Invasive Arten: Global Worming
Normalerweise kriechen sie durch den Boden, doch diesmal kommen die Invasoren sozusagen aus der Luft: Deutsche Wissenschaftler setzen sie einige hundert Meter vor der Front aus, in Teilen des Pappelwaldes am Barrier Lake in der kanadischen Provinz Alberta, der nach dem Angriff der europäischen Regenwürmer nie mehr so sein wird wie während vieler Jahrhunderte zuvor. Allerdings haben die Forscher Vorsorge getroffen: Große Metallplatten, in harter Arbeit 40 Zentimeter tief in den Boden versenkt, zum Karree angeordnet und mit Eckschienen abgedichtet, trennen jeweils einen Quadratmeter Grund, wo die Würmer freigelassen werden, vom Rest der Landschaft. Innen am Rand, der zehn Zentimeter über die Waldnabe ragt, verhindert ein Band mit Myriaden kleinen Haken – eine Seite eines Klettverschlusses – dass die Würmer ihrem Gehege entkommen. Zehn solche Versuchsfelder entstehen gerade, zehn weitere eingezäunte Vierecke bleiben frei von den Invasoren und dienen als Kontrollflächen. In den kommenden Jahren wollen die Deutschen die Verwüstung begutachten, die die Würmer anrichten.
Europäische Regenwürmer in Kanada auszusetzen, damit sie dort den Wald kaputt machen, das klingt zunächst bizarr. Es ergibt aber Sinn, wenn man weiß, dass die Tiere als invasive Art ohnehin längst in Nordamerika heimisch geworden sind, auch in den Rocky Mountains zum Beispiel am Ufer des Barrier Lake. Dort wie an unzähligen anderen Stellen fressen sie sich durch Landschaften, die ihnen nichts entgegenzusetzen haben. Und die die Würmer, wie alle beteiligten Forscher wissen, auch nie wieder loswerden. Diese Situation rechtfertigt auch den Eingriff in den Pappelwald, denn die deutschen Forscher können nicht wirklich damit rechnen, dass ihnen keine Regenwürmer aus den Metallverhauen entwischen. Sie beschleunigen also die Invasion, die den Ort der Experimente in einigen Jahren ohnehin erreicht hätte.
"Wir beobachten hoffentlich zum ersten Mal unter kontrollierten Bedingungen im Freiland die kausalen Zusammenhänge zwischen der Ankunft der Würmer und der Veränderung im Boden", sagt Nico Eisenhauer vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig, der das Team mit Wissen von kanadischen Behörden und Kollegen entsandt hat. Bisher konnten die Forscher nur beobachten, wo die Würmer schon sind, aber nicht, warum und wie sie dort Fuß gefasst haben.
Regenwürmer hinterlassen deutliche Spuren
Die ursprünglichen Lebensgemeinschaften im Norden der USA und Kanadas besitzen nicht nur keine Regenwürmer, sie haben überhaupt fast keine vergleichbaren Mitglieder: "Makrozersetzer" heißen solche Tiere in der Biologie, sagt Eisenhauer. "Nur sehr wenige Organismen fressen dort das herabgefallene Laub der Bäume und arbeiten es in den Boden ein, zum Beispiel Tausendfüßer. Deswegen bedeckt den nordamerikanischen Waldboden normalerweise eine weiche, lockere Schicht. Aber wo die Regenwürmer durch sind, hat sich der Boden für immer radikal verändert und mit ihm die Lebensbedingungen vieler Bewohner." Von der Bakterie bis zum Baum spüren die Organismen den Einzug der Würmer.
Dabei gab es auch im heutigen Alberta einst Regenwürmer. Aber sie wurden in der Eiszeit ausgerottet. Aus ungeklärten Gründen sind die einheimischen "earthworms" nach deren Ende im Süden der USA geblieben und haben den Norden über Jahrtausende hinweg nicht wieder kolonisiert. Erst als (menschliche) europäische Einwanderer auch Pflanzen mit Erdballen mitbrachten, gelangten wieder Regenwürmer in die Weltgegend. Sie verbreiten sich heute an sehr vielen Stellen langsam weiter und kommen aus eigener Kraft einige Meter pro Jahr voran.
"Vor allem Angler wissen oft gar nicht, was sie tun, wenn sie am Ende des Tages ihre verbliebenen Würmer freilassen"Nico Eisenhauer
Die Würmer haben aber mobile Helfer und machen größere Sprünge, wenn ihre Eier an Wanderstiefeln, den Reifen von Mountainbikes und Geländewagen oder den Hufen von Hirschen kleben bleiben. Wichtig ist dabei offenbar, dass die Würmer ihre Eier in widerstandsfähigen Kokons verpacken, die Transport und Trockenheit überstehen. Um noch einmal die martialische Metapher von der Invasion zu bemühen, sind Wanderer und Wildtiere darum sozusagen die Luftwaffe der Regenwürmer. "Außerdem gibt es immer wieder neue Ansiedlungen in der Nähe von Straßen, Hütten oder Gewässern", erklärt Eisenhauer. "Vor allem Angler wissen oft gar nicht, was sie tun, wenn sie am Ende des Tages ihre verbliebenen Würmer freilassen." Europäische Regenwürmer sind nämlich in Nordamerika als Köder begehrt und werden in so genannten baitshops verkauft. Dort warnen Behörden und Forscher inzwischen mit Postern davor, die Tiere einfach in die Landschaft zu schütten. Sie sollen stattdessen in den Mülleimer.
Berichte von der Invasion gibt es seit vielen Jahren praktisch über den ganzen Kontinent von New York über den mittleren Westen und die Rocky Mountains bis zu den Staaten und Provinzen am Pazifik. Und das Problem ist nicht auf Nordamerika beschränkt, auch in vielen anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel Australien, Afrika und Südamerika, wurden viele Arten von Würmern eingeschleppt und verändern das Ökosystem. Forscher sprechen darum mit einem Wortspiel vom global worming; schon vor knapp zehn Jahren bemühten US-Forscher in einem Überblick sogar die griechische Mythologie, um die Situation zu beschreiben: "Pandoras Büchse enthielt Würmer", schrieb ein Team um Paul Hendrix von der University of Georgia.
In Australien allein gibt es demnach mindestens 66 eingeschleppte Arten. In der ganzen Weltregion bis hin zu den Inseln der Südsee zum Beispiel haben sich europäische, asiatische und südamerikanische Würmer verbreitet, teilweise wurden sie von den aus Europa stammenden Bauern offenbar sogar mit Absicht ausgesetzt. In Brasilien, etwa im Staat São Paulo, gehören ebenfalls 40 Prozent dieser Tiere eingewanderten Arten an. In Nordamerika kämen zu den 102 einheimischen Spezies mindestens 45 Einwanderer hinzu, stellten die Wissenschaftler schon 2008 fest.
Die Würmer räumen den Wald auf – zum Nachteil anderer
Eines der ersten Zeichen, dass die Invasoren im Wald sind, ist das Verschwinden mancher Blumen. "Waldlilien, Veilchen und Orchideen werden von den Regenwürmern schwer getroffen", teilte Lee Frelich von der University of Minnesota vor einer Weile der Tageszeitung "Star Tribune" mit. "Und Pieperwaldsänger, die am Boden brüten, gibt es in Gegenden mit Würmern deutlich seltener." Nico Eisenhauer spürt die Anwesenheit seiner Forschungsobjekte oft schon beim Laufen: "Normalerweise ist der Waldboden fluffig wie ein Schwamm und federt bei jedem Schritt." Die Würmer aber tragen die über Jahrhunderte entstandene Schicht von Blättern, die langsam in Humus übergehen, binnen kurzer Frist ab. Dann fehlen unter Umständen den Keimlingen großer Bäume die geschützten Bedingungen, um die ersten Jahre zu überstehen. "Oft sieht man dann auch Wurzeln über dem Boden, die früher durch die Blätterschicht führten", ergänzt Eisenhauer. Insgesamt sieht der Wald nach Ankunft der Würmer bald viel aufgeräumter aus als vorher; Gräser gewinnen die Vorherrschaft im Raum zwischen den Bäumen.
Drei verschiedene Lebensformen von Regenwürmern, die sie aus Europa kennen, haben die Forscher in Nordamerika wiedergefunden. Da sind zunächst die Oberflächenbewohner wie Dendrobaena octaedra, die klein sind, schnell vorankommen, aber vergleichsweise wenig Schaden anrichten. Ein zweiter Typ, zum Beispiel die Art Octolasium tyrtaeum, lebt permanent in den oberen 20 Zentimetern des Bodens und gräbt hier die Erde mit seinen Gängen um. Der dritte schließlich, oft der Tauwurm Lumbricus terrestris, legt über längere Zeit genutzte, senkrechte Bauten von bis zu 1,50 Meter Tiefe an und zieht Blätter von der Oberfläche hinein, um sie in Ruhe zu verspeisen.
Gerade die Tunnel des Tauwurms verändern offenbar den Wasserhaushalt der nordamerikanischen Waldböden massiv, weil die Flüssigkeit sich nach Niederschlägen nicht mehr in der Blätterschicht halten kann, sondern nach deren Verschwinden nach unten abfließt. Und mit dem Wasser gehen offenbar auch Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor verloren. "Wenn die Invasionswelle gerade im Gange ist, setzen die Würmer natürlich zunächst sehr viel frei, was vorher verschlossen war", sagt Eisenhauer. "Aber bei einem starken Regen wird das meiste davon fortgeschwemmt und auf Dauer verliert der Boden die Nährstoffe." Zugleich setzt das Land nun mehr vom Treibhausgas CO2 frei, weil die Würmer die Umsetzung des verrottenden Pflanzenmaterials beschleunigen. Das global worming trägt also indirekt zum global warming bei – die Verwurmung steigert die Erwärmung. Und womöglich erleichtern die höheren Temperaturen den Würmern umgekehrt auch die Ausbreitung, vermuten Forscher.
Manche Lebewesen profitieren auch
In den oberen Schichten des Bodens gehen nach der Invasion die Zahlen der anderen Tiere aller Größenklassen sowie der Bakterien deutlich zurück, wie viele Studien zeigten. Weiter unten jedoch finden manche Lebewesen nun bessere Bedingungen, weil die Würmer organisches Material unter die Oberfläche gezogen haben. Auch für viele Pilze ändern sich die Bedingungen massiv. Die Einzelheiten erkundet das Team um Eisenhauer in den Laboren in Leipzig an Bodenproben, unter anderem dank einer Finanzierung durch den Europäischen Forschungsrat.
Bei den Pflanzen gibt es ebenso Gewinner und Verlierer. Die Würmer fressen oder verschleppen manche Samen. Meist nimmt die Biodiversität ab, jedoch finden die buschigen Kreuzdorngewächse beispielsweise bessere Wachstumsbedingungen. Sie gelten selbst als invasive Arten, die den Charakter der nordamerikanischen Wälder verändern – und profitieren zusätzlich von der durchgreifenden Veränderung im Waldboden.
Rätselhaft ist auch, auf welchen Umwegen die Regenwürmer den Blattfraß einiger Pappelarten beeinflussen. Die Balsampappel wird in Anwesenheit der Würmer weniger von Insekten angegriffen als in noch unveränderten Teilen des Waldes. Bei der Zitterpappel hingegen ist ein eher gegenläufiger Effekt zu erkennen. "Woran das liegt, müssen wir noch herausfinden", meint Eisenhauer. "Vermutlich können sich die einen Bäume durch die reichhaltigeren Nährstoffe im Boden besser verteidigen." Die anderen aber brauchen den Boost offenbar nicht. Lässt sich dieser Mechanismus bestätigen, sind auch andere Effekte denkbar. "Vielleicht werden andere Bäume aber auch schmackhafter und damit sogar attraktiver für die Insekten", spekuliert Eisenhauer. Experimente im Gewächshaus sollen jetzt zunächst am Beispiel der beiden Pappelarten Antworten liefern. Dafür müssen die Mitarbeiter aus dem Leipziger Team freilich nicht nach Kanada reisen, sondern nur nach Halle an der Saale.
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