Reue: »Mit der Entscheidung für ein Kind ist nicht alles verloren«
Frau Weidtmann, in einer Studie heben US-amerikanische Forscherinnen einen möglichen Grund für eine bereute Elternschaft hervor: Fear of missing out, FOMO – also, dass junge Menschen Angst haben, etwas zu verpassen, wenn sie sich gegen Kinder entscheiden. Wie sehen Sie das?
Das spielt sicher eine Rolle. Es passt zum gesellschaftlichen Bild. Von außen wird suggeriert: Auch wenn der Kinderwunsch bisher fehlt, kommt er bestimmt noch. Und was, wenn es dann zu spät ist, weil die biologische Uhr tickt? Da ist es nicht weit hergeholt, dass manche Paare Druck verspüren und eine vorschnelle Entscheidung treffen.
Dann folgt möglicherweise die zweite Seite der FOMO: Ist ein Kind da, fällt manchen Eltern erst auf, was sie nun alles verpassen, weil es mit Baby eben – zumindest vorerst – nicht möglich ist. Der theoretische Verlust, den ein Leben ohne Kind bringen könnte, wird dann eingetauscht gegen den realen Verlust von Dingen, die man vorher bereits hatte und nun aufgeben muss. Die FOMO ist einer von vielen Gründen. Bereute Elternschaft lässt sich aber sicher nicht immer einzig und allein mit diesem Phänomen erklären.
Woran könnte es noch liegen?
Ein wichtiger Punkt ist das vorherrschende Bild einer glücklichen Familie: Welche Erwartungen stellt die Gesellschaft an die Eltern? Insbesondere Frauen sollen mittlerweile oft als Versorgerinnen erfolgreich sein und gleichzeitig die Care-Arbeit machen, also sich um die Kinder kümmern. Dabei müssen sie möglichst noch gut aussehen und gesund kochen. Aber auch ohne solche Idealvorstellungen: Selbst Paare, die sich vor der Entscheidung gut informiert haben, unterschätzen leicht, wie groß die Umstellungen und Belastungen nach der Geburt wirklich sind. Und tatsächlich ist es ja mit den ersten Lebensjahren nicht getan. Gerade die Pubertät erleben viele Familien noch mal als eine sehr anstrengende Phase. Dass das Eltern-Dasein kein Spaziergang ist, wissen ja die meisten Menschen …
Gleichzeitig bekommen sie immer wieder gesagt, wie erfüllend und schön die Zeit ist. Oft spüren sie zudem einen mehr oder weniger großen Druck von der Familie, vielleicht auch aus kulturellen Aspekten. Da gibt es viel Unausgesprochenes wie die Wünsche der Großelterngeneration. Oder das Kind ist ein Versuch, bestimmte Erfahrungen aus der eigenen Kindheit zu korrigieren – sprich, es besser zu machen als die eigenen Eltern. Funktioniert das dann nicht so wie erhofft, kann das ein Grund für Reue sein. Die Vorstellung deckt sich häufig nicht mit der Realität. Ganz deutlich wird das, wenn sich plötzlich das Familienformat ändert: Trennen sich Paare mit Kindern, haben es die allein erziehenden Eltern noch schwerer. Auch finanzielle Sorgen oder Belastungen durch die diversen Krisen in der Welt können den Stress und die negativen Gefühle verstärken.
»Es ist eine große Hürde, solche Gefühle zuzugeben. Die Gesellschaft erwartet einfach, dass Eltern – besonders Mütter – glücklich mit ihrem Nachwuchs sind«
In den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt sind die Umstellungen besonders groß. Manche Eltern leiden dann sogar unter Depressionen. Hängt das auch mit Reue zusammen?
Da müssen wir verschiedene Dinge klar voneinander abgrenzen. Sehr häufig – bei bis zu 60 Prozent aller neuen Mütter – kommt es zum so genannten Babyblues. Sie fühlen sich dann nicht gut, sind überfordert; das reicht bis zu depressiven Symptomen. Der Babyblues geht auf die hormonellen Umstellungen in der Zeit nach der Geburt zurück, klingt aber üblicherweise nach wenigen Tagen komplett ab.
Davon abzugrenzen ist die postpartale Depression, PPD. Das ist eine klassische Depression, die per Definition in den ersten sechs Monaten nach der Geburt auftritt. Eine PPD verschwindet nicht einfach nach einiger Zeit, und die Symptome können vielfältig sein, bis hin zu suizidalen Gedanken. Man kann etwa nicht mehr schlafen oder schläft übermäßig viel und ist in der täglichen Funktion sehr eingeschränkt. Und da liegt der wichtige Unterschied zu einer bereuten Elternschaft: Dort sind die Betroffenen zwar unglücklich, vielleicht auch schneller gereizt, können aber ihren Alltag bewältigen und erfüllen nicht die klinischen Kriterien für eine Depression.
»Reue ist nicht gleich Reue: Manche Mütter und Väter leiden täglich unter dem Wissen, dass sie Eltern sind. Bei anderen ist es eher der Gedanke, dass sie sich rückblickend anders entscheiden würden«
Eine Online-Umfrage kam 2016 zu dem Schluss, dass 19 Prozent der Mütter und 20 Prozent der Väter keine Kinder mehr bekommen würden, wenn sie in der Zeit zurückreisen könnten. Was sagen uns solche Zahlen? Sind wirklich ein Fünftel der Eltern unzufrieden?
Da müssen wir genau hinsehen, wonach gefragt wurde. Denn Reue ist nicht gleich Reue: Manche Mütter und Väter leiden täglich unter dem Wissen, dass sie Eltern sind. Sie wünschen sich, die Entscheidung rückgängig machen zu können. Bei anderen ist es eher der Gedanke, dass sie sich rückblickend anders entscheiden würden, sie kommen aber mit ihrer Situation zurecht. Ihnen wurde zwar klar, dass sie einen Lebensweg ohne Kinder letztendlich bevorzugt hätten. Der Leidensdruck ist jedoch nicht so groß, dass der Gedanke sie täglich unglücklich macht. Bei der Umfrage von 2016 ging es um einen Rückblick, nicht unbedingt um die jetzige Zufriedenheit – in den Werten tauchen also auch diejenigen auf, die sich grundsätzlich mit ihrer Elternschaft arrangiert haben.
Bei Online-Umfragen kommt es zusätzlich darauf an, wer an so etwas teilnimmt. Waren es vielleicht viele Frauen, die einen deutlichen Karriereknick verkraften mussten? Die Hintergründe lassen sich schlecht nachvollziehen, und entsprechend würde ich solche Zahlen mit Vorsicht genießen. Trotzdem ist es wichtig, das Thema anzusprechen. Sie meinen, es bräuchte eine offenere Diskussion über Reue?
Ich glaube, es wäre ein wichtiger Schritt, eine Enttabuisierung voranzutreiben. Zurzeit ist es eine große Hürde, solche Gefühle zuzugeben, vielleicht sogar sich selbst gegenüber. Die Gesellschaft erwartet einfach, dass Eltern – besonders Mütter – glücklich mit ihrem Nachwuchs sind. Da ist es schwer, sich einzugestehen, dass man nicht diesem Hochglanzbild entspricht. Wenn wir Menschen in solchen Situationen helfen wollen, müssen wir noch viel offener werden und die Rahmenbedingungen für junge Familien ändern, so dass sie stärker entlastet werden. Das geht nur, wenn wir über mögliche Probleme sprechen.
Das klingt, als seien vor allem äußere Faktoren schuld an den Reuegefühlen. Inwiefern spielen die Kinder selbst eine Rolle?
Tatsächlich berichten die meisten bereuenden Eltern, dass sie ihre Kinder trotz allem lieben. Die negativen Gefühle richten sich eher gegen das Elternsein, also gegen die Umstände oder die Verantwortung. Dieses Wissen kann zusätzlich belasten, wenn sich die Mütter oder Väter fragen: Ich liebe mein Kind, warum kann ich dann nicht glücklich mit ihm sein? Noch komplizierter wird es, wenn sich die Reue ungünstig auf die Beziehung zwischen Eltern und Nachwuchs auswirkt. Vielleicht gibt es dadurch ein allgemein gereiztes Familienklima, eine unbewusste Wut oder Aggressionen gegenüber den Kindern. Gerade in Stresssituationen fällt es der Mutter oder dem Vater dann möglicherweise schwerer, auf das Kind einzugehen, auch wenn sie das Beste für es wollen. Oder sie organisieren es weg – versuchen also, möglichst wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Kinder merken das natürlich. Wenn sie aber gleichzeitig auf einer anderen Ebene gesagt oder gezeigt bekommen, dass die Eltern sie lieben, können sie beispielsweise eine unterschwellige Gereiztheit nicht richtig verorten.
»Das Kind hat sich nicht entschieden, zur Welt zu kommen, und sollte auch nicht in die Bewältigung elterlicher Reue hineingezogen werden«
Wie können Familien mit solchen Situationen umgehen?
Ich glaube, es ist sehr wichtig, zu reflektieren: Warum liebe ich mein Kind, was genau liebe ich an ihm? Das lässt sich dann besser trennen von den Reuegefühlen, solange diese nichts mit dem Kind selbst zu tun haben. So können Familienmitglieder eine möglichst gute Beziehung untereinander aufbauen, obwohl die Eltern in ihrer Rolle nicht glücklich sind. Allerdings wissen wir nicht, wie hoch die Dunkelziffer von Vätern und Müttern ist, die ihre Kinder tatsächlich nicht mögen. Auch das gibt es, und hier ist das Tabu noch viel größer, als wenn man einfach nur die Elternschaft an sich bereut.
Wichtig ist in jedem Fall, die Gefühle aufzuarbeiten. Denn ein angespanntes Familienklima wirkt sich negativ auf die kindliche Entwicklung und die psychische Gesundheit aus. Und es besteht die Gefahr der transgenerationalen Weitergabe: Man projiziert unbewusst eigene Erfahrungen auf das Kind, die dieses und die nachfolgende Generation wiederum beeinflussen können.
»Was genau vermisse ich als Mama oder Papa? Was fehlt mir für mein Wohlbefinden? Oft ist es schon ein großer Schritt, sich das bewusst zu machen und dann zu schauen, ob davon nicht zumindest ein Teil trotz oder mit Kind funktioniert«
Kann in solchen Fällen eine Familientherapie helfen?
Ich würde das gar nicht als Thema einer Familientherapie sehen, sondern zu einer Einzelberatung oder Paartherapie raten, wenn eine externe Unterstützung erforderlich sein sollte. Das Kind hat sich nicht entschieden, zur Welt zu kommen, und sollte auch nicht in die Bewältigung einer elterlichen Reue hineingezogen werden. Das gehört auf die Erwachsenenebene – die Eltern müssen versuchen, einen reifen Umgang mit der Situation zu finden. Damit meine ich, die Gefühle erst mal zuzulassen, zu reflektieren, zu sortieren und möglichst von den Handlungen zu trennen. Da kann es helfen, zu überlegen, warum man sich persönlich für ein Kind entschieden hat; vorausgesetzt, es war überhaupt eine gewollte Entscheidung. So gelingt es eher, den Finger auf die echten Probleme zu legen und nach Lösungen zu suchen. Eine Therapie kann dabei professionelle Unterstützung liefern.
Wie kann so eine Reflexion aussehen?
Denken wir an die FOMO: Was genau vermisse ich als Mama oder Papa? Was fehlt mir für mein persönliches Wohlbefinden? Oft ist es schon ein großer Schritt, sich das bewusst zu machen und dann zu schauen, ob davon nicht zumindest ein Teil trotz oder mit Kind funktioniert. Gibt es die Möglichkeit, mehr Zeit für die eigenen Bedürfnisse freizubekommen? Eine Weltreise ist sicher gerade mit kleinen Kindern schwer realisierbar. Aber einige Freiräume können die Eltern sich beispielsweise über simple Arbeitsteilung oder ein Unterstützungssystem in der erweiterten Familie oder mit Bekannten schaffen. Führt man etwa einen festen Abend in der Woche ein, der nur für den Partner oder die Partnerin reserviert ist, kann das die Beziehung stärken. Eine Partnerschaft ist mit Kindern ja allgemein nicht unbedingt einfach.
Richtig. Es ist nachgewiesen, dass die Partnerschaftszufriedenheit in den ersten Lebensjahren des Kindes oder der Kinder merklich sinkt. Ebenso sind die Trennungs- und Scheidungsraten in dieser Zeit ziemlich hoch. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich der Fokus verschiebt und die Belastungen sehr groß sind – auch ohne Reuegefühle.
Dabei spielen ebenfalls viele Faktoren eine Rolle. Unterscheiden sich zum Beispiel die Vorstellungen, was die Erziehung angeht? Haben sich die Eltern die Aufgabenverteilung anders vorgestellt? Vertritt der Partner oder die Partnerin plötzlich ganz andere Werte, als man erwartet hätte? Oder ist schlicht zu wenig Zeit, um die Paarbeziehung zu pflegen? Das alles kann das Klima zwischen den Erwachsenen in der Familie belasten.
Ändert sich das eigentlich, wenn die Kinder älter sind?
Für viele Betroffene wird es sicher mit der Zeit leichter. Es liegt vielleicht in der Natur der Menschen, dass sie sich mit verschiedensten Dingen irgendwie arrangieren können. Sind die Kinder älter oder bereits erwachsen, sinken manche Belastungen, die Eltern haben wieder mehr Zeit für sich. Im Einzelfall kann es jedoch sein, dass die Reuegefühle trotzdem nicht abnehmen. Das liegt dann einerseits an den persönlichen Gründen, andererseits an den Bewältigungsstrategien. Ich denke aber schon, dass es die Mehrheit irgendwie schafft, einen angemessenen Umgang mit der Situation zu finden. Das ist auch etwas, woran man in einer Therapie arbeiten kann: die Gewissheit, dass mit der Entscheidung für das Kind oder die Kinder nicht alles verloren ist.
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