Neuronale Plastizität: Recycling für den Augenaufschlag
Hirnareale mit Spezialfunktion entwickeln sich oft nur dann richtig, wenn sie schon ganz früh adäquat gefordert werden - angestoßen von jenen Sinnenszellen, mit denen sie dann später routinemäßig zusammenarbeiten. Für ihren ersten kommunikativen Kontakt nutzen Sinnes- und Nervenzelle allerdings unerwartete Wege.
Am Gehirn herumzubauen ist Präzisionsarbeit – nur die richtigen Neuronen sollten mit den passenden Nachbarn verschaltet werden, damit das wachsende Nervennetz am Ende auch sinnvolle Arbeit leisten kann. Hirnkonstruktion ist zugleich aber eine Frage des Timings: Wenn die körpereigenen Architekten nach dem Ablesen des Bauplans ihre Befehlsüberträger zum falschen Zeitpunkt mit der richtigen Order an die richtigen Stellen schicken, geht fast immer alles ganz schön schief. Takeo Hensch von der Havard Medical School und seine Kollegen liefern dafür nun ein Beispiel, an dem Neurologen einige spannende Neuigkeiten über die Tricks und Kniffe beim Nervenverdrahten ableiten können.
Ins Auge war ihnen einer der Signalüberträger gesprungen, die schon in den frühesten Phasen der embryonalen Entwicklung eine Rolle spielt – das so genannte Homöoprotein Otx2. Bereits ganz am Anfang des Lebens entscheidet der wohldosierter Einsatz des spröde benannten Eiweiß über Leben und Tod: Fehlt dieser Faktor einem Mausembryo zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, so fehlt dem Fötus am Ende der ganze Kopf – buchstäblich. Nach erfolgreicher Organisationsarbeit verschwindet das Protein zunächst wieder aus den Zellen. Ganz offenbar hat es aber etwas später einen weiteren, ebenfalls sehr wichtigen Auftrag, meinen nun Hensch und Co.
Die Wissenschaftler hatten sich für die Plastizität des Gehirns interessiert, also die Fähigkeit zu flexiblen Umbauten des Nervennetzwerkes, welche die Grundvoraussetzung für das Lernen durch sämtliche Lebenserfahrungen sind. Die Plastizität ist in verschiedenen Hirnarealen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägt. Dies macht sich dann, so die gängige Hypothese, zum Beispiel beim Vergleich von Kleinkindern und Senioren bemerkbar: Deren Gehirne integrieren Information – etwa neue Wörter beim Erlernen einer Sprache – wohl auf Grund der unterschiedlichen neuronalen Umbaukapazitäten sehr unterschiedlich schnell.
Wie genau die Gehirnumbau und -aufnahmekapazitäten eingestellt wird, blieb bis dato indes kaum verstanden. Welche Signale steuern die auffälligen Plastizitätsunterschiede in Raum und Zeit – also zwischen Hirnareal und Hirnareal oder altem und jungen Nervennetzen?
Hensch und Kollegen testeten dies an einem Modellbeispiel, an dem Neurowissenschaftler die Hirnplastizität gerne untersuchen – dem sich gerade frisch verdrahtenden visuellen System. Einige der für die Abwicklung des Sehprozesses eingeteilten Neuronen reagieren sehr empfindlich, wenn sie noch vor dem Anfang ihrer Karriere nichts zu tun haben – etwa, wenn einer jungen Maus in früher Kindheit experimentell ein Auge verbunden worden war. Die Folge ist eine Amblyopie, eine bestimmte Art der Schwachsichtigkeit des betroffenen Auges: Der Entzug aller Lichtreizinformationen sorgt dafür, dass im wachsenden, aber chronisch unterbeschäftigten visuellen Kortex bestimmte, zur Verarbeitung entscheidende Neuronennetze gar nicht erst geknüpft werden.
Auch wenn die Sichtbehinderung dann bei älteren Tieren entfernt wird, können sie den frühen Ausfall nicht kompensieren – offenbar deshalb, weil das Zeitfenster zum Neuronenumbau verstrichen ist; dem reifen Neuronenbündels fehlt es an Plastizität, weshalb die Tiere schwachsichtig bleiben, obwohl der eigentliche Sehapparat funktioniert und Informationen ins Gehirn liefert. Frühe postnatale Lichtsignale sind demnach nötig, um die Neuronen im Neokortex auf ihre spätere Funktion einzustimmen.
Henschs Team warf nun einen tieferen Blick in junge Mäusehirne um herauszufinden, wie dort das einfallende erste Licht als Signal in die entscheidende reorganisierte Region gelangt, das Neuronennetz der Parvalbumin- oder PV-Zellen. Diese bilden bald nach der Geburt einen verdrahteten Teppich aus hemmenden Neuronen, die ein notwendiges Gegengewicht zu schon früher vor Ort gezogenen erregenden Nervenverbindungen bilden. Die zur späteren Informationsverarbeitung unabdingbaren Nervenenden formieren sich aber nur dann, wenn das eigentlich aus der viel früheren Entwicklungsphase des Fötus bekannte, kopfbildende Homöoprotein Otx2 im Gehirn vorhanden ist.
Otx2, so fassen die Forscher zusammen, arbeitet ganz im Sinne des Wortes als Meldeläufer, der bei Lichteinfall aus den Retinazellen freigesetzt wird, von dort dann über eine recht weite Distanz den Sehnerv entlang wandert und schließlich im visuellen Kortex Umbaumaßnahmen einleitet. Als typisches Homöoprotein dringt es, an Ort und Stelle angekommen, schließlich in die Nervenzellen ein, bindet an die DNA und reguliert die Genablesung der Neuronen in seinem Sinne.
Gut möglich, dass Ähnliches in anderem Sinnessystemen stattfindet, etwa beim Reifen vom Hör- und Geruchssinn. Womöglich, so spekuliert der Forscher, ist das bislang eher wenig beachtete Signalübertragungsprinzip per wanderndem Protein aus der Ferne sogar bei den meisten Prozessen wichtig, bei der die Plastizität im Gehirn verändert wird.
Vielleicht, so die optimistische Vision von Hensch, sind Meldeläufer wie Otx2 und seine Kollegen sogar brauchbare Blaupausen für Medikamente der Zukunft, die dem Gehirn Plastizität beibringen, wenn es nötig ist. So könnten, hofft Hensch für die Zukunft, bestimmten Formen der Schizophrenie, bei der ebenfalls die Reifung der PV-Zellen ausbleibt, irgendwann vielleicht einmal vorgebeugt werden. Noch allerdings sind dazu die Laufwege der Homöoprotein-Meldegänger viel zu wenig erforscht.
Ins Auge war ihnen einer der Signalüberträger gesprungen, die schon in den frühesten Phasen der embryonalen Entwicklung eine Rolle spielt – das so genannte Homöoprotein Otx2. Bereits ganz am Anfang des Lebens entscheidet der wohldosierter Einsatz des spröde benannten Eiweiß über Leben und Tod: Fehlt dieser Faktor einem Mausembryo zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, so fehlt dem Fötus am Ende der ganze Kopf – buchstäblich. Nach erfolgreicher Organisationsarbeit verschwindet das Protein zunächst wieder aus den Zellen. Ganz offenbar hat es aber etwas später einen weiteren, ebenfalls sehr wichtigen Auftrag, meinen nun Hensch und Co.
Die Wissenschaftler hatten sich für die Plastizität des Gehirns interessiert, also die Fähigkeit zu flexiblen Umbauten des Nervennetzwerkes, welche die Grundvoraussetzung für das Lernen durch sämtliche Lebenserfahrungen sind. Die Plastizität ist in verschiedenen Hirnarealen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägt. Dies macht sich dann, so die gängige Hypothese, zum Beispiel beim Vergleich von Kleinkindern und Senioren bemerkbar: Deren Gehirne integrieren Information – etwa neue Wörter beim Erlernen einer Sprache – wohl auf Grund der unterschiedlichen neuronalen Umbaukapazitäten sehr unterschiedlich schnell.
Wie genau die Gehirnumbau und -aufnahmekapazitäten eingestellt wird, blieb bis dato indes kaum verstanden. Welche Signale steuern die auffälligen Plastizitätsunterschiede in Raum und Zeit – also zwischen Hirnareal und Hirnareal oder altem und jungen Nervennetzen?
Hensch und Kollegen testeten dies an einem Modellbeispiel, an dem Neurowissenschaftler die Hirnplastizität gerne untersuchen – dem sich gerade frisch verdrahtenden visuellen System. Einige der für die Abwicklung des Sehprozesses eingeteilten Neuronen reagieren sehr empfindlich, wenn sie noch vor dem Anfang ihrer Karriere nichts zu tun haben – etwa, wenn einer jungen Maus in früher Kindheit experimentell ein Auge verbunden worden war. Die Folge ist eine Amblyopie, eine bestimmte Art der Schwachsichtigkeit des betroffenen Auges: Der Entzug aller Lichtreizinformationen sorgt dafür, dass im wachsenden, aber chronisch unterbeschäftigten visuellen Kortex bestimmte, zur Verarbeitung entscheidende Neuronennetze gar nicht erst geknüpft werden.
Auch wenn die Sichtbehinderung dann bei älteren Tieren entfernt wird, können sie den frühen Ausfall nicht kompensieren – offenbar deshalb, weil das Zeitfenster zum Neuronenumbau verstrichen ist; dem reifen Neuronenbündels fehlt es an Plastizität, weshalb die Tiere schwachsichtig bleiben, obwohl der eigentliche Sehapparat funktioniert und Informationen ins Gehirn liefert. Frühe postnatale Lichtsignale sind demnach nötig, um die Neuronen im Neokortex auf ihre spätere Funktion einzustimmen.
Henschs Team warf nun einen tieferen Blick in junge Mäusehirne um herauszufinden, wie dort das einfallende erste Licht als Signal in die entscheidende reorganisierte Region gelangt, das Neuronennetz der Parvalbumin- oder PV-Zellen. Diese bilden bald nach der Geburt einen verdrahteten Teppich aus hemmenden Neuronen, die ein notwendiges Gegengewicht zu schon früher vor Ort gezogenen erregenden Nervenverbindungen bilden. Die zur späteren Informationsverarbeitung unabdingbaren Nervenenden formieren sich aber nur dann, wenn das eigentlich aus der viel früheren Entwicklungsphase des Fötus bekannte, kopfbildende Homöoprotein Otx2 im Gehirn vorhanden ist.
Das Nervensystem, so Hensch nach der ersten Überraschung, "recycelt hier einen embryonalen Entwicklungsfaktor", dessen Produktion der junge Mausembryo während der Schwangerschaft nach kurzer Zeit abgebrochen hatte. Spannender noch als die Wiederverwertung finden die Forscher die Herkunft des Proteins: Es wird nur in der Retina des Auges produziert und ausschließlich dann freigesetzt, wenn Licht auf die Netzhaut fällt. Im Dauerdunkeln, also etwa bei den später sehgeschädigten Amblyopie-Mäusen, unterbleibt die Freisetzung von Otx2 dagegen, und in der Konsequenz auch die wichtige Neuverdrahtung der PV-Zellen. Dies konnten die Forscher aber kompensieren, wenn sie das Protein direkt in die betroffene Hirnregion injizierten – das hemmende Nervennetz reifte dann doch, trotz fehlender Lichtrigger für die Signalausschüttung.
Otx2, so fassen die Forscher zusammen, arbeitet ganz im Sinne des Wortes als Meldeläufer, der bei Lichteinfall aus den Retinazellen freigesetzt wird, von dort dann über eine recht weite Distanz den Sehnerv entlang wandert und schließlich im visuellen Kortex Umbaumaßnahmen einleitet. Als typisches Homöoprotein dringt es, an Ort und Stelle angekommen, schließlich in die Nervenzellen ein, bindet an die DNA und reguliert die Genablesung der Neuronen in seinem Sinne.
Gut möglich, dass Ähnliches in anderem Sinnessystemen stattfindet, etwa beim Reifen vom Hör- und Geruchssinn. Womöglich, so spekuliert der Forscher, ist das bislang eher wenig beachtete Signalübertragungsprinzip per wanderndem Protein aus der Ferne sogar bei den meisten Prozessen wichtig, bei der die Plastizität im Gehirn verändert wird.
Vielleicht, so die optimistische Vision von Hensch, sind Meldeläufer wie Otx2 und seine Kollegen sogar brauchbare Blaupausen für Medikamente der Zukunft, die dem Gehirn Plastizität beibringen, wenn es nötig ist. So könnten, hofft Hensch für die Zukunft, bestimmten Formen der Schizophrenie, bei der ebenfalls die Reifung der PV-Zellen ausbleibt, irgendwann vielleicht einmal vorgebeugt werden. Noch allerdings sind dazu die Laufwege der Homöoprotein-Meldegänger viel zu wenig erforscht.
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