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Teilchenphysik: Revolution in der Neutrino-Matrix

Eigentlich wollten drei Physiker nur untersuchen, wie sich Neutrinos in Materie verhalten. Doch dann stießen sie auf eine bisher unbekannte Verbindung zwischen allgegenwärtigen mathematischen Objekten, die selbst Mathematiker verblüfft.
Eine Person schreibt Gleichungen auf eine Glasscheibe. Interessant daran ist, dass sie anscheinend die ganze Zeit in Spiegelschrift schreibt.

An einem Morgen im August empfing der renommierte Mathematiker Terence Tao eine E-Mail von drei Physikern, die er nicht kannte. Darin erklärten sie, sie seien über eine einfache Formel gestolpert, die – falls sie richtig ist – eine unerwartete Beziehung zwischen den grundlegendsten Objekten der linearen Algebra herstellt.

»Die Formel sah zu gut aus, um wahr zu sein«, sagt Tao, der Professor an der University of California in Los Angeles sowie Träger der begehrten Fields-Medaille ist. »Etwas so Prägnantes und Einfaches – es hätte schon längst in Lehrbüchern stehen sollen«, fügt er hinzu. »Daher war mein erster Gedanke, dass die Arbeit einen Fehler enthalten musste.« Doch als er genauer über das Problem nachdachte, konnte er keinen solchen finden – die Physiker schienen Recht zu haben mit ihrer Formel.

Die drei Forscher, Stephen Parke vom Fermi National Accelerator Laboratory, Xining Zhang von der University of Chicago und Peter Denton vom Brookhaven National Laboratory, hatten den mathematischen Zusammenhang etwa zwei Monate zuvor bemerkt, als sie sich mit Neutrinos beschäftigten – geisterhaften Elementarteilchen, die im Universum allgegenwärtig sind. Dabei fiel ihnen auf, dass sich die schwer zu berechnenden Eigenvektoren, die beschreiben, wie sich Neutrinos in Materie ausbreiten, aus den Eigenwerten ergeben, die deutlich einfacher zu bestimmen sind. Die Physiker vermuteten daraufhin, dass diese Beziehung offenbar auch über ihren Spezialfall hinaus gilt.

Für die Experten war das eine große Überraschung, schließlich widmen sich Mathematiker, Physiker und Ingenieure seit dem 18. Jahrhundert den allgegenwärtigen Eigenvektoren und Eigenwerten. Um auszuschließen, dass sie einen längst bekannten Zusammenhang entdeckt hatten, durchsuchten die drei Forscher etliche Fachbücher nach einer solchen Formel – vergebens.

Sie entschieden sich daher, Tao zu kontaktieren, trotz eines Hinweises auf seiner Website, der vor solchen Anfragen abriet. »Knapp zwei Stunden später erhielten wir eine Antwort, in der Tao sagte, er habe eine solche Verbindung noch nie zuvor gesehen«, erinnert sich Parke. Zudem enthielt die E-Mail drei unabhängige Beweise der mathematischen Identität.

Danach ging alles sehr schnell. Eineinhalb Wochen später veröffentlichten die drei Physiker zusammen mit Tao ihr Ergebnis online auf dem Preprint-Server ArXiv. Derzeit prüft das Fachjournal »Communications in Mathematical Physics« ihre Arbeit. In einem separaten Aufsatz, das dem »Journal of High Energy Physics« vorliegt, nutzten Denton, Parke und Zhang ihre Formel, um die Gleichungen für Neutrinos zu vereinfachen.

Die Mathematik des Drehens und Streckens

Experten gehen davon aus, dass sich künftig etliche weitere Anwendungen ergeben werden, weil so viele naturwissenschaftliche Probleme mit der Berechnung von Eigenvektoren und Eigenwerten zusammenhängen. Der Grund dafür ist, dass sie lineare Transformationen charakterisieren, die ein Objekt dehnen, stauchen, drehen oder anderweitig verändern. Solche Transformationen lassen sich durch zweidimensionale Listen aus Zahlen darstellen, so genannte Matrizen.

Eine solche Matrix verändert die »Vektoren« eines Objekts. Diese kann man sich als Pfeile vorstellen, die auf die Punkte eines Objekts zeigen. Eine Matrix verändert sowohl die Länge und als auch die Ausrichtung eines solchen Pfeils. Man kann jeder Matrix so genannte Eigenvektoren zuweisen, die durch ihr Wirken gleich ausgerichtet bleiben. Wenn man zum Beispiel eine Matrix betrachtet, die Objekte um 90 Grad um die x-Achse dreht, verlaufen ihre Eigenvektoren entlang der x-Achse, weil sich die Punkte eines Objekts entlang dieser Geraden nicht verschieben.

Eine ähnliche Matrix könnte die Objekte um die x-Achse drehen und zusätzlich um die Hälfte schrumpfen. Wie stark eine Matrix einen Eigenvektor streckt oder staucht, ergibt sich aus dem dazugehörigen Eigenwert – in diesem Fall 12. Wenn sich ein Eigenvektor nicht ändert, ist der entsprechende Eigenwert 1.

Lineare Transformation | Die Matrix ( 1 , 1 | -1 , 2 ) dreht und verzerrt das blaue Rechteck und bildet es auf ein Parallelogram ab (pink).

In der Regel berechnet man Eigenvektoren und Eigenwerte unabhängig voneinander, aus den Zeilen und Spalten einer Matrix. In den ersten Semestern eines naturwissenschaftlichen Studiums lernen Studenten, wie man dies für einfache Matrizen macht. Die neue Formel unterscheidet sich jedoch von den bisherigen Methoden. »Das Bemerkenswerte an dieser Identität ist, dass man dazu nie wirklich einen der Einträge der Matrix kennen muss«, erklärt Tao.

Die Formel der drei Physiker gilt nur für hermitesche Matrizen, deren Eigenwerte immer reell sind (im Gegensatz zu solchen, die auch imaginäre Beiträge besitzen, also Wurzeln aus negativen Zahlen). Hermitesche Matrizen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, anwendungsspezifische Dinge zu berechnen, etwa einen Trägheitstensor in der klassischen Mechanik.

Denton, Parke und Zhang fanden heraus, dass man die Eigenvektoren einer hermiteschen Matrix berechnen kann, indem man bloß ihre Eigenwerte und die Eigenwerte der dazugehörigen Untermatrix auf bestimmte Weise miteinander multipliziert und addiert. Die Untermatrix ergibt sich, indem man Zeilen und Spalten der ursprünglichen Matrix streicht. »Im Nachhinein macht die Formel Sinn«, sagt Tao. »Denn die Eigenwerte der Untermatrix enthalten viele versteckte Informationen.« Das sei aber etwas, an das er nicht gedacht hätte.

Den Geisterteilchen auf der Spur

Die bisher einzige Anwendung der neuen Formel hat mit Neutrinos zu tun. Diese Partikel gehören zu den seltsamsten und am wenigsten verstandenen bisher bekannten Elementarteilchen. Jede Sekunde durchqueren Billionen von ihnen unseren Körper, ohne dass wir es merken. Sie wechselwirken kaum mit anderer Materie, weshalb viele ihrer Eigenschaften bisher unbekannt sind.

Interessanterweise legt die theoretische Physik nahe, dass sich Neutrinos von ihren Antiteilchen unterscheiden könnten. Das würde erklären, warum es in unserem Universum fast nur Materie und kaum Antimaterie gibt. Denn wären beim Urknall gleich viele Teilchen und Antiteilchen entstanden, hätten sie sich gegenseitig vernichtet. Unser Kosmos würde dann bis auf Photonen vollkommen leer sein.

»Wenn sich Neutrinos anders verhalten als Antineutrinos, könnte das erklären, warum das Universum fast nur aus Materie besteht«, sagt die Physikerin Deborah Harris von der York University und vom Fermilab, die an dem Neutrino-Experiment DUNE (Deep Underground Neutrino Experiment) arbeitet. In diesem Experiment schießen die Forscher Neutrinos aus dem Fermilab in Illinois zu einem 1300 Kilometer entfernten unterirdischen Detektor in South Dakota.

Dabei nutzen sie aus, dass die Teilchen in drei möglichen »Generationen« – Elektron-, Myon- oder Tauon-Neutrinos – auftauchen. Die Gesetze der Quantenmechanik führen dazu, dass jedes Neutrino überlagert auftritt, wodurch die Teilchen während ihrer Reise ihre Generation ändern können. Wenn beispielsweise ein Myon-Neutrino das Fermilab verlässt, kann es als Elektron- oder Tauon-Neutrino South Dakota erreichen.

Zu schön, um wahr zu sein

Diese Schwankungen beschreibt eine komplizierte Matrix aus drei Zeilen und drei Spalten. Indem Physiker die dazugehörigen Eigenvektoren und Eigenwerte bestimmen, können sie die Wahrscheinlichkeit dafür berechnen, dass sich ein Myon-Neutrino in ein Elektron-Neutrino verwandelt. Das Gleiche können sie für die jeweiligen Antiteilchen tun.

Beide Ausdrücke enthalten eine Unbekannte: die »CP-verletzende Phase«, die angibt, wie sehr sich die Schwankungen von Neutrinos und Antineutrinos unterscheiden. Die Physiker am DUNE-Experiment versuchen diese Größe zu bestimmen, indem sie die einfallenden Neutrinos und Antineutrinos detektieren. Ist die CP-verletzende Phase groß genug, könnte dies einen Teil der Erklärung dafür liefern, dass unser Universum mit Materie gefüllt ist.

Als ob die Berechnungen nicht schon kompliziert genug wären, erschwert ein bizarrer Effekt die Neutrino-Matrix, den der Physiker Lincoln Wolfenstein 1978 entdeckte. Obwohl sie kaum mit Materie wechselwirken, erkannte Wolfenstein, dass sich Neutrinos in Materie anders ausbreiten als im Vakuum. Dadurch verändern sich die Wahrscheinlichkeiten für die Schwankungen in andere Generationen. Der Effekt führt zu einem zusätzlichen Term in der Neutrino-Matrix, der sie enorm verkompliziert. Parke, Zhang und Denton suchten deshalb nach einem Weg, die Berechnungen zu vereinfachen.

Die drei Physiker hatten zuvor eine Methode entwickelt, um die Eigenwerte der Neutrino-Matrix präzise anzunähern. Die Eigenvektoren lassen sich jedoch nicht so einfach bestimmen. Als Parke, Denton und Zhang die Eigenwerte genauer untersuchten, fiel ihnen auf, dass sich die langen Ausdrücke für die Eigenvektoren, die in früheren Werken berechnet wurden, aus einer Kombination der Eigenwerte ergibt. »Damit lässt sich die Neutrinooszillation in Materie extrem schnell und einfach berechnen«, begeistert sich Zhang.

Ist der Zusammenhang wirklich neu?

Die Forscher hatten ein gewisses Muster zwischen den Eigenwerten und Eigenvektoren bemerkt, das sie dann verallgemeinerten. Dass ihre Forschung zu einer neuen Erkenntnis der linearen Algebra geführt hat, verunsichert die Experten derweil ein wenig. »Seit sehr langer Zeit nutzen verschiedenste Wissenschaftler die Werkzeuge dieser Disziplin«, sagt Parke. Deshalb warte er nur darauf, dass ihm jemand eine alte Arbeit zeigt, in der diese Formel auftaucht.

Tatsächlich existierte bereits ein ähnlicher Ausdruck, der jedoch unbemerkt blieb. Im September erreichte Tao eine E-Mail von Jiyuan Zhang, einem Mathematikstudenten an der University of Melbourne. Dieser verwies auf eine Arbeit, die er mit seinem Betreuer Peter Forrester bereits im Mai veröffentlicht hatte – noch vor Tao und den drei Physikern. Forrester und Zhang hatten sich dabei an einem Aufsatz von Yuliy Baryshnikov an der University of Illinois orientiert, der eine solche Gleichung in anderer Form 2001 gefunden hatte. Die Mathematiker nutzten die Formel jedoch nicht, um Eigenvektoren zu berechnen, sondern um die Eigenwerte gewisser Untermatrizen zu bestimmen.

»Angesichts der Bedeutung von Eigenvektoren in naturwissenschaftlichen Anwendungen, sind wir der Meinung, dass unser Ergebnis sich stark genug von den vorigen unterscheidet, um als neu angesehen zu werden«, sagt Denton. Wer auch immer als Erstes diesen Zusammenhang aufdeckte – es bleibt extrem erstaunlich, dass eine so fundamentale und einfache Verbindung zwischen Eigenwerten und Eigenvektoren so lange verborgen blieb.

Der Rechentrick

Betrachtet man die Matrix \( M =\begin{pmatrix} 1 & 2 & 0 \\ 2 & 4 & 0 \\ 0 & 0 & 3 \end{pmatrix} \) lauten die Eigenwerte: \( \lambda_1= 3, \lambda_2 = 0, \lambda_3=5.\) Die dazugehörigen Eigenvektoren sind: \( v_1 = \begin{pmatrix} 0 \\ 0 \\ 1\end{pmatrix}, v_2 = \frac{1}{\sqrt{5}}\begin{pmatrix} -2 \\ 1 \\ 0\end{pmatrix}, v_3 = \frac{1}{\sqrt{5}}\begin{pmatrix} 1 \\ 2 \\ 0\end{pmatrix} .\)

Es lässt sich leicht überprüfen, dass \( M \cdot v_i = \lambda_i v_i\) für \(i=1,2,3.\) Das heißt, die Matrix \(M\) streckt beziehungsweise staucht die Eigenvektoren um den Faktor \(\lambda_i\), ohne ihre Richtung zu verändern.

Um die Eigenvektoren einer Matrix zu berechnen, muss man eigentlich folgende Rechnung lösen: \(\left(M- \begin{pmatrix} \lambda_i & 0 & 0 \\ 0 & \lambda_i & 0 \\ 0 & 0 & \lambda_i \end{pmatrix} \right) \cdot v_i = 0.\) Das sich daraus ergebnde lineare Gleichungssystem ist nicht immer einfach zu lösen, wie im Beispiel der Neutrino-Matrix. Die Arbeit von Tao und den drei Physikern hat nun eine neue Möglichkeit eröffnet, die Eigenvektoren einer Matrix zu berechnen.

Dafür muss man die Eigenwerte der so genannten Untermatrizen kennen. Sie ergeben sich, indem man jeweils die j-te Spalte und Zeile von \(M\) streicht, also: \(M_1= \begin{pmatrix} 4 & 0 \\ 0 & 3\end{pmatrix}, M_2= \begin{pmatrix} 1 & 0 \\ 0 & 3\end{pmatrix}, M_3= \begin{pmatrix} 1 & 2 \\ 2 & 4\end{pmatrix}.\) Die jeweiligen Eigenwerte \(\mu(M_j)_i\) lauten: \(\mu(M_1)_1 = 4, \mu(M_1)_2 = 3\) sowie \(\mu(M_2)_1 = 1, \mu(M_2)_2 = 3\) und \(\mu(M_3)_1 = 0, \mu(M_3)_2 = 5.\)

Die Formel der Physiker zur Berechnung der Eigenvektoren lautet: \[ |v_{i,j}|^2 \prod_{k=1; k\neq i}^3 (\lambda_i – \lambda_k) = \prod_{k=1}^2 (\lambda_i – \mu(M_j)_k).\] Wobei \(v_{i,j}\) den j-ten Eintrag des Vektors \(v_i\) beschreibt. Hier ist sie für eine \(3 \times 3\)-Matrix angegeben, doch sie gilt ganz allgemein für \(n \times n\)-Matrizen.

Möchte man also den ersten Eigenvektor berechnen, ergibt die Formel folgende Rechnungen: \[ \begin{split} |v_{11}|^2 \cdot (3-0) \cdot (3-5) &= (3-4)\cdot (3-3) =0\\ |v_{12}|^2 \cdot (3-0) \cdot (3-5) &= (3-1)\cdot (3-3) =0\\ |v_{13}|^2 \cdot (3-0) \cdot (3-5) &= (3-0)\cdot (3-5) \Rightarrow |v_{13}|^2 = 1\\ \end{split} \]

Von »Spektrum.de« übersetzte und bearbeitete Fassung des Artikels »Neutrinos Lead to Unexpected Discovery in Basic Math« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.

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