Simulationen: Rauchende Colts in der Milchstraße
Unser Milchstraßensystem ist heute ein ruhiges Pflaster. Sie bildet neben dem Andromedanebel und einigen kleineren Galaxien die Lokale Gruppe, einen beschaulichen Galaxienhaufen. Dieser galaktische Frieden bestand allerdings nicht immer. Eine Gruppe von Forschern um Chris Purcell von der amerikanischen Universität Pittsburgh veröffentlichte am 15. September im Fachjournal Nature eine Reihe von Computersimulationen zur Vergangenheit des Milchstraßensystems. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass vor etwa zwei Milliarden Jahren eine kleinere Galaxie die Scheibe unserer Milchstraße durchstieß und so ihre Spiralarme entstanden.
Beim galaktischen Projektil handelt es sich um die Sagittarius-Zwerggalaxie, die heute ein eher unscheinbares Bild im All abgibt und erst 1994 entdeckt wurde. Bei Beobachtungen des Zentrums der Milchstraße fielen damals Rodrigo Ibata, Mike Irwin und Gerry Gilmore von der britischen Universität Cambridge unter Millionen von Sternen etwa hundert Sterne auf, die sich derart außergewöhnlich verhielten, dass sie nicht zu unserer eigenen Galaxie gehören konnten. Die Zwerggalaxie versteckt sich hinter Sternen und Staub des Zentrums der Milchstraße und liegt in Blickrichtung des Sternbilds Schütze, das im englischen Sprachgebrauch entsprechend seiner lateinischen Bezeichnung Sagittarius genannt wird. So kam der zehnmal kleinere und tausendmal masseärmere Begleiter unserer Milchstraße zu seinem Namen.
Die Sagittarius-Zwerggalaxie umkreist unsere Milchstraße in ihren Randbereichen in einer Entfernung von etwa 50 000 Lichtjahren. Bis zum Jahr 2003 war sie die nächste bekannte Galaxie, dann musste sie diesen Titel aber an die neu entdeckte Zwerggalaxie Canis Major abgeben. Sagittarius läuft in einer polaren Umlaufbahn durch die Scheibe unsere Milchstraße und wird durch die enormen Gezeitenkräfte immer stärker auseinander gerissen. Dabei versprüht die Zwerggalaxie ihre Materie in Form von leuchtenden Gezeitenströmen aus Sternen ins Weltall.
In den Simulationen von Chris Purcell durchstößt die damals noch deutlich kompaktere und massereichere kleine Galaxie die Ebene unserer Milchstraße. Durch die starken gravitativen Störungen dieses Einschlags trennen sich im Lauf mehrerer Umdrehungen der Milchstraße nun einzelne Arme von der einstmals gleichmäßigen Scheibe. Währenddessen zerreißen die Gezeitenkräfte unserer Galaxie den zwergenhaften Störenfried und wirbeln ihn um das galaktische Zentrum. Bis zum heutigen Zeitpunkt entstehen dadurch weitläufige Gezeitenströme, die sich um die Milchstraße winden, während der Kernbereich der Zwerggalaxie nach anderthalb Umläufen um das Zentrum der Milchstraße gerade wieder auf Höhe der Scheibenebene angekommen ist.
Unser Bild von der Spiralstruktur der Milchstraße ist nach wie vor unvollständig. Das liegt insbesondere an der ungünstigen Beobachtungsposition mitten in der Galaxis, aber auch an der theoretischen Modellierung kosmischer Vorgänge. Wenn Astronomen die Struktur des Milchstraßensystems verstehen wollten, gingen sie oft davon aus, dass es in der Geschichte unserer Galaxis keine starken äußeren Einflüsse gab. Bisherige Computermodelle, mit denen Astronomen sich auf das Zerreißen von Sagittarius und die Entstehung seiner Gezeitenströme konzentrierten, behandelten daher auch die Zwerggalaxie höchstens als unbedeutenden Störenfried mit vernachlässigbaren Auswirkungen auf die Gestalt der Milchstraße. Die neuen Simulationen von Purcell zeigen dagegen, dass der Einfluss von Sagittarius auf das Milchstraßensystem enorm gewesen sein könnte. Kleinere galaktische Objekte, die in großer Zahl im Universum vorkommen, hatten daher im Lauf von Jahrmilliarden also möglicherweise einen entscheidenden Einfluss auf die heutige Form ausgedehnter Galaxien.
Mike Beckers
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