Kunstraub: Räuber und Gendarm
Die Bilder sind unvergessen: Umgestürzte und enthauptete antike Statuen auf den Gängen der Ausstellungsräume, zerschlagene, ausgeräumte Schaukästen, verwüstete Büros und Archive, ein verzweifelter Museumsmitarbeiter ist zu Boden gesunken, hat seine Stirn in die Hände gestützt. Tags zuvor, am 10. April 2003, hatten die US-Truppen die Schlacht um Bagdad endgültig für sich entschieden und die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Nun machten sich Plünderer in einem beispiellosen Sturm über das Irakische Nationalmuseum und seine unvergleichliche Sammlung her.
Entgegen früher Warnungen von Wissenschaftlern aus aller Welt hatten die siegreichen Amerikaner keine Schutzmaßnahmen für das Museum vorbereitet. Eigentlich hatten sie so gut wie überhaupt keine Vorkehrungen für den Tag des Siegs getroffen: Lediglich das Ölministerium wurde von amerikanischen Soldaten abgeriegelt. Andere Ministerien blieben ungesichert und wurden ebenso von aufgebrachten Bürgern gestürmt wie Saddam Husseins Paläste, Krankenhäuser, Amtsgebäude und Niederlassungen der verhassten Baath-Partei des gestürzten Diktators – und eben das Nationalmuseum. Hunderte Plünderer drangen in das ehrwürdige Gebäude ein, verwüsteten die Büros der Verwaltung, raubten aus der einzigartigen Sammlung, was ihnen in die Hände fiel.
Nicht nur die akademische Welt war entsetzt: Ein Großteil des kulturellen Erbes des Irak, also Mesopotamiens und damit der gesamten Menschheit, schien verloren. Piotr Michalowski, Althistoriker an der Universität Michigan, meinte, es geschehe eine Katastrophe, "als ob die Uffizien, der Louvre oder alle Museen von Washington auf einen Schlag ausgelöscht" würden. Der britische Archäologe Trevor Watkins verglich die Plünderungen mit dem verheerenden Feuer, dem die antike Bibliothek von Alexandria zum Opfer fiel. Andere sprachen gar von "kulturellem Genozid" oder fühlten sich an den Mongolensturm von 1258 erinnert.
Die drastischen Worte schienen durchaus angebracht. Nicht weniger als 170 000 Exponate, so hieß es in ersten Meldungen, seien in zwei, drei chaotischen Tagen nach der Schlacht um Bagdad geraubt worden. Bei der Zahl handelte es sich allerdings um ein Missverständnis. Das Irakische Nationalmuseum hat nämlich seinen Bestand von rund einer halben Million Objekten unter 170 000 Inventarnummern registriert. Der größte Teil der Exponate war aber bereits lange vor der Schlacht in Sicherheit gebracht worden. Dennoch ist der tatsächliche Schaden schlimm genug – und kaum zu beziffern. Matthew Bogdanos, der noch im Jahr 2003 im Auftrag der US-Streitkräfte die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall übernahm, schätzte die Zahl der tatsächlich geraubten Exponate zwar recht moderat auf bis zu 15 000. Michael Müller-Karpe, Archäologe am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz, meint jedoch, dass man bis heute noch längst keinen Überblick hat, was genau fehlt. "Dazu muss erst einmal Inventur gemacht werden", sagt der prominente Aktivist gegen Kunstraub und Antikenschmuggel, "und das kann Jahrzehnte dauern." Zu unübersichtlich sind die Inventarbücher im DIN-A2-Format, so dass sich bis heute noch keiner einen exakten Überblick verschaffen konnte, was genau fehlt.
Alle Fachleute stimmen jedoch darin überein, dass wohl erst ein Bruchteil der damals geraubten Exponate wiederentdeckt und dem Museum übergeben werden konnten. Aber immerhin: Das eine oder andere wertvolle Artefakt fand sich im Gepäck von Armeeangehörigen oder Diplomaten. Mancher Bagdader Bürger, der im Chaos nach der Schlacht zum Plünderer geworden war, gab ermutigt durch eine Amnestie die geraubten Schätze freiwillig zurück. Ebenso jene Anwohner, die während der Plünderungen eingeschritten waren und Exponate in Sicherheit gebracht hatten, um sie später wieder dem Museum zu übergeben. So fanden etwa wertvolle Stücke wie die so genannte Dame von Warka (Uruk), eine rund 5000 Jahre alte Alabastermaske, sowie zahlreiche Keilschrifttäfelchen wieder zu ihrem rechtmäßigen Besitzer, dem Nationalmuseum.
In jenem April 2003 hatten aber bei Weitem nicht nur Gelegenheitsdiebe zugeschlagen. Den größten Schaden richteten professionelle Banden an, die sich die teuersten Stücke aussuchten und wegschafften – sowie eine dritte Gruppe von Plünderern, die der Sonderermittler Bogdanos "Insider" nennt. Der Raub der kompletten Rollsiegelsammlung des Museums war offenbar solch ein Insiderjob. Die Kollektion befand sich in einer Kiste im hintersten Winkel des Depots und wurde von den Räubern ganz gezielt ausgesucht. Hatten die Diebe doch alle anderen Kisten im Magazin ignoriert und nur jene mitgenommen, in der sich die rund 5000 Siegel befanden. Müller-Karpe, der von 1976 bis 2003 immer wieder am Bagdader Museum arbeitete, glaubt indes nicht, dass es sich bei den Insidern um Museumsmitarbeiter gehandelt hat. Allzu viele Personen von außerhalb des Hauses hätten schon vor den Plünderungen Zugang zu allzu vielen Räumen des Museums gehabt. So seien etwa bis kurz vor dem Krieg Mitarbeiter einer Baufirma mit Renovierungsarbeiten im Bereich des Depots beschäftigt gewesen.
Wer auch immer die Sammlung in seinen Besitz gebracht hat, dürfte bis auf Weiteres ausgesorgt haben. Vorausgesetzt natürlich, der oder die Täter konnten die Stücke auch veräußern. Zwar gehen diese bis zu 5000 Jahre alten Rollsiegel mitunter schon für umgerechnet nur 40 Euro über den Ladentisch – oder darunter durch –, vor ein paar Jahren aber wechselte ein solches Artefakt für 500 000 Dollar den Besitzer, ein anderes für 130 000. Mit anderen Objekten aus Mesopotamien lassen sich weit höhere Einkünfte erzielen. Im Dezember 2007 etwa zahlte ein Sammler 57 Millionen Dollar für eine nur acht Zentimeter große Löwenstatuette.
Geschäfte dieser Art können öffentlich und unbehelligt abgewickelt werden, wenn es sich um antike Stücke handelt, die bereits vor 1990 aus dem Irak geschafft wurden. Denn nach dem Krieg von 2003, der Plünderung des Nationalmuseums und der immensen Zunahme von Raubgrabungen im Land drängte eine derart große Menge an irakischen Antiquitäten auf den internationalen Markt, dass der Gesetzgeber sich genötigt sah zu reagieren. Zwar ist der Handel mit irakischen Antiken ohne Exportdokumenten seit einem Exportverbot von 1869 untersagt, doch "erst seit zehn Jahren haben wir in der EU endlich ein explizites Handelsverbot für irakische Antiken", sagt Müller-Karpe. Dessen ungeachtet gedeiht der Markt: Fachleute der Vereinten Nationen schätzen, dass die jährlichen Gewinne aus dem Schwarzhandel mit Antiken längst jene aus dem illegalen Waffenhandel (rund 100 Millionen Dollar) überflügelt haben und nur noch von jenen im Drogengeschäft (etwa 170 Millionen) übertroffen werden.
Dass sich arme Schlucker wie irakische Bauern bei derartigen Dimensionen trotz aller Risiken zu Plünderungen oder Raubgrabungen hinreißen lassen, ist nachvollziehbar. Die wahren Gewinne aber machen immer noch die großen Händler in den reichen Metropolen der westlichen Welt. Zudem setzen sie sich dabei einem weit geringeren Risiko aus als die einfachen Räuber vor Ort. Die weltweite Fahndung nach irakischen (und auch anderen) Antiken führt nämlich allzu selten zu Ergebnissen. Auf einer Liste von Interpol werden etwa 2500 Objekte aus dem Irak gelistet, dabei fehlen allein aus dem Nationalmuseum rund doppelt so viele Rollsiegel. "Insgesamt sind aber sicher mehrere hunderttausend Objekte aus dem Irak verschwunden", sagt Michael Müller-Karpe. Die Interpol-Liste sei gut gemeint, nütze aber nicht wirklich: "Antikenhändler können getrost Stücke an- und verkaufen, die hier nicht aufgelistet sind." So würde aus einem Ansatz zur Fahndung nach Raubgut ein Instrument zur Reinwaschung der Händler. Ganz wie im Kinderspiel haben auch im wahren Leben die Räuber einen Vorteil vor den Gendarmen – und diesen nutzen sie.
Dem Museum selbst geht es unterdessen auch nicht wirklich gut. Es wurde zwar im Februar 2009 von Premierminister Nuri al-Maliki für internationale Gäste einen Tag lang geöffnet, blieb aber davon abgesehen bis heute geschlossen. An allen Ecken und Enden fehlt es an allem. Die Antikenbehörde verfügt über viel zu wenig Geld, um auch nur das völlig veraltete Sicherheitssystem, ja die gesamte Elektronik des Gebäudes in Stand zu setzen, geschweige denn auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Auch die Aufräum- und Renovierungsarbeiten gehen trotz ausländischer Hilfe – Deutschland lieferte etwa Archivschränke und beteiligt sich zudem an der Ausbildung irakischer Archäologen – nur sehr schleppend voran. Am schwersten aber wiegt, dass zahlreiche, auch besonders wertvolle Objekte noch immer unauffindbar sind – verschollen auf dem Schwarzmarkt für Antiken oder in den Tresoren reicher Sammler.
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