Astronomie: Rendezvous mit einem interstellaren Eindringling
Vom höchsten Gipfel Hawaiis bis zu einem Hochplateau in den Anden: Einige der größten Teleskope der Erde werden in den nächsten Wochen einen schwachen Lichtfleck am Nachthimmel anvisieren. Auch Gennady Borisov, ein Amateurastronom auf der Krim, wird seinen Schlaf dafür opfern, genauso wie viele andere Hobbyastronomen.
Schließlich bietet sich eine einmalige Gelegenheit: Ein seltener Besucher von außerhalb unseres Sonnensystems wird am 8. Dezember den sonnennächsten Punkt seiner Bahn erreichen. In den darauf folgenden Monaten wird der Himmelskörper wieder in der Dunkelheit des Weltalls verschwinden. Doch ehe er dies tut, wollen Himmelsforscher so viel wie möglich über ihn lernen.
Der Klumpen aus Fels und Eis begann seine Reise vor Millionen von Jahren, viele Lichtjahre von der Erde entfernt. Durch einen heftigen Gravitationsschub wurde das Objekt aus der eigenen Nachbarschaft geworfen – vielleicht war ein nahe gelegener Planet verantwortlich, vielleicht ein vorbeiziehender Stern. Seitdem treibt der Reisende ziellos durch den Raum zwischen den Sternen – und hat nun den Weg in unser Sonnensystem gefunden.
Es war der 30. August, knapp vor Morgengrauen, als Gennady Borisov das Objekt entdeckte – durch sein Teleskop sah er ein schwaches Leuchten mit einem breiten, kurzen Schweif. Seitdem heißt der interstellare Komet »2I/Borisov«, benannt nach seinem Entdecker. Sieht man von exotischen Staubpartikeln ab, ist es gerade einmal das zweite uns bekannte Objekt, das aus dem interstellaren Raum ins Sonnensystem gelangt ist. »Das ist mein achter Komet, es ist wirklich unglaublich«, sagt Borisov. »Es war großes Glück, dass ich ein so einzigartiges Objekt zu Gesicht bekommen habe.«
Ist unser Sonnensystem einzigartig?
2I/Borisov unterscheidet sich deutlich vom ersten interstellaren Eindringling, einem kleinen, dunklen, felsig aussehenden Objekt namens 1I/'Oumuamua, das 2017 an der Sonne vorbeiflitzte und weltweit Schlagzeilen machte. Gemeinsam revidieren die beiden interstellaren Objekte, was Forscher über die eisigen Körper wissen, von denen es Schätzungen zufolge unvorstellbare 1026 Stück in der Milchstraße geben soll.
Viele von ihnen treiben vermutlich im Orbit junger Sterne durchs All und sammeln sich dort in platt gedrückten Trümmerwolken, in denen auch Planeten entstehen. 1I/'Oumuamua und 2I/Borisov erlauben einen ersten Blick auf die Physik und Chemie dieser Objekte. Anhand der Boten aus anderen Planetensystemen können Wissenschaftler untersuchen, ob das Sonnensystem einzigartig ist oder ob es sich Bausteine mit anderen Planetensystemen in der Milchstraße teilt.
Da Astronomen 2I/Borisov auf seinem Weg ins Sonnensystem bemerkt haben, bleiben ihnen viele Monate Zeit, um den Kometen zu studieren – ganz anders als bei 1I/'Oumuamua, den sie erst bei seiner Abreise entdeckten und auf den sie daher nur einen flüchtigen Blick werfen konnten. Aus diesem Grund erwarten Experten, viel mehr von 2I/Borisov zu lernen, zum Beispiel, aus welchen chemischen Verbindungen sein eisiges Herz besteht. Das konnten sie noch bei keinem Objekt, das um einen anderen Stern entstanden ist, bewerkstelligen.
Und da auch weiterhin Teleskope den Himmel nach schwachen, sich schnell bewegenden Objekten absuchen, hoffen Forscher, in den kommenden Jahren zahllose weitere interstellare Eindringlinge zu entdecken. »Es ist wirklich großartig zu sehen, wie sich da plötzlich ein Fenster auftut und ein neues Feld entsteht«, sagt Michele Bannister, eine Planetenforscherin von der Queen's University in Belfast.
Geboren im Staub
Das Leben der interstellaren Besucher begann wahrscheinlich in einer Scheibe aus Gas und Staub, die sich um junge Sterne bildet. Dort klumpten irgendwann eisige Körner zu immer größeren Körpern zusammen. In denselben Regionen wachsen auch Planeten heran, die durch Kollisionen und Gravitationsbewegungen von einer Umlaufbahn um den Stern in die nächste gestoßen werden.
Wie ein Schneepflug, der sich durch einen Haufen Hagelkörner kämpft, drücken sich die Planeten durch die Wolke aus Eisklumpen. Simulationen zufolge schleudern die Planeten dabei mehr als 90 Prozent der Körper aus dem Einflussbereich ihres Sterns in den interstellaren Raum. Dort treiben sie solange vereinsamt umher, bis der Zufall sie nahe genug an einem anderen Stern vorbeiführt. Dann statten sie diesem, von der Schwerkraft angezogen, einen kurzen Besuch ab.
Eigentlich hatten Astronomen sich das erste interstellare Objekt, das sie zu Gesicht bekommen, wie einen typischen Kometen vorgestellt. Die meisten Kometen im Sonnensystem stammen aus der Oortschen Wolke, einer Art kosmischen Eiswüste, die etwa 1000-mal weiter von der Sonne entfernt liegt als Pluto. Hin und wieder wirft dort etwas einen dieser Kometen aus seiner Bahn und schickt ihn in Richtung Sonne. Wenn er sich ihr nähert und sich erwärmt, sprüht sein Kern Staub und Gas aus, die einen klassischen Kometenschweif bilden.
Doch als der erste interstellare Besucher auftauchte, sah er völlig anders aus. Im Vergleich zu konventionellen Kometen war 1I/'Oumuamua winzig – nur etwa 200 Meter breit – und felsig. Seine Form schien einer Zigarre zu ähneln, und laut einer gängigen Interpretation der Messdaten taumelte diese hin und her. Mehr als das konnten Wissenschaftler nicht herausfinden, bevor 1I/'Oumuamua das Sonnensystem wieder verließ.
Eine Zigarre und ein gewöhnlicher Komet
Im Gegensatz dazu sieht 2I/Borisov aus wie ein gewöhnlicher Komet. Und Forscher fangen gerade erst an, ihn eingehender zu beobachten. »Wir sind brennend an der chemischen Zusammensetzung interessiert, um zu sehen, ob er sich von denen im Sonnensystem unterscheidet«, sagt Karen Meech, Astrobiologin an der University of Hawaii in Honolulu. Bisher ist so viel klar: 2I/Borisov ist rötlich gefärbt und sprüht kontinuierlich Staubpartikel. Sein Kern ist vergleichsweise klein, vielleicht nur einen Kilometer breit, aber das kann auch bei Sonnensystemkometen vorkommen.
»Nach 1I/'Oumuamua mussten wir unsere Vorstellung von interstellaren Objekten vollständig überdenken«, sagt Matthew Knight, ein Kometenspezialist an der University of Maryland. »Aber der zweite Besucher sieht bisher so aus, wie wir es von einem Kometen erwarten würden, der von einem anderen Stern ausgestoßen wurde.« Das sei beruhigend, findet Knight. Denn es deutet darauf hin, dass die Sternensysteme, in denen sich fremde Welten bilden, unserem eigenen sehr ähnlich sein könnten.
Neue Messdaten zu 2I/Borisov ließen nach der Entdeckung nicht lange auf sich warten. Nur drei Wochen nachdem er zum ersten Mal gesichtet wurde, richteten Astronomen das 4,2 Meter große William-Herschel-Teleskop auf den Kanarischen Inseln auf den Kometen und entdeckten Cyanidgas-Moleküle, die vom Kern des Himmelskörpers wegströmen. Erstmalig detektierten sie damit Gas, das von einem außerirdischen Besucher des Sonnensystems ausgeht.
Am 11. Oktober nutzte ein anderes Forschungsteam ein 3,5-Meter-Teleskop in New Mexico und wies so Sauerstoff nach, der ebenfalls auf Borisov zurückgeht. Das Gas stammt wahrscheinlich von Wasser, das im Kern des Kometen zerfällt – die erste Entdeckung von Wasser aus einem fremden Sternsystem, das in das unsere eindringt. In Kombination sind die Mengen an Zyanid und Wasser, die vom Kometen sprühen, allerdings keine große Überraschung: Sie entsprechen dem, was Astronomen bereits bei vielen anderen Kometen beobachtet haben.
Forscher hoffen, zusätzliche Moleküle im Umfeld von 2I/Borisov zu entdecken, zum Beispiel Kohlenmonoxid. Wenn er sich weiter der Sonne nähert, wird deutlicher werden, inwieweit er seinen Verwandten aus dem Sonnensystem ähnelt.
Die ersten Beobachtungen deuten bereits darauf hin, dass 2I/Borisov vergleichsweise wenige Kohlenstoffkettenmoleküle enthalten könnte. Etwa 30 Prozent der Kometen im Sonnensystem sind ähnlich kohlenstoffarm. Üblicherweise kommen sie aus der Sonnennähe und nicht aus der entlegenen Oortschen Wolke.
Im Laufe der Monate erwarten die Astronomen dann, dass mehr und mehr Beobachtungen von 2I/Borisov ihr Verständnis der Planeten formenden Scheibe erweitern, in welcher der Komet mutmaßlich entstanden ist. »Es wird aufregend sein, herauszufinden, wie die Bausteine anderer Systeme im Vergleich zu unseren aussehen«, sagt Malena Rice, Doktorandin an der Yale University in New Haven, Connecticut.
Die Forscher hoffen auch, langsam aufzudecken, auf welchen Wegen interstellare Objekte durch den Weltraum gereist sein könnten, bevor sie im Sonnensystem auftauchen. Schätzungen deuten darauf hin, dass die Objekte beim Umkreisen des galaktischen Zentrums vielen verschiedenen Kräften ausgesetzt sind, darunter gelegentliche Begegnungen mit anderen Sternen oder galaktische Gezeiten.
Einige Wissenschaftler haben versucht zu berechnen, um welche Sterne sich 1I/'Oumuamua und 2I/Borisov gebildet haben könnten. Doch es ist schwierig, ihre Bahnen zurückzuverfolgen – es gleicht dem Versuch, aus der letzten Bar eines Londoner Pub Crawls darauf zu schließen, wo die Kneipentour gestartet ist.
Schlummern etliche weitere interstellare Besucher in den Archiven?
Eine andere Frage ist, wann wir den nächsten interstellaren Besucher erwarten können und wie sehr er sich von 1I/'Oumuamua und 2I/Borisov unterscheidet. Nach jahrzehntelanger erfolgloser Suche hatten die Wissenschaftler zwei Entdeckungen in so rascher Folge nicht erwartet. »Ich bin verwirrt und verblüfft, dass das zweite Objekt so schnell aufgetaucht ist«, sagt Robert Jedicke, ein Asteroidenspezialist an der University of Hawaii, der die Häufigkeit interstellarer Besucher zu berechnen versucht hat. »Sie sind wie Busse«, fügt Alan Fitzsimmons von der Queen's University Belfast hinzu. »Man wartet Ewigkeiten, dass einer kommt, und dann tauchen zwei nahezu auf einmal auf«.
Nun durchforsten Astronomen Archivdaten, um herauszufinden, ob es sich nicht bei schon vor Jahren entdeckten Objekten ebenfalls um interstellare Besucher handeln könnte, die Forscher damals nur nicht erkannt haben. Und sie erwarten, dass die Entdeckungsrate zukünftig steigt – vielleicht zu einem interstellaren Objekt pro Jahr –, wenn das Large Synoptic Survey Telescope 2022 in Betrieb geht und von Chile aus alle drei Nächte den gesamten sichtbaren Himmel durchkämmt.
Gleichzeitig arbeitet die ESA an dem Konzept für eine Raumsonde, den so genannten Comet Interceptor; die könnte zukünftig interstellare Objekte auf ihrem Weg an der Sonne vorbei besuchen. Sobald Astronomen auf einen Erfahrungsschatz von 10 oder 20 interstellaren Objekten zurückgreifen können, dürften sie ein weitaus besseres Bild von diesen Wanderern aus den Tiefen des Weltraums haben.
Der Artikel ist am 20. November 2019im Original im journalistischen Teil des Wissenschaftsmagazins »Nature« erschienen.
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