselhaften Fossil offenbar doch um ein wirbelloses Tier handelt. Final geklärt ist seine wahre Identität aber nach wie vor nicht.

Hobbypaläonologe findet »Torpedo-Fossil«

In den 1950er Jahren entdeckte der Amateur-Fossilienjäger Francis Tully im Fossilvorkommen des Mazon Creek im Nordosten von Illinois, USA, den schemenhaften Abdruck eines torpedoförmigen Organismus mit einer großen Schwanzflosse. In dem Gebiet liegen die frühen Bewohner einer mehr als 300 Millionen Jahre alten Flussmündung des Karbonzeitalters in Eisensteinkonkretionen begraben. Die Fossillagerstätte ist berühmt für ihre ausgesprochen gute Konservierung: Neben den üblichen Schalentieren wie Garnelen, Pfeilschwanzkrebsen und Seeskorpionen finden sich hier auch die Überreste von Organismen wie Würmern und Quallen, deren weiche Körper nur selten versteinern.

So etwas wie das »Torpedo-Fossil« hatte Tully noch nie gesehen. Daher brachte er seinen Fund in das Field Museum of Natural History in Chicago. Dort waren die Paläontologen ebenfalls ratlos. Als ein Kurator des Museums das Fossil 1966 in einer Arbeit offiziell beschrieb, taufte er es auf den Namen Tullimonstrum gregarium. Seitdem ist es Wissenschaftlern nicht gelungen, zweifellos zu klären, ob das Tully-Monster eine Art Rückgrat hatte und wo die Kreatur im phylogenetischen Stammbaum einzuordnen ist.

Die unklaren Verwandtschaftsbeziehungen des Tully-Monsters

Im Jahr 2016 schlug ein Forscherteam eine mögliche Lösung vor. Victoria McCoy, Paläontologin an der University of Wisconsin-Milwaukee, und ihre Kollegen vermuteten, dass es sich bei einer Struktur, die zuvor als Darm des Tieres identifiziert worden war, eigentlich um die Chorda dorsalis handelte, auch Achsenstab genannt. Das ist eine primitive, wirbelsäulenähnliche Struktur, die das Tully-Monster beim Schwimmen gestützt haben könnte, so wie auch das Neunauge oder den Schleimaal. Es sei etwas schwierig gewesen, diese Übereinstimmung zu akzeptieren, weil Tully-Monster so anders aussehen, sagt McCoy, die nicht an der neuen Studie beteiligt war. »Aber sie haben eine Reihe von Merkmalen, die kieferlosen Fischen sehr ähnlich sind, darunter komplexe Augen und knorpelige Wirbel.«

Nicht alle Fachleute waren jedoch überzeugt, dass es sich bei dem Tully-Monster wirklich um ein Wirbeltier handelte. Um die Merkmale der rätselhaften Kreatur erneut zu analysieren, wendeten die Wissenschaftler in der weiteren Studie einen rein datengestützten Ansatz auf eine Reihe von Fossilien des Tully-Monsters an, die in japanischen Museumssammlungen aufbewahrt werden. »Subjektive Beobachtungen können zu Verzerrungen führen, deshalb haben wir detaillierte Messungen und datenwissenschaftliche Ansätze eingesetzt, um objektive Schlussfolgerungen ziehen zu können«, erklärt der Mitautor der Studie, Wataru Iwasaki, ein Evolutionsbiologe an der Universität von Tokio.

Tomoyuki Mikami, damals Iwasakis Doktorand, bemerkte, dass die Oberflächen der abgeflachten Tully-Monster-Fossilien subtile Anomalien aufwiesen. »Ich dachte, dass diese möglicherweise Anhaltspunkte sein könnten, um die Natur des Tully-Monsters zu verstehen«, sagt Mikami, der heute am Nationalmuseum der Naturwissenschaften in Tokio forscht und Hauptautor der neuen Studie ist.

Mit einer ähnlichen Technik, die zur Untersuchung von Dinosaurier-Fußabdrücken verwendet wird, erstellte das Team mit einem 3-D-Laserscanner farbcodierte digitale Karten der Oberflächen von mehr als 150 Tully-Monster-Fossilien. Anschließend untersuchten sie die feinen dreidimensionalen Strukturen statistisch, um die Anatomie der Tiere zu enträtseln.

Keine Wirbeltiermerkmale vorhanden

Das Team kam zu dem Schluss, dass mehrere Merkmale, die in früheren Studien den Bezug zu Wirbeltieren hergestellt hatten – wie Kiementaschen, spezielle Hirnmerkmale und Flossenstachel – bei den untersuchten Fossilien entweder fehlten oder zumindest strukturell nicht mit denen von Wirbeltieren übereinstimmten. Anhand von Mikro-Computertomografie-Aufnahmen untersuchten die Forscher auch das klauenartige Ende des versteinerten Rüssels des Tully-Monsters. Sie stellten fest, dass die dort sitzenden stacheligen Reißzähne keine Ähnlichkeit mit den Zähnen moderner kieferloser Fische wie Neunaugen aufweisen.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Wirbeltieren ist Mikami zufolge die Segmentierung des Tully-Monsters – also die Unterteilung des Körpers in primär gleichartige Abschnitte. »Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir eine Segmentierung im Kopfbereich gefunden haben«, sagt er. Die Segmentierung des Tully-Monsters erstreckt sich bis vor die Augen – ein Körperbau, der bei keinem anderen Wirbeltierstamm zu finden sei, so Mikami. Er betont jedoch, dass es nach wie vor schwierig sei, das Tully-Monster mit Sicherheit einer bestimmten Gruppe von Wirbellosen zuzuordnen.

McCoy glaubt zwar immer noch, dass das Tully-Monster mit kieferlosen Fischen verwandt war, ist aber von den Ergebnissen der neuen Studie fasziniert. »Der Nachweis der Segmentierung vor den Stielaugen spricht dafür, dass das Tully-Monster ein wirbelloses Chordatier sein könnte.« Diese Kategorie schließe auch Organismen wie die aalähnlichen Lanzettfischchen ein, sagt sie.

Wie dem auch sei, alle sind sich einig, dass weitere Forschung nötig ist, um das Tully-Monster endlich taxonomisch einzuordnen. Iwasaki glaubt, dass einige entscheidende Daten nur auf ihre Entdeckung warten. »Es gibt viele Exemplare, die in Museumssammlungen schlummern«, sagt er, »und wir haben jetzt wirklich gute Messtechnik und Werkzeuge, um sie im Detail zu untersuchen.«

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