Direkt zum Inhalt

Raumzeit: Mit Mathematik in die Zeit vor dem Urknall schauen

Kam vor den ersten Momenten des Universums wirklich – nichts? Neue Berechnungen für die Geometrie von Raum und Zeit bieten eine alternative Sicht auf die Singularität am Anfang des Kosmos.
Von einem zentralen, leuchtenden Fluchtpunkt aus expandiert das Weltall
Laut dem Standardmodell der Kosmologie entstand das Universum durch enorm schnelle Ausdehnung aus einem einzigen Punkt.

Vor etwa 13,8 Milliarden Jahren bestand das gesamte Weltall aus einem unvorstellbar winzigen, heißen und dichten Punkt, der sich auf einen Schlag enorm ausdehnte. So lautet die Geschichte vom Urknall. Die Erzählung nahm in den 1920er Jahren erstmals Gestalt an und wurde im Lauf der Jahrzehnte ausgebaut – heute ist der Urknall Teil des so genannten kosmologischen Standardmodells. Vor allem in den 1980er Jahren setzte sich die Überzeugung durch, dass das Universum in seinen ersten Momenten eine kurze Phase außergewöhnlich schneller Ausdehnung durchlief, die als Inflation bezeichnet wird. Anschließend legte die Expansion einen niedrigeren Gang ein.

Die extrem schwungvolle anfängliche Entwicklung soll durch eine besondere Energieform verursacht worden sein, welche die Wirkung der Schwerkraft gewissermaßen umkehrte. Sie hätte das Gefüge des Universums exponentiell schnell aufgeblasen: In weniger als einem Milliardstel eines Milliardstels einer milliardstel Sekunde wäre das All um einen ebenso gigantischen Faktor gewachsen. Das Konzept erklärt, warum das Universum so homogen erscheint, wenn man es in großem Maßstab betrachtet, denn die Inflation hätte alles regelrecht glatt gezogen.

Wenn die Inflation für alles verantwortlich sein soll, was wir heute sehen können, stellt sich die Frage: Was kam davor? Gab es überhaupt ein »Davor«?

Bislang gibt es keinerlei Experimente, die einen Blick vor die Inflation ermöglichen könnten. Mit Hilfe der Mathematik lassen sich jedoch einige potenzielle Szenarien skizzieren. Die Strategie besteht darin, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die das Verhalten der Schwerkraft als Effekt der gekrümmten Raumzeit beschreibt, so weit wie irgend möglich in die Vergangenheit anzuwenden.

»Wir haben mathematisch gezeigt, dass es einen Weg geben könnte, über unser Universum hinauszusehen«Eric Ling, Universität Kopenhagen

Die theoretische Kosmologin Ghazal Geshnizjani vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo hat gemeinsam mit ihrem Institutskollegen Jerome Quintin sowie dem Topologen Eric Ling von der Universität Kopenhagen im Oktober 2023 eine entsprechende wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht. In dieser, erklärt Ling, »haben wir mathematisch gezeigt, dass es einen Weg geben könnte, über unser Universum hinauszusehen«. Der nicht an der Studie beteiligte Physiker Robert Brandenberger von der McGill University in Montreal urteilt, die Untersuchung setze »einen neuen Standard für die Strenge der Analyse« für die Mathematik des Beginns der Zeit.

Mathematische Tricks gegen die Hoffnungslosigkeit

In manchen Fällen kann das, was auf den ersten Blick wie eine Singularität in der Raumzeit aussieht – das heißt wie ein Punkt in dem Gefüge von Raum und Zeit, für den alle mathematischen Beschreibungen versagen –, in Wirklichkeit bloß eine Illusion sein. Geshnizjani, Ling und Quintin haben sich daher gefragt, ob die Gesetze der Gravitation vor der Inflation wirklich in einer Singularität enden.

Ein einfaches Beispiel für eine mathematische Singularität ist das, was mit der Funktion 1x passiert, wenn x gegen null geht. Während x immer kleiner wird, wächst1x an, die Funktion läuft gegen unendlich. Wenn x gleich null ist, ist sie nicht mehr wohldefiniert: Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Funktion die Realität sinnvoll beschreibt.

Mitunter lässt sich eine Singularität jedoch mit passenden mathematischen Werkzeugen beseitigen. Nehmen wir zum Beispiel den Nullmeridian, der durch das englische Greenwich am Längengrad Null läuft. Wenn man eine Funktion von 1Längengrad hätte, würde sie in Greenwich völlig verrücktspielen. Die Londoner Vorstadt ist aber physikalisch gesehen nichts Besonderes. Man könnte den Nullmeridian leicht umdefinieren und ihn an einen anderen Ort auf der Erde verlegen.

Falsche und echte Unendlichkeiten in Schwarzen Löchern

Etwas Ähnliches passiert in den Grenzbereichen mathematischer Modelle für Schwarze Löcher. 1916 hat der Physiker Karl Schwarzschild Gleichungen aufgestellt, um ruhende, kugelförmige Schwarze Löcher zu beschreiben. Sie enthalten einen Term, dessen Nenner am so genannten Ereignishorizont – der Region, die ein Schwarzes Loch umgibt und aus der nichts entweichen kann – gegen null geht. Das legte zunächst die Annahme nahe, der Ereignishorizont sei eine physikalische Singularität. Doch acht Jahre später zeigte der Astronom Arthur Eddington, dass die Singularität verschwindet, wenn man andere Koordinaten verwendet. Wie der beispielhafte Nullmeridian ist der Ereignishorizont lediglich eine Illusion, ein mathematisches Artefakt. Es handelt sich um eine »Koordinatensingularität«, die allein auf Grund unpassend gewählter Koordinaten entsteht.

Im Zentrum eines Schwarzen Lochs streben die Werte für die Dichte und Krümmung hingegen tatsächlich ins Unendliche, und zwar auf eine Weise, die sich selbst durch ein anderes Koordinatensystem nicht beseitigen lässt. Die Gesetze der allgemeinen Relativitätstheorie spucken Kauderwelsch aus. Das nennt man eine Krümmungssingularität. Hier geschieht etwas, was sich mit derzeitigen physikalischen und mathematischen Modellen grundsätzlich nicht mehr beschreiben lässt.

Es muss eine Singularität gegeben haben, mit der die Dinge in Gang kamen. Doch welche Art von Singularität?

Geshnizjani, Ling und Quintin haben untersucht, ob der erste Moment des Urknalls eher mit dem Zentrum eines Schwarzen Lochs oder mit dessen Ereignishorizont zu vergleichen ist. Ihre Vorgehensweise stützt sich auf ein Theorem, das Arvind Borde, Alan Guth (einer der Väter der Inflation) und Alexander Vilenkin 2003 bewiesen haben. Dieses als BGV bezeichnete Theorem besagt, dass die Inflation einen Anfang hatte – sie lässt sich nicht unaufhörlich in die Vergangenheit fortschreiben. Es muss eine Singularität gegeben haben, mit der die Dinge in Gang kamen. Das BGV-Theorem weist ihre Existenz nach, ohne jedoch zu sagen, um welche Art von Singularität es sich handelt.

Ziegelmauer oder Vorhang?

Laut Quintin wollten er und seine Mitstreiter herausfinden, ob die Singularität eine Ziegelmauer (eine Krümmungssingularität) oder ein Vorhang ist, der sich öffnen lässt (eine Koordinatensingularität). Dem Mathematiker Eric Woolgar von der University of Alberta zufolge verbessert die Studie unser Bild von der Urknallsingularität: »Damit lässt sich sagen, ob die Krümmung an der Anfangssingularität unendlich ist oder ob es sich um eine mildere Form der Singularität handelt. Letzteres könnte es ermöglichen, das Modell des Universums auf eine Zeit vor dem Urknall auszudehnen.«

Um denkbare Szenarien vor der Inflation zu klassifizieren, haben die drei Fachleute einen Skalenfaktor genannten Parameter genutzt. Er beschreibt, wie sich der Abstand zwischen Objekten während der Expansion des Universums verändert hat. Definitionsgemäß war der Skalenfaktor zum Zeitpunkt des Urknalls null: Alles war auf einen dimensionslosen Punkt konzentriert.

Während der Inflation nahm der Skalenfaktor exponentiell zu. Vor der Inflation hingegen hätte er sich auf verschiedene Weise verändern können. Die neue Arbeit liefert ein Klassifikationsschema für verschiedene Singularitäten, je nach Szenario. »Wir zeigen, dass der Skalenfaktor unter bestimmten Bedingungen eine Krümmungssingularität hervorruft, in anderen Fällen jedoch nicht«, erläutert Ling.

Bereits zuvor war klar: In einem hypothetischen Universum mit Dunkler Energie, aber ohne Materie ist der im BGV-Theorem formulierte Beginn der Inflation eine Koordinatensingularität, die sich beseitigen lässt. Aber natürlich gibt es im realen Universum Materie. Könnte es mit mathematischen Tricks dennoch möglich sein, auch hier die Singularität zu umgehen? Der jüngsten Untersuchung zufolge lässt sie sich beseitigen, wenn die Menge der Materie im Vergleich zur Dunklen Energie vernachlässigbar klein ist. »Lichtstrahlen können tatsächlich durch die Grenze gehen«, sagt Quintin. »Und in diesem Sinn kann man über die Grenze hinaussehen, sie ist nicht wie eine Ziegelmauer.« Somit würde die Vergangenheit des Universums über den Urknall hinausreichen.

Laut kosmologischen Modellen gab es im frühen Universum allerdings mehr Materie als Dunkle Energie. In diesem Fall wäre die BGV-Singularität der neuen Arbeit zufolge eine echte physikalische Krümmungssingularität. Hier verlören die bekannten Gesetze der Schwerkraft ihre Aussagekraft.

Singularitäten weisen darauf hin, dass ein Modell die Gesetze der Physik noch nicht vollständig erfasst. Auf dem Weg zu einem umfassenderen Bild bemühen sich Theoretikerinnen und Theoretiker schon lange darum, die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik zu vereinen. Ling hofft, mit der Untersuchung einen weiteren Stein auf dem Weg dorthin gelegt zu haben. Denn um zu ergründen, wie sich das Universum in seinen energiereichsten Momenten verhalten hat, betont der Forscher, »müssen wir zunächst die klassische Physik so gut wie möglich verstehen«.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Geshnizjani, G. et al.: On the initial singularity and extendibility of flat quasi-de Sitter spacetimes. Journal of High Energy Physics 2023, 2023

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.