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Wald: Hungriges Wild frisst Wälder kahl

Zu viel Wild kann den Wald massiv verändern. Vor allem im Winter entwickeln die Tiere einen kräftigen Appetit auf die Knospen und Triebe von jungen Bäumen. Mit Folgen.
»Serengeti Bayerns«

Die kleine Weißtanne sieht nicht gut aus. Fast der ganze Trieb, den sie im letzten Jahr an ihrer Spitze gebildet hat, ist verschwunden. Komplett abgefressen. Und sie ist kein Einzelfall. Viele ihrer Artgenossinnen im Alpenraum leiden unter häufigen Attacken von Schalenwild. Und auch etliche andere europäische Baumarten von der Eberesche bis zur Stieleiche sind bei Rehen, Hirschen und anderem Wild beliebt. Vor allem im Winter entwickeln die Tiere einen kräftigen Appetit auf die Knospen und Triebe von jungen Bäumen. Das kann im Extremfall so weit gehen, dass sich der Wald nicht mehr verjüngt.

Allerdings treten die Pflanzenfresser keineswegs immer und überall als Baumzerstörer auf den Plan. Erst allmählich beginnen Ökologen, das komplexe Geflecht der Beziehungen zwischen Wild und Wald zu entwirren. Und können so auch Vorschläge machen, wie sich mit Problemen besser umgehen lässt als bisher.

Eigentlich sind Hirsche und anderes Wild nämlich keineswegs die natürlichen Feinde der Wälder, betonen Juan Ignacio Ramirez von der Universität Wageningen in den Niederlanden und seine Kollegen. Ganz im Gegenteil: Diese Tiere verbreiten nicht nur Samen und halten mit ihrem Kot die Nährstoffkreisläufe in Gang. Wenn sie an einigen Stellen mehr fressen als an anderen, kann das sogar die Artenvielfalt fördern. Denn so entsteht ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Lebensräumen, in denen zahlreiche Tiere und Pflanzen zu Hause sind.

Zu viele Ingenieure auf vier Hufen

Solche positiven Effekte verzeichnen Wissenschaftler allerdings vor allem bei relativ geringer Wilddichte. Problematisch wird es dagegen, wenn zu viele Ökosystem-Ingenieure auf vier Hufen gleichzeitig am Werk sind. Und diese Gefahr besteht nach Einschätzung der niederländischen Forscher durchaus. Denn in vielen Wäldern in den gemäßigten Zonen der Erde ist heutzutage deutlich mehr Schalenwild unterwegs als früher. Das liegt unter anderem an der Ausrottung der großen Raubtiere, an Veränderungen in der Jagdpraxis und den zunehmend milderen Wintern.

Was dieser Zuwachs an knabbernden Mäulern langfristig auslösen kann, hat das Team um Juan Ignacio Ramirez in der Veluwe untersucht. In diesem größten zusammenhängenden Waldgebiet der Niederlande sind im Schnitt 13 bis 14 Huftiere pro Quadratkilometer unterwegs. Für europäische Verhältnisse ist das eher ein mittlerer Wert. Doch er hat weit reichende Folgen, wie ein Vergleich zwischen eingezäunten und für das Wild frei zugänglichen Flächen zeigt. Wo die Pflanzenfresser freie Bahn haben, schließt sich das Kronendach des jungen Waldes deutlich langsamer. Dadurch werden Licht liebende Bäume wie Birken, Kiefern und Eichen nicht so schnell von der schattentoleranten Buche verdrängt, wie das in mitteleuropäischen Wäldern üblich ist. Die Pflanzenfresser halten die Entwicklung also auf der Stufe eines jungen Waldes fest.

Ein abwechslungsreiches Patchwork von Lebensräumen mit einer hohen Artenvielfalt entsteht dadurch allerdings nicht. Offenbar sind dafür die Wilddichten zu hoch, und die jungen Bäume auf den armen Sandböden können den Attacken zu wenig entgegensetzen. Unter diesen Umständen scheinen die Schäden durch den Verbiss den potenziellen Nutzen zu überwiegen.

Diese Diagnose gilt nicht nur für die Veluwe. In einer anderen Studie hat das niederländische Team die Ergebnisse von 433 ökologischen Untersuchungen aus gemäßigten Wäldern rund um die Welt ausgewertet. Immerhin 70 Prozent dieser Studien bescheinigen dem Wild einen negativen Einfluss. Kritisch für die Waldverjüngung wird es nach den Berechnungen der Forscher bereits ab etwa 10 Rehen oder vergleichbar großen Tieren pro Quadratkilometer. Die Struktur des Waldes leidet ab etwa 13 Tieren, und bei mehr als 23 hungrigen Mäulern werden auch der Nährstoffkreislauf sowie die Holz- und Nahrungsproduktion in Mitleidenschaft gezogen. Diese Zahlen sehen die Forscher allerdings nur als grobe Anhaltspunkte. Die tatsächlichen Folgen des Verbisses seien von Wald zu Wald verschieden. So vertragen Bestände auf besonders produktiven Flächen auch höhere Wilddichten.

Tannen auf dem Rückzug

Doch nicht alle Bäume leiden gleichermaßen. Denn besonders Rehe, aber auch andere Hirscharten sind Leckermäuler. Zum einen haben sie eine Vorliebe für bestimmte Laubbäume wie Ebereschen oder Eichen, während sie auf Fichten und etliche andere Nadelbäume oft weniger Appetit entwickeln. Zum anderen suchen sie sich auch die einzelnen Bäume und deren Teile gezielt aus. Das haben Andrea Kupferschmid von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Birmensdorf und ihre Kollegen festgestellt, als sie Wälder in den Schweizer Kantonen St. Gallen und Graubünden unter die Lupe nahmen.

Ist der Waldboden übersät mit jungen Bäumen, hat das Wild demnach genügend Auswahl und frisst oft nur die Endknospen oder die oberste Spitze der Bäumchen ab. Und das auch nur bei den kräftigsten und dominantesten Exemplaren. Diese sind meist robust genug und treiben neu aus. In einem von Buchen dominierten Wald haben die Forscher zum Beispiel auch reichlich junge Weißtannen gefunden, von denen nur die Hälfte leicht angefressen war. Diese Bäumchen wachsen trotz der Knabberattacken immer noch schneller als die fast komplett verschont gebliebenen Fichten.

In einigen der untersuchten Tannen-Buchen- und Tannen-Fichten-Wälder gibt es dagegen deutlich weniger Tannennachwuchs. Gezwungenermaßen fällt das Wild dort also immer wieder über dieselben Bäumchen her, so dass diese kaum an Höhe gewinnen. Hier sind die verschmähten Fichten damit klar im Vorteil. Die Forscher halten es sogar für möglich, dass diese Bäume die Tannen langfristig komplett aus solchen Wäldern verdrängen werden.

Lawinenschutz leidet

Erste Trends in diese Richtung gibt es bereits – zum Beispiel an den Hängen des Misox-Tales in Graubünden. Der dortige Wald ist ein wichtiger Schutz gegen Lawinen. Allerdings kann er diese Funktion nur dann richtig erfüllen, wenn er aus Bäumen verschiedener Arten und Altersstufen besteht und sich verjüngen kann. Gerade die standhaften und schattentoleranten Weißtannen spielen dabei eine wichtige Rolle. Doch diese Bäume scheinen zunehmend in Bedrängnis zu geraten.

Alena Bareiss von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat jedenfalls festgestellt, dass auf ihren Probeflächen zwar reichlich Tannenkeimlinge aufgehen. Doch immer weniger davon kommen offenbar durch. Allein zwischen 2016 und 2019 ist die Zahl der Weißtannen dort um zwölf Prozent zurückgegangen. Und von den überlebenden Bäumen ist die Hälfte in diesem Zeitraum keinen Zentimeter gewachsen – oder sogar geschrumpft. Dahinter steckt vermutlich die Zunahme an Rothirschen in dem Gebiet, die trockenen Sommer der vergangenen Jahre haben die Bäume womöglich zusätzlich geschwächt. Die oft verdächtigten Rehe scheinen in diesem Tal dagegen wohl kaum eine Rolle gespielt zu haben. Denn deren Zahl war im Untersuchungszeitraum relativ gering und eher rückläufig.

Auch in anderen Fällen richten die viel geschmähten Rehe offenbar nicht mehr Schaden an als andere Wildarten. Im Nationalpark Bayerischer Wald ließ sich das sogar genetisch nachweisen. Denn knabbernde Huftiere hinterlassen oft reichlich Speichel an den Zweigen. Daraus kann man ihre DNA gewinnen und die Täter so überführen.

Borkenkäfer bahnt den Weg

Bei ungefähr der Hälfte der untersuchten Gehölzproben haben Nationalpark-Mitarbeiterin Suzanne van Beeck Calkoen und ihre Kollegen das geschafft. Demnach gehen die angefressenen Weißtannen und Ebereschen ungefähr gleich häufig auf das Konto von Rehen und Hirschen. Unterschiede fanden sich allerdings in den Vorlieben beider Arten. So stillten die Rehe ihren Hunger eher in der unteren Etage des Waldes, die Hirsche fraßen weiter oben. Und während die Rehe lieber in den intakten Waldbereichen zugange waren, machten sich ihre größeren Verwandten lieber über die von Borkenkäfern beschädigten Bestände her.

In anderen Regionen beteiligen sich noch weitere Arten am holzigen Festmahl. In Schweden zum Beispiel gelten die Elche als Baumgenießer Nummer eins. Ähnlich wie Rehe setzen auch diese größten, heute lebenden Hirsche auf besonders gut verdauliche Kost. Im Sommer haben Elche daher eine Vorliebe für am Boden wachsende Pflanzen, Büsche und Laubbäume wie Ebereschen, Weiden, Espen und Eichen. Im Winter stellen sie ihre Ernährung dann vor allem auf die Triebe und Zweige von Kiefern um. Rot- und Damhirsche dagegen fressen im Sommer lieber Gras und Kräuter, greifen im Winter aber ebenfalls auf Zweige und Triebe zurück.

Mit Hilfe von Daten aus einem großen Monitoring-Programm im Süden Schwedens hat Jonatan Sandberg von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften in Umeå untersucht, wie sich dieses Knabberquartett auf die Waldvegetation auswirkt. Die Gleichung »mehr Pflanzenfresser pro Fläche führen zu mehr Schaden« gilt demnach auch hier. Überraschenderweise hat sich aber gezeigt, dass die Probleme geringer ausfallen, wenn sich mehr verschiedene Wildarten gleichzeitig in einem Gebiet aufhalten. Offenbar machen sich die einzelnen Arten gegenseitig Konkurrenz, so dass der Druck auf die Vegetation sinkt.

Mehrere Wildarten sind besser für den Wald

Strategien, wie Wald und Wild möglichst optimal miteinander leben, müssen nach Einschätzung des Forschers deshalb je nach Situation unterschiedlich aussehen. Wenn ein Elch-Management-Konzept im Norden von Schweden funktioniere, müsse das nicht unbedingt auch im Süden der Fall sein.

Das Gleiche gilt auch für die Wälder in anderen Regionen Europas. Jeder wächst unter seinen eigenen Bedingungen und verkraftet daher unterschiedliche Wilddichten. Und selbst bei gleicher Dichte im gleichen Gebiet kann das Ergebnis noch unterschiedlich ausfallen. Schließlich sind die Tiere lernfähig und merken mit der Zeit genau, wo sie am günstigsten an eine nahrhafte Mahlzeit kommen. Untersuchungen im Nordosten Polens haben zum Beispiel gezeigt, dass Rehe und Hirsche die Forstwege meiden, auf denen manchmal Jäger unterwegs sind. In diesen »Korridoren der Angst« gedeihen Eichen daher deutlich besser als in den ruhigen, straßenfernen Zentren des Waldes. All das sollten Forstwirte und Waldschützer berücksichtigen, wenn sie Wildprobleme vermeiden wollen.

Im Prinzip gibt es dazu zwei Wege, die meist miteinander kombiniert werden. Der eine besteht darin, die Wilddichte durch Jagd auf einem baumverträglichen Niveau zu halten. Je nach Situation vor Ort können auch Raubtiere wie Wölfe dazu einen Beitrag leisten. Der andere Ansatz zielt darauf, das Verhalten der verbliebenen Pflanzenfresser zu beeinflussen. Ziel ist es, sie von empfindlichen jungen und mittelalten Waldbereichen in andere Regionen zu lotsen, wo sie weniger Schaden anrichten.

Barrieren und Appetitverderber

Eine klassische Methode besteht zum Beispiel darin, die Tiere mit Zäunen von den kritischen Flächen fernzuhalten. Doch auch mit natürlicheren Barrieren lässt sich einiges erreichen. Wenn man zum Beispiel die Kronen gefällter Bäume im Wald liegen lässt, haben Rehe oft wenig Lust, sich dazwischen hindurchzuschlängeln.

Eine ähnliche Wirkung kann auch stacheliges Gestrüpp entfalten. So entwickeln die zahlreichen Rot- und Sikahirsche auf dem Truppenübungsplatz Hradiste im Westen der Tschechischen Republik nur relativ wenig Appetit auf die Keimlinge von Eschen und Vogelkirschen, die unter solchen stechenden Hindernissen heranwachsen. Unter Schlehenbüschen gedeihen die kleinen Bäumchen zwar trotzdem schlecht, weil die großen Beschützer zu viel Schatten werfen. Weißdorn und Wildrosen aber kommen nach Ansicht von Lubomir Salek von der Tschechischen Agraruniversität Prag und seinen Kollegen durchaus als wirkungsvoller Verbissschutz in Frage.

Andere Pflanzen wiederum schützen sich statt mit Stacheln und Dornen mit ungenießbaren Inhaltsstoffen. Kann man vielleicht auch diese Substanzen als Verbissschutz nutzen, wenn man sie auf die gefährdeten Bäumchen schmiert? Tatsächlich hat ein Team um Rebecca Stutz von der Universität Stockholm recht gute Erfahrungen mit einem Extrakt aus Birkenrinde gemacht.

Anti-Hirsch-Repellent für Kiefern

In Experimenten knabberten Rothirsche nur halb so viele behandelte junge Waldkiefern an wie unbehandelte. Bei Elchen waren es sogar nur ein Viertel so viele. Allerdings ist es aufwändig und entsprechend teuer, jeden einzelnen Baum mit einem solchen Repellent zu schützen. Also haben die Forscher versucht, nur einen Teil der Kiefern zu behandeln – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Elche ließen die Zähne lieber vom gesamten Baumbestand, wenn sie einmal eine schlecht schmeckende Erfahrung gemacht hatten. Hirsche dagegen pickten sich in solchen Fällen gezielt die unbehandelten Pflanzen heraus.

Dafür kann es gegen diese Tiere helfen, nur die Spitzen der Triebe zu behandeln. Denn Rothirsche fressen einen jungen Baum in der Regel von oben nach unten ab. Wenn da schon die ersten Bissen nicht schmecken, lassen sie den Rest normalerweise in Ruhe. Das haben Ulrika Bergvall und Olof Leimar von der Universität Stockholm in Experimenten mit einem anderen Abwehrstoff auf Tanninbasis herausgefunden. Elche dagegen arbeiten sich eher von unten nach oben vor, so dass ein Schutz nur für die Spitzen nicht ausreicht.

Doch auch diese Ergebnisse bieten nur grobe Anhaltspunkte für die Wirksamkeit der Repellents. In weiteren Studien unterschied sich nämlich auch das Verhalten von Gehege-Elchen und ihren frei lebenden Artgenossen, die mit einem kommerziellen Verbiss-Repellent konfrontiert waren.

Keine zuverlässige Wildabwehr

Die Erfahrungen der Tiere, die Größe ihrer Bestände, ihr Lebensraum und ihr Hunger – das alles kann die Wirksamkeit solcher Präparate beeinflussen. Wenn man Repellents also effektiv einsetzen will, braucht man nach Ansicht von Rebecca Stutz für jedes Gebiet ein maßgeschneidertes Konzept, das die Wilddichte ebenso berücksichtigt wie die Zusammenstellung der Baumarten und die Entwicklungsstufe des Waldes. Und schließlich spielt es auch noch eine Rolle, ob anderes Futter als Alternative zu den Knospen und Sprossen zur Verfügung steht. Je mehr, desto besser.

Zum Schutz des Waldes kann man daher auch versuchen, den Tieren ein möglichst attraktives Angebot auf speziell angelegten Wildwiesen, Wildäckern und anderen offenen Flächen zu bieten. Oder sie im Winter zu füttern, um diese besonders kritische Zeit der Nahrungsknappheit zu überbrücken. Tatsächlich kann eine solche Winterfütterung die Bäume von Rothirschattacken entlasten, hat ein Team um Johanna Maria Arnold von der Universität für Bodenkultur in Wien in einem österreichischen Wald festgestellt.

Allerdings klappte das nur in unmittelbarer Umgebung der Futterstelle, ab 1,5 Kilometer Entfernung zogen die Tiere wieder die näheren Bäume vor. Und ob die Ablenkfütterung langfristig tatsächlich nützt, ist nach Ansicht der Forscher ebenfalls unklar: Was, wenn sie das Überleben der Tiere fördert und so zu noch höheren Hirschdichten führt? Ein Patentrezept gegen Wildschäden sei die Methode jedenfalls nicht. Doch das scheint für so ziemlich alle Maßnahmen zu gelten, die Wissenschaftler bisher getestet haben.

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