Mikroaggressionen: Wie tausend kleine Mückenstiche
Anfang der 1970er Jahre machte der afroamerikanische Psychiater Chester Pierce von der Harvard University immer wieder dieselbe unangenehme Erfahrung. In einer Klasse, die er unterrichtete, kam nach jeder Sitzung ein weißer Medizinstudent auf ihn zu. Er sagte ihm, wie der Kurs strukturiert sein sollte oder wie die Stühle platziert sein sollten. Pierce fühlte sich belehrt. »Es geht nicht darum, was der Student in diesem Gespräch sagt«, schrieb er. »Sondern darum, wie er auf mich zugeht, wie er mit mir spricht, wie er mich zu betrachten scheint.«
Pierce fühlte sich als Schwarzer bevormundet. Auf Grund solcher Erfahrungen prägte er den Begriff der »Mikroaggressionen« für Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation, die als übergriffig wahrgenommen werden. Zwar ist das Konzept bis heute umstritten, doch neuere Forschungen legen nahe: Mikroaggressionen sind durchaus real und haben spürbare Folgen für Körper und Psyche.
In den akademischen Mainstream erhielt das Konzept erst im Jahr 2007 Einzug, als der Psychologe Derald Wing Sue von der Columbia University ihm schärfere Konturen verpasste: Er betrachtete Mikroaggressionen als subtile, alltägliche Demütigungen und Herabsetzungen von Menschen. Das können verbale Äußerungen sein, aber auch Verhaltensweisen, etwa wenn Minderheiten ignoriert werden. Mikroaggressionen können absichtlich sein oder unbeabsichtigt auftreten. Ein typisches Beispiel dafür ist die Frage, die Schwarze oder Menschen anderer Ethnien in Europa oft zu hören bekommen: »Wo kommst du denn her?«
»Diese Frage hat eine schädigende Wirkung«, sagt der Sozialpsychologe Andreas Zick von der Universität Bielefeld. »Und zwar wenn sie bewusst oder unbewusst mit der Botschaft verbunden ist: Du gehörst nicht dazu.« In der ursprünglichen Version bezogen sich Mikroaggressionen auf rassistische Demütigungen gegenüber People of Color. Aber auch andere Minderheiten wie Homosexuelle bekommen sie immer wieder zu spüren. Letztlich gibt es Mikroaggressionen in vielen verschiedenen Formen. Dass People of Color beispielsweise häufig eine schlechtere medizinische Versorgung erhalten, zählt Zick ebenfalls dazu.
Wissenschaftlich ist das Konzept umstritten
Ob etwas als Mikroaggression gewertet wird oder nicht, hängt entscheidend vom Erleben der betroffenen Person ab. »Fühlt sich eine Person angegriffen, etwa durch die Frage nach ihrer Herkunft, ist sie Opfer einer Mikroaggression«, erklärt Zick. Doch solche Aussagen sorgen für Kritik. Wie soll man etwas wissenschaftlich untersuchen, was letztlich völlig subjektiv ist? Der 2020 verstorbene US-amerikanische Psychologe Scott Lilienfeld von der Emory University argumentierte deshalb, der subjektive Eindruck einer Person allein reiche nicht aus, um von einer Mikroaggression zu sprechen.
»Das Konzept der Mikroaggressionen ist wissenschaftlich weiterhin umstritten«, sagt der Soziologe Il-Tschung Lim vom der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Person, an die eine Äußerung gerichtet ist, habe die Definitionshoheit. »Das finde ich problematisch. Denn dann wäre es vollkommen unerheblich, was der Absender mit der Aussage eigentlich gemeint hat.«
Auch Lim wird auf Grund seines Aussehens und seines Namens immer wieder gefragt, woher er denn eigentlich komme. Oder man weist großzügig darauf hin, wie gut sein Deutsch ist – obwohl er in Deutschland geboren ist und sein gesamtes Leben hier verbracht hat. »Gerade wenn die Frage nach der Herkunft aus dem Nichts kommt, empfinde ich sie zumindest als deplatziert«, sagt der Soziologe. Aber er begreife sie nicht automatisch als Mikroaggression. Das Problem sei nämlich: »Man schreibt auf diese Weise schon fest, was die Frage bedeutet.« Es könne jedoch ebenso gut sein, dass das Gegenüber ein großer Fan der koreanischen Küche oder des koreanischen Kinos ist und nur darum fragt. Man müsse solche Äußerungen also immer im Kontext betrachten – und das mache das Konzept der Mikroaggressionen angreifbar.
»Das käme einer Pathologisierung alltäglicher Erfahrungen gleich«Il-Tschung Lim, Soziologe
Il-Tschung Lim zufolge kann das Wissen um Mikroaggressionen bestimmt dazu beitragen, dass man sensibler kommuniziert. Doch man dürfe nicht alle mehrdeutigen Äußerungen pauschal als Mikroaggressionen werten. »Das käme einer Pathologisierung alltäglicher Erfahrungen gleich.«
In den Augen von Andreas Zick spielt der Kontext, in dem eine Aussage gemacht wird, ebenfalls eine wichtige Rolle. Es gebe sicherlich Situationen, in denen man etwa die Frage nach der Herkunft nicht aus rassistischen Gründen stellt, sondern weil es einen wirklich interessiert, aus welchem Land der andere stammt. »Bei den Geflüchteten war das so«, sagt Zick. »Und die Frage kann ja auch damit verbunden sein, dass Menschen kulturelle Unterschiede beachten wollen.« Darum müsse man zusätzlich nachweisen, dass der Täter rassistische oder andere negative Einstellungen hat.
Verdeckte Anfeindung oder kultureller Fauxpas?
Die klinische Psychologin Monnica Williams von der Ottawa University untersuchte 2021, ob hinter Mikroaggressionen wirklich immer Aggression steckt oder ob sich Menschen vielleicht nur zu Mikroaggressionen hinreißen lassen, weil sie gar nicht wissen, dass solche Handlungen falsch sind – wie Kritiker des Konzepts gerne einwenden. Sind vermeintliche Mikroaggressionen am Ende nur eine Art kultureller Fauxpas?
In ihrer Studie mit mehr als 600 Probanden sollten sich zunächst weiße Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestimmte Situationen vorstellen – zum Beispiel eine Studieneinheit zu aktuellen Ereignissen und rassistischen politischen Themen. Dann sollten sie angeben, ob sie in diesem Zusammenhang Aussagen machen würden wie: »Jeder leidet. Nicht nur schwarze Menschen.« Oder: »Jeder kann in dieser Gesellschaft Erfolg haben, wenn er hart genug arbeitet.« Anschließend durften schwarze Versuchspersonen beurteilen, für wie rassistisch sie solche Aussagen hielten. Dabei zeigte sich: Aussagen, welche die schwarzen Probanden besonders rassistisch fanden, waren auch weiße Probanden weniger geneigt zu machen. Es gab also einen gewissen Konsens darüber, wie verletzend bestimmte Aussagen waren.
Die Psychologin erfasste mit Hilfe von Fragebogen zudem, wie stark die weißen Teilnehmer zu aggressivem Verhalten neigten – ob verbal oder körperlich. Je aggressiver die Teilnehmer waren, desto eher griffen sie auf Mikroaggressionen zurück. Williams' Schlussfolgerung: Mikroaggressionen sind tatsächlich eine beabsichtigte Form der Aggression und nicht einfach nur ein kultureller Fauxpas.
Mikroaggressionen können Stress, Ängste und Depressionen begünstigen
Man muss dieses pauschale Fazit nicht teilen. Gleichwohl häufen sich die Hinweise drauf, dass Mikroaggressionen durchaus sehr reale Folgen für die Betroffenen haben können. Manchmal werden sie mit kleinen Mückenstichen verglichen: Wird man einmal gestochen, juckt es nur für kurze Zeit. Bekommt man aber immer wieder an die gleiche Stelle einen Stich, verheilt er vielleicht nie.
Für eine Übersichtsarbeit zu den Folgen von Mikroaggressionen analysierte die Psychologin Lisa Spanierman von der Arizona State University zusammen mit ihren Kollegen 138 Studien. Die Forscher kamen dabei zu dem Schluss, dass Mikroaggressionen die seelische wie die körperliche Gesundheit negativ beeinträchtigen können. Physiologisch gingen Mikroaggressionen bei den Betroffenen beispielsweise mit gesteigerten Werten des Stresshormons Kortisol einher.
Was Mikroaggressionen konkret für die Psyche bedeuten können, führt eine umfangreiche Metaanalyse der Psychologin Priscilla Lui von der Southern Methodist University vor Augen. Waren Menschen in ihrem Leben im größeren Maß mit Mikroaggressionen konfrontiert, ging das mit diversen Problemen einher, darunter Angststörungen, Depressionen und vermehrter Stress. Die Betroffenen neigten stärker zu Süchten wie etwa der Glücksspielsucht, rauchten häufiger und tranken mehr Alkohol. Das traf sowohl auf Menschen zu, die rassistischen Mikroaggressionen ausgesetzt waren, als auch auf solche, die Opfer von Mikroaggressionen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung wurden.
»Mikroaggressionen belasten Körper und Psyche«Andreas Zick, Sozialpsychologe
Oft belasten Mikroaggressionen die Betroffenen für lange Zeit. Das belegen Langzeitdaten, die Micere Keels von der University of Chicago von mehr als 460 schwarzen Menschen und Latinos sammelte. Erlebten sie während der Highschool Mikroaggressionen, litten sie zu Beginn der College-Zeit häufiger unter Symptomen einer Depression.
»Mikroaggressionen belasten Körper und Psyche«, sagt der Bielefelder Sozialpsychologe Andreas Zick. Meist zwar nicht unmittelbar, aber auf lange Sicht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es nicht gelingt, die Erfahrungen zu bewältigen. »Wenn man die Betroffenen von der Gesellschaft ausschließt, ziehen sie sich zurück und können vereinsamen.« Häufig werden Menschen, die viel mit Mikroaggressionen zu tun haben, irgendwann hypersensibel. »Man erwartet dann regelrecht, dass man von anderen herabgewürdigt wird«, erklärt Zick.
Bislang sind Mikroaggressionen vor allem in den USA ein heißes und kontroverses Thema, besonders an den Universitäten. Dort haben sie in den vergangenen Jahren zu regelrechten Grabenkämpfen geführt. Auf der einen Seite befinden sich die Verteidiger der Redefreiheit, auf der anderen diejenigen, die vor Diskriminierung schützen wollen. Es gibt ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten, die sich diskriminiert fühlen und diese Diskriminierung unter anderem mit Hilfe der Idee von Mikroaggressionen benennen.
In Europa hingegen gebe es noch kein wirkliches Konzept von Mikroaggressionen, sagt Andreas Zick. Doch auch hier zu Lande könnte man davon profitieren, das Thema stärker in den Fokus zu rücken: »Es hilft uns, versteckte Aggressionen zu erkennen.«
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