Reistheorie: Reisanbau macht kooperativer
Menschen aus dem Westen denken individualistisch, in (Ost-)Asien spielt hingegen die Gemeinschaft eine größere Rolle – so lässt sich, wenn auch stark vereinfacht, einer der auffälligsten Unterschiede zwischen beiden Hemisphären zusammenfassen. Warum das so ist, erklären Thomas Talhelm von der University of Virginia und Kollegen nun mit einer neuen Theorie: Die Produktion des Hauptnahrungsmittels prägt die jeweilige Kultur bis heute.
Verglichen mit dem Anbau von Weizen ist der Nassreisanbau mit einem etwa doppelt so hohen Arbeitsaufwand verbunden und sei nur zu bewältigen, wenn jeder mit anpackt: Kommunale Bewässerungseinrichtungen müssen in Schuss gehalten und Anpflanzung und Ernte so koordiniert werden, dass Nachbarn sich gegenseitig helfen können. Weizen als typisch "westliches" Grundnahrungsmittel könne von einer Kleinfamilie zur Selbstversorgung angebaut werden; einem Ehepaar, das nur Reis anbaut, droht hingegen der Hungertod.
Das präge eine ganze Gesellschaft bis heute, selbst wenn nur noch wenige tatsächlich Ackerbau betreiben, mutmaßen die Forscher – und zwar sowohl weltweit als auch in unterschiedlichen Regionen ein und desselben Landes.
China als idealer Testfall für die Reistheorie
Den idealen Testfall für ihre Hypothese sehen die Psychologen daher in China. Während im Norden des Landes seit jeher der Weizenanbau dominiert, ist es in den südlichen Provinzen der Nassreisanbau. Folglich müssten sich entsprechende kulturelle Unterschiede in den einzelnen Landesteilen dingfest machen lassen. Weil gleichzeitig Sprache, Religion, Politik und Geschichte recht ähnlich sind, hoffen die Autoren, Störfaktoren ausschließen zu können, die einen direkten Vergleich zwischen Ost und West unmöglich machen.
Talhelm und Kollegen ließen 1162 Han-Chinesen zu diversen psychologischen Tests antreten und maßen dabei die Neigung zu "holistischem" versus "individualistischem" Denken. Außerdem erfassten sie Scheidungsraten, Patentanmeldungen und ähnliche Statistiken, die als Ausdruck einer der beiden Denkweisen gelten. Tatsächlich zeigten sich die erwarteten regionalen Differenzen.
Keine andere Erklärung passte
Mehr noch: Die Aufteilung nach Anbauregion stimmte besser mit der kulturellen Ausprägung überein als konkurrierende Theorien. Beispielsweise hatten andere Forscher vorgeschlagen, dass Menschen umso individualistischer denken, je reicher einer Region ist. Einer alternativen Theorie zufolge entsteht der für Asien typische Fokus auf die Gruppe, wenn die Belastung durch Krankheitserreger und Parasiten besonders hoch ist. Dadurch sei Kontakt zu Fremden riskant, und man bleibe lieber unter sich. Doch beide Hypothesen waren nur bedingt und teils gar nicht mit den Ergebnissen von Talhelm und Co in Einklang zu bringen.
Schon früher hatten Studien gezeigt, dass sich Ackerbau und traditionelle Viehzucht jeweils unterschiedlich auf eine Kultur auswirken. Noch entscheidender sei jedoch, was genau angebaut werde und unter welchen Bedingungen, fassen die Wissenschaftler um Talhelm zusammen. Wie lange eine solche Prägung vorhält, können sie nicht sagen, vermutlich jedoch sehr lange.
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