Richard Wagner: Das Heiligtum der Opernfantasten
Als draußen die Trompeten verklingen, schellt drinnen ein leises, aber schrilles Läuten. Die Saaltüren schließen sich. Mit einem Mal verstummen die Gespräche. Der Vorhang öffnet sich und das weltbekannte Vorspiel ertönt. Es folgen grandiose Orchesterklänge, stimmgewaltige Solisten und rund 16 Stunden lang Pathos. Richard Wagners »Ring des Nibelungen« ist eine Oper der Superlative mit vielen Traditionen in einem einzigartigen Festspielhaus.
Dabei hatte der Komponist, der heute vor 140 Jahren starb, für die Uraufführung etwas völlig anderes im Sinn. Ihm schwebte vor, seinen »Ring« in einem kargen Bretterbau auf die Bühne zu bringen, der nach der Aufführung, dem »großen dramatischen Feste«, abgerissen werden sollte. Die Partitur wollte Wagner anschließend verbrennen, wie er in einem Brief 1850 schrieb.
»Er war ein großer Pyromane«, sagt Sven Friedrich, Direktor des Richard-Wagner-Museums in Bayreuth. Dabei ist »die Idee des Einmaligen, des Unwiederholbaren erzromantisch«. Künstlerische und politische Revolution gingen in Wagners Denken Hand in Hand. 1849 hatte er sich am gescheiterten Dresdner Maiaufstand beteiligt – die Aufständischen hatten versucht, König Friedrich August II. von Sachsen zu stürzen. Danach war der Komponist in die Schweiz geflohen.
Basierend auf der altgermanischen Nibelungensage schrieb er dort seine Operntetralogie aus »Das Rheingold«, »Die Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung« – ein Heldenepos über Macht und Besitz, Liebe und Verlust in einer mythischen Götterwelt. In der Schweiz entwickelte er auch die Idee zu seinem »Gesamtkunstwerk«. Was ihm damit für sein auf vier Tage angelegtes Bühnenfestspiel vorschwebte, konkretisierte er später im Vorwort der Erstveröffentlichung seines »Ring des Nibelungen«: Das Theaterprovisorium für sein Meisterwerk sollte in einer der kleineren Städte Deutschlands stehen.
Warum das Festspielhaus in Bayreuth steht
Eigentlich hatte Wagner dafür die Ufer des Rheins im Sinn. Denn »er wollte den ›Ring‹ dort aufführen, wo er spielt«, erklärt Friedrich. Bereits 1835 hatte Wagner auf der Durchfahrt auch Bayreuth kennen gelernt. Ende der 1860er Jahre rückte die Stadt im heutigen Oberfranken immer mehr in den Mittelpunkt der Festspielplanung. »Nürnberg in der Nähe – Deutschland um mich rum«, schrieb Wagner über die Stadt in einem Brief an einen Freund.
Im Jahr 1871 inspizierte er das bekannte Markgräfliche Opernhaus Bayreuths. Zwar war er wenig von dem prächtigen Hoftheater begeistert, das – obwohl eines der größten Barocktheater Europas – viel zu klein für seine Pläne war. Dennoch bestand Bayreuth die Prüfung unter dem Blick des »Meisters«. Dass die abgelegene Provinzstadt überdies im Königreich Bayern lag, dem Herrschaftsgebiet seines Gönners Ludwig II., spielte in seine Entscheidung hinein.
Der König unterstützte den von ihm als Gottgesandten verehrten Ausnahmekünstler gegen alle Widerstände. Die Pläne für ein großes, steinernes Theater an den Ufern der Isar in München nach den Plänen des bekannten Architekten Gottfried Semper (1803–1879) waren allerdings schon in den 1860er Jahren wieder fallen gelassen worden. Zu groß war die Differenz zwischen der Bretterbude, wie ein zeitgenössischer Journalist die wagnerianischen Festspielhauspläne nannte, und dem königlichen monumentalen Festtheater, einem »großen Heiligtum der Kunst«, von dem Ludwig II. träumte.
Ein schlichter Bau in Bayreuth
Wagner lag nicht viel an künstlerisch gestalteter Architektur. Vielleicht ein Grund, warum das Festspielhaus von Weitem aussieht wie eine große Scheune. Unverputzter roter Backstein, weiße Andreaskreuze. Die äußerliche Schlichtheit des Gebäudes lag ganz im Sinne des Komponisten. Bei Gesprächen zur Planung soll er 1865 verärgert erklärt haben: »Was geht mich alle Baukunst der Welt an?«
»Krause Schnörkel und Zierraten« lehnte er ab, schreibt Markus Kiesel in seinem Standardwerk über die Geschichte des Festspielhauses. Diese Haltung mag auch aus der Geldnot geboren sein, die Wagner sein Leben plagte. Doch »für den Zuschauerraum suchte er optimale optische wie akustische Bedingungen«, erklärt Kiesel. Für den Komponisten konnte nur so das Publikum mit dem Geschehen auf der Bühne verschmelzen.
An seinem 59. Geburtstag, am 22. Mai 1872, feierte Richard Wagner im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth die Grundsteinlegung, im August des folgenden Jahres das Richtfest. Doch es sollte noch weitere drei Jahre dauern, bis die Uraufführung des kompletten »Ring des Nibelungen« in seinem Festspielhaus auf dem Grünen Hügel etwas außerhalb der Stadt stattfinden konnte.
In seinem Vorwort zur Erstveröffentlichung des Textes beschreibt er die »künstlerische Zweckmäßigkeit des Inneren« des zu planenden Theaters. Wenn man sich heute als Besucher durch die schmalen Sitzreihen zwängt, versteht man seine Worte. Die Sitze, auf denen man die vielen Stunden einer Aufführung verbringt, sind noch kleiner als jene, die Wagner vorgesehen hatte. Statt der heute rund 1950 Sitze waren es damals weniger als 1350 Klappstühle. Beide gehören allerdings zur Holzklasse, einst mit luftigem Wiener Geflecht, heute mit unscheinbarer Polsterung so dünn wie ein Kaschmirpullover.
Der freie Blick auf die tiefe Bühne ist hingegen einmalig. Die sechs Scherwände, die seitlich in den Raum ragen, leiten die Augen des Zuschauers auf die Inszenierung, genau wie es Wagner vorschwebte. Es gibt keine Seitenlogen, keinen Mittelgang, kein Entkommen.
»Es ist ein reiner Zweckbau«, erklärt Museumsdirektor Friedrich. Im Inneren bieten nur die Scherwände mit ihren korinthischen Säulen ein paar Schmuckelemente. Es gibt kein großes Foyer, keine Wandelhalle, kein Vestibül. Doch so unspektakulär der Eingangsbereich und die Bestuhlung sein mag, der Raum, die Sicht und die Akustik sind beeindruckend. Auch Friedrich betont das: »Es kommt auf den Kern, die Aufführungen, an. Das macht die Aura aus. Es ist dieses Gefühl an etwas ganz Unitärem, etwas ganz Besonderem teilzuhaben«.
Von »Pinguinen« und Gartenzwergen
Dieses Unitäre hat auch das Elitäre gefördert. Viele Wagnerianer, Verehrer der Musik und oft auch der Person des Komponisten, pilgern jährlich auf ihren »Sacro Monte«, ihren heiligen Berg, den Grünen Hügel Bayreuths. Darauf thront das Festspielhaus, eine Scheune wie der Stall zu Bethlehem – so mutet es jedenfalls an. Die »Pinguine«, wie die Opernbesucher im Frack humorvoll in Franken genannt werden, ziehen dabei vorbei an hüfthohen Wagner-Gartenzwergen. Mit Fanfaren wie von den Posaunen der Offenbarung werden sie vor dem Beginn jeder Vorführung ermahnt und ins Allerheiligste gerufen. Es sind diese Traditionen, die neben dem Musikgenuss das sechswöchige Opernspektakel ausmachen.
Über Wagners ideologische Standpunkte streitet die Nachwelt bis heute. Seine Deutschtümelei, sein mythischer Germanenkult, vor allem aber die von ihm verfasste antisemitische Hetzschrift »Das Judenthum in der Musik« ergaben für die späteren Nationalsozialisten eine perfekte Anschlussfähigkeit. Schon 1923 besuchte Hitler den Grünen Hügel. Zehn Jahre später wehte über Bayreuth das Hakenkreuz. Das Festspielhaus sollte »Hitlers Hoftheater« werden, »Onkel Wolf«, wie die Nachkommen Wagners damals Hitler nannten, ging in der Familienvilla ein und aus.
Jenes Haus Wahnfried, wo Wagners »Wähnen Frieden fand«, wurde durch einen Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. »Auf höchst symbolträchtige Weise«, erklärt Friedrich, sei damit »ein Teil des geistigen Sprengstoffs, der auch von hier seinen Ausgang genommen hat, auf seinen Ursprungsort zurückgefallen«.
Ein Orchester in T-Shirts und kurzen Hosen
Das Festspielhaus blieb von Zerstörungen verschont. So lässt sich heute noch der Zuschauerraum betrachten, der nach Wagner einem antiken Theater ähneln sollte. Das Orchester sollte nicht zu sehen sein. Deshalb versenkte Wagner es in einem »mystischen Abgrund«, der heute noch so bezeichnet wird. Dort musizieren je nach Aufführung auf nur 140 Quadratmetern bis zu 124 Musiker. Die Universität Bayreuth soll hier einmal Temperaturen von bis zu 34 Grad Celsius gemessen haben. Wegen der Hitze gilt für die Musiker kein Dresscode, viele spielen in T-Shirts und kurzen Hosen.
»Er war ein scheußlicher Mensch, der himmlische Musik geschrieben hat«Jonathan Livny vom israelischen Richard-Wagner-Verband zitiert seinen Vater
Obwohl auch oberhalb des Grabens kein Dresscode mehr besteht, tragen die Besucherinnen und Besucher überwiegend festliche Kleidung. Die »Wagnerianer« schätzen keine Abweichungen von der Tradition und achten sehr genau auf Veränderungen im Spielablauf. Bei der Aufführung des so genannten Jahrhundertrings 1976, als sich die Festspiele zum 100. Mal jährten, kam es zu »regelrechten Saalschlachten«, wie der Wagnerkenner Oswald Georg Bauer in seinem Buch über »Die Geschichte der Bayreuther Festspiele« schreibt. Der junge französische Regisseur Patrice Chéreau (1944–2013), der vielen als Linksradikaler galt, inszenierte die mythische Szenerie des wagnerianischen »Rings« als industriellen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts.
Wie der »Ring« von Chéreau polarisierte auch die Neuinszenierung von 2022 des österreichischen Regisseurs Valentin Schwarz. Die Emotionen kochen rings herum hoch. Die Bravo- und Buhrufer versuchen sich gegenseitig zu übertönen. Man sitzt dazwischen, in diesem großen hölzernen Resonanzkasten, der Schweiß rinnt herunter, es gibt keine Klimaanlage, nur eine einfache Belüftung. Die Luft schmeckt verbraucht, Gerüche von altem Holz, Lederschuhen und Parfüms vermischen sich. Es scheint, als ob die Anhänger für ihren »Meister« bereitwillig Buße tun.
Sobald sich der Vorhang senkt, der Applaus und die Buhrufe verebben, das Licht wieder angeht, richten manche ihre Blicke dankend nach oben. Über ihnen breitet sich ein gigantisches Sonnensegel aus. Die gemalte optische Täuschung ist eine Referenz Wagners an das griechische Theater, das ihm als Vorbild diente.
Himmlische Musik eines scheußlichen Menschen
Im Festspielhaus denkt wohl kaum ein Besucher beim Musikgenuss an die antisemitische Geisteshaltung des Komponisten. In der Fernsehdokumentation »Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt« erinnert sich der Vorsitzende des israelischen Richard-Wagner-Verbands, Jonathan Livny, an seinen Vater, der 1935 vor dem Naziterror nach Israel geflohen war. Auf die Frage, wer Wagner gewesen sei, habe jener geantwortet: »Er war ein scheußlicher Mensch, der himmlische Musik geschrieben hat.«
Wagner war kein Nazi. Ihn traf – frei nach Helmut Kohl – die »Gnade« der frühen Geburt. Seine Familie verstrickte sich aber heftig mit den neuen Machthabern. Dieses braune Erbe wollte man nach 1945 schnell abstreifen. Als die Festspiele 1951 erstmals wieder möglich wurden, machten Aushänge im Festspielhaus darauf aufmerksam, dass politische Debatten bitte unterbleiben sollten, denn »hier gilt's der Kunst«.
Wer jedoch während der Festspiele über den Grünen Hügel schlendert, merkt davon wenig. Es beschleicht einen eher das Gefühl, auf einer Edelversion des Metalfestivals Wacken Open Air zu sein. Auf dem Parkplatz stehen Porsche neben Tesla und man trinkt den mitgebrachten Champagner vor dem offenen Kofferraum. Am Kneipp-Becken etwas oberhalb des Festspielhauses werden die Röcke gehoben und die Beinkleider hochgekrempelt, die Abendgarderobe über das Geländer gehängt.
Der Leichenzug ging von Venedig nach Bayreuth
Richard Wagner starb am 13. Februar 1883 im Urlaub in Venedig. Der Rücktransport seines Leichnams glich einem Spektakel. In München musste der Eisenbahnzug halten, damit Ludwig II. ihm die letzte Ehre erweisen konnte. Als der Zug wieder anfuhr, ertönte der Trauermarsch aus der »Götterdämmerung«. In Bayreuth bahnte sich die Leichenprozession vom Bahnhof den Weg zu Wagners ehemaligem Wohnhaus, der Villa Wahnfried. Dort, im Garten des heutigen Richard-Wagner-Museums, bedeckt eine unbeschriftete schwarze Marmorplatte das Grab und man weiß, »die Welt hat zu wissen, wer hier liegt«.
Wagner hinterließ kein Testament. Während er 1872 zur Grundsteinlegung seines Festspielhauses Beethovens 9. Sinfonie anstimmte, ertönte ein halbes Jahrhundert später bei den ersten Festspielen nach dem Ersten Weltkrieg das Deutschlandlied. Einen weiteren Weltkrieg später hörte man US-amerikanischen Jazz vor den Ruinen des Wahnfried, GIs tanzten auf der Grabplatte des »Meisters«.
Hinweis der Redaktion: Im Sommer 2022 bewies Stephan Kroener Sitzfleisch und besuchte für »Spektrum.de« die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth.
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