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Geruchssinn: Riechverlust als Warnsignal

Alzheimer, Parkinson, Depressionen: Bei vielen neurologischen und psychischen Erkrankungen leidet der Geruchssinn. Warum ist das so, und lässt sich das Phänomen diagnostisch nutzen?
Ältere Frau im Rollstuhl riecht an roten Blumen, zu denen sie ein Mann schiebt.
Tendenziell wird die Nase im Alter immer schlechter. Das ist ganz normal. Ein plötzlich einsetzender, starker Riechverlust kann jedoch Vorbote einer Hirnerkrankung sein. (Symbolbild)

Die Seniorinnen und Senioren waren im Schnitt weit über 70, geistig aber noch voll auf der Höhe. In unterschiedlichen Tests hatten sie die Leistungsfähigkeit ihrer grauen Zellen bewiesen, sich Listen von Wörtern gemerkt, Muster im Kopf gedreht, Rechenaufgaben gelöst und Geschichten nacherzählt. Das alles im Rahmen des Projekts »Rush Memory and Aging«. Ziel der epidemiologischen US-Studie ist es, Risikofaktoren für Demenz zu identifizieren. Die Teilnehmer stammen aus Seniorenheimen in der Region Chicago, Illinois, und durchlaufen jedes Jahr dieselben 21 Kognitionstests, begleitet von einer eindrucksvollen Batterie weiterer Untersuchungen. Darunter auch eine zu ihrem Riechsinn: Sie müssen in einem Heft Felder frei kratzen, die daraufhin unterschiedliche Gerüche absondern. In einer Liste kreuzen sie dann an, welcher Duft ihnen gerade um die Nase weht.

Seit seinem Start im Jahr 1997 wurden mehrere tausend Frauen und Männer in das Projekt aufgenommen. Rachel Pacyna, damals an der University of Chicago, hat 2022 einen Teil der gesammelten Daten ausgewertet und zusammen mit Kollegen und Kolleginnen die Ergebnisse von mehr als 500 Versuchspersonen analysiert. Diese waren alle in den ersten Jahren der Studie kognitiv unauffällig gewesen, hatten also keine Einbußen ihres Denkvermögens. Es zeigte sich ein interessanter Zusammenhang: Bei manchen von ihnen war der Geruchssinn innerhalb kurzer Zeit deutlich schlechter geworden. Solche Menschen trugen ein fast doppelt so hohes Risiko, in den Jahren danach geistig abzubauen oder gar dement zu werden.

Das Ergebnis steht nicht allein. Eine ganze Reihe von Studien zeigt inzwischen, dass sich ein nahender kognitiver Abbau häufig an der Nase ablesen lässt. Nicht nur das – auch andere neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson oder Chorea Huntington kündigen sich mit einem veränderten Riechvermögen an. Das beginnt oft lange vor den eigentlichen Symptomen. Parkinson etwa geht mit charakteristischen Bewegungsproblemen wie steifen Muskeln und zitternden Händen einher. »Bei den Betroffenen zeigen sich aber häufig schon 10 bis 20 Jahre vorher unerklärliche Einbußen der Geruchswahrnehmung«, erklärt der Dresdner Geruchsforscher Thomas Hummel.

Der Medizinprofessor leitet am Universitätsklinikum der sächsischen Landeshauptstadt das Interdisziplinäre Zentrum für Riechen und Schmecken. Die Eigenheiten der menschlichen Nase beschäftigen ihn bereits seit mehr als 30 Jahren; in Deutschland gilt er auf diesem Gebiet als einer der führenden Experten. Eine Frage kann aber auch er nicht beantworten: warum manche Erkrankungen des Nervensystems so frühzeitig auf unser Riechorgan schlagen. »Das ist bis heute nicht ganz klar«, sagt er. »Vielleicht liegt es daran, dass am Riechen so viele verschiedene Hirnstrukturen beteiligt sind. Möglicherweise ist der Geruchssinn für Schädigungen daher besonders empfindlich.«

»Bei den Betroffenen zeigen sich häufig schon 10 bis 20 Jahre vorher unerklärliche Einbußen der Geruchswahrnehmung«Thomas Hummel, Mediziner

Der erste Schritt der Geruchswahrnehmung findet in der Riechschleimhaut statt. Sie kleidet den oberen Bereich der Nasenhöhle aus und enthält mehrere Millionen Rezeptorzellen, die eigentlichen »Geruchssensoren«. Wenn sie mit einem Duftstoff in Kontakt kommen, erzeugen sie ein elektrisches Signal. Der Knochen ist oberhalb der Riechschleimhaut von winzigen Kabelkanälen »durchlöchert«, durch die die Informationen ins Gehirn gelangen können. Der Knochen wird daher auch als Siebbein bezeichnet. Die Nervenfortsätze der Rezeptorzellen durchqueren die Kanäle und münden dann in eine Struktur, die sich auf der anderen Seite an den Schädelknochen anschmiegt: den Riechkolben, fachsprachlich Bulbus olfactorius (siehe »Das Riechhirn«).

Hier findet eine erste Verarbeitung der olfaktorischen Signale statt. Zusätzlich dient der Riechkolben als eine Art Verteiler: Ihm entspringen zahlreiche weitere Nervenbahnen, die die Information in verschiedene Zentren des Gehirns leiten. Darunter ist auch das so genannte limbische System, das vor allem der Verarbeitung von Gefühlen dient. Es ist vermutlich kein Wunder, dass uns der Duft von Pinienharz mit glücklicher Vorfreude auf den Sommer erfüllt, während es uns beim Gestank verrotteter Eier vor Ekel schüttelt. Beim Riechen arbeiten demnach eine ganze Reihe von Strukturen Hand in Hand. Sobald eine von ihnen geschädigt wird, sorgt das für spezifische Defizite.

Das Riechhirn | Mit der Atemluft steigen Duftmoleküle in die Nase, die von Rezeptorzellen in der Nasenhöhle registriert werden. Deren Signale gelangen zum Riechkolben, der wiederum tiefer liegende Hirnregionen aktiviert. Diese bezeichnet man als primäre Riechrinde, zu der der piriforme Kortex zählt. Ebenfalls beteiligt sind sekundäre Riechareale wie der orbitofrontale Kortex und Teile des limbischen Systems. Dort werden die Geruchsinformationen genauer analysiert, erkannt und interpretiert.

So verliert etwa die Riechschleimhaut mit den Jahren an Leistungsfähigkeit. Daher wird die Nase bei fast allen Menschen im Alter schlechter. Studien zufolge sind zehn Prozent aller 65-Jährigen davon betroffen. Bei Personen über 80 liegt die Quote sogar bei 80 Prozent. Oft sind die Einbußen nur leicht, so dass die Betroffenen sie gar nicht bemerken. Sie können aber auch bis zum kompletten Verlust des Geruchssinns reichen. »Die Riechschleimhaut erneuert sich normalerweise alle 30 Tage«, erklärt Olga Garaschuk, die an der Eberhard Karls Universität Tübingen den Lehrstuhl für Neurophysiologie bekleidet. »Im Alter lässt das Regenerationsvermögen jedoch nach, es werden weniger neue Sinneszellen geboren.«

Der Verlust der Geruchssensoren führt dazu, dass die Nase unempfindlicher wird: Sie nimmt Düfte nur noch wahr, wenn diese sehr intensiv sind. Werden wir älter, erhöht sich also vor allem unsere Riechschwelle. Bei Parkinson oder Alzheimer ist das anders – hier kommt es zu weiteren Ausfällen. Die Patientinnen und Patienten können zum Beispiel verschiedene Gerüche schlechter auseinanderhalten. Oder sie haben Schwierigkeiten, den Duft einer Rose zu benennen. Solche Fähigkeiten sind deutlich komplexer. Sie erfordern unter anderem, dass das Arbeitsgedächtnis gut funktioniert und die Regionen für die Sprachverarbeitung intakt sind.

Volumenverlust in der grauen Hirnsubstanz

Die typischen Riechdefizite bei Parkinson oder Alzheimer deuten folglich auf eine Beeinträchtigung höherer Gehirnfunktionen hin – und zwar wohl sehr frühzeitig. Dazu passen auch Ergebnisse der eingangs erwähnten »Rush Memory and Aging«-Studie. Jene Versuchspersonen, bei denen sich der Geruchssinn stark verschlechtert hatte, untersuchte man ein Jahr später im MRT-Scanner. Dabei zeigten sich Volumenverringerungen in der grauen Hirnsubstanz. Allerdings nur in den Regionen, in denen Geruchsreize verarbeitet werden, sowie in solchen, die für bestimmte kognitive Leistungen wichtig sind.

Doch warum scheinen gerade dort zu Beginn einer neurodegenerativen Erkrankung so viele Nervenzellen verloren zu gehen? Hier sind sich die Fachleute uneins. Eine These lautet, dass sich in diesen Regionen aus irgendwelchen Gründen bevorzugt toxische Eiweißmoleküle ansammeln. Parkinson, Alzheimer oder Chorea Huntington haben gemeinsam, dass bei ihnen bestimmte Proteine nicht die korrekte räumliche Struktur annehmen. Dadurch werden sie unter anderem nicht mehr ausreichend abgebaut. In der Folge können Neurone absterben.

So finden sich in den Nervenzellen von Parkinsonpatienten charakteristische Verklumpungen des Proteins Alpha-Synuclein. Sie werden Lewy-Körperchen genannt und tauchen zuerst im Riechkolben und im daran angrenzenden anterioren olfaktorischen Nukleus (AON) auf. Dort lassen sie sich bereits nachweisen, wenn noch keine motorischen Symptome auftreten. Später erscheinen sie dann auch in Gebieten, die Gerüche weiterverarbeiten.

Umweltgifte als mögliche Auslöser

Manche Forscher und Forscherinnen vermuten, dass eingeatmete Umweltgifte oder Viren für die Bildung der Lewy-Körperchen verantwortlich sein könnten. Möglicherweise gelangen die schädlichen Umweltfaktoren durch das Siebbein in den Riechkolben. Von dort verbreiten sie sich über die geruchsverarbeitenden Regionen in verschiedene Hirnbereiche. Der Kontakt zu den eingeatmeten Toxinen oder Krankheitserregern könnte die Nervenzellen wiederum dazu veranlassen, falsch gefaltete Proteine zu produzieren.

Diese Theorie ist als »Vektorhypothese« bekannt. Ihr zufolge ist die Nase Einfallstor für Toxine und Pathogene. Sie wird so zum Ausgangspunkt für Parkinson sowie eventuell auch andere neurodegenerative Erkrankungen. »Allerdings ist der auslösende Faktor nicht bekannt«, betont der Riechforscher Thomas Hummel. Es gibt jedoch Chemikalien, die – wenn man sie Nagern in die Nase sprüht – zunächst Riechstörungen auslösen und dann Symptome, die denen der Parkinsonkrankheit ähneln. Nachgewiesen wurden solche Effekte etwa für eine Substanz namens MPTP. Ihre Struktur ähnelt der eines Pflanzenschutzmittels, das heute noch in manchen Ländern zum Einsatz kommt.

Auch bei der Alzheimererkrankung sind bestimmte Proteine fehlgefaltet. Sie tauchen ebenfalls früh in Hirnbereichen auf, die Riechreize verarbeiten. Die Tübinger Neurophysiologin Olga Garaschuk bezweifelt allerdings, dass diese Regionen bei den Betroffenen als Erstes Schaden nehmen. »Noch viel früher erkranken bei Alzheimer solche Areale im Gehirn, die für die Bildung von Neuromodulatoren zuständig sind«, sagt sie. Dabei handelt es sich um chemische Substanzen, über die Nervenzellen miteinander kommunizieren – beispielsweise Azetylcholin, Noradrenalin oder Dopamin.

»Diese Moleküle gelangen unter anderem in den Riechkolben und beeinflussen dort ganz massiv die Verarbeitung von Gerüchen«, sagt Garaschuk. »Werden sie nicht in ausreichender Menge produziert, sind Defizite in der Geruchswahrnehmung die Folge.« Tatsächlich klagen Patientinnen und Patienten typischerweise über umso deutlichere Riechstörungen, je stärker ihre neuromodulatorischen Schaltkreise geschädigt sind. Für Parkinson gibt es ähnliche Befunde. Auch dort ist die Bildung der Neuromodulatoren frühzeitig gestört. Manche Wissenschaftler wie der Geruchsforscher Richard Doty von der University of Pennsylvannia sehen daher die eigentliche Ursache des Riechverlustes in einem Ungleichgewicht dieser Botenstoffe.

Depressive haben eine traurige Nase

Interessanterweise schlagen Depression, Schizophrenie oder Angststörungen ebenfalls auf den Geruchssinn. So hat die Düsseldorfer Psychologin Bettina Pause schon vor mehr als 20 Jahren gezeigt: Depressive nehmen Duftstoffe erst bei höheren Intensitäten wahr. Nach erfolgreicher medikamentöser Behandlung des psychischen Leidens nimmt ihr Riechvermögen wieder zu. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass gesunde Menschen in einer gedrückten Stimmung olfaktorische Reize langsamer und weniger intensiv verarbeiten, wie Thomas Hummel und sein Team 2017 zeigten. Möglicherweise dämpfen Traurigkeit und andere negative Gefühle also den Geruchssinn.

Eventuell ist es aber auch gerade umgekehrt, und eine gestörte Geruchswahrnehmung macht depressiv. Ein Grund dafür könnte die bereits erwähnte enge Verbindung zwischen Riechkolben und limbischem System sein. Der Bulbus olfactorius hat eine direkte Standleitung in die hierzu gehörende Amygdala, die an der Entstehung von Angst- oder Trauergefühlen beteiligt ist. Der Riechkolben scheint die negativen Emotionen in Schach zu halten. Wenn man ihn bei Ratten entfernt, entwickeln die Nager depressive Symptome, die sich durch die dauerhafte Gabe von Antidepressiva mindern lassen. Eventuell führen Fehlfunktionen des Riechkolbens auch bei uns Menschen zu einer Depression.

Doch diese These ist umstritten. So deutet eine kürzlich erschienene Hirnscannerstudie aus Thomas Hummels Arbeitsgruppe in eine ganz andere Richtung: Demnach war bei Versuchspersonen mit einer schweren Depression der Bulbus weder verkleinert noch inaktiver als bei Gesunden. Allerdings fanden die Fachleute andere Hirnregionen, die sich beim Riechen ungewöhnlich stark zurückhielten – nämlich solche, die für die Aufmerksamkeit sowie das bewusste Wahrnehmen und Bewerten von Gerüchen zuständig sind. Derartige kognitive Prozesse finden erst relativ spät bei der Verarbeitung olfaktorischer Eindrücke statt. Womöglich sind sie bei Depressiven gestört. Das könnte auch erklären, warum ihre Riechschwelle oft erhöht ist – die Geruchseindrücke gelangen einfach nicht ausreichend in ihr Bewusstsein.

Geruchstraining als Therapie?

Vielleicht eröffnet die enge Verbindung zwischen Riechkolben und Amygdala neue therapeutische Möglichkeiten. So hoffen manche Medizinerinnen und Mediziner, Depressionen durch gezieltes »Riechtraining« abmildern zu können. »Ein Duftreiz aktiviert immer auch die Emotionsverarbeitung, und das kann möglicherweise zu einer positiveren Stimmung führen«, erklärt Thomas Hummel. »In schweren Fällen ist dieser Ansatz wenig sinnvoll, da die Effekte vermutlich zu gering sind. Bei milden depressiven Symptomen kann eine Duftexposition aber vermutlich durchaus stimmungsaufhellend wirken.« Tatsächlich hat sich gezeigt, dass Gerüche Ängste mildern und Sorgen vertreiben können. Eine erste Studie mit depressiven Patienten und Patientinnen verlief aber ernüchternd: Den Betroffenen ging es nach der Behandlung nicht besser als der Kontrollgruppe.

»Bei milden depressiven Symptomen kann eine Duftexposition vermutlich durchaus stimmungsaufhellend wirken«Thomas Hummel, Mediziner

Es ist noch viel Forschungsarbeit nötig, bis man genau weiß, wie Geruchsvermögen und Depression zusammenhängen. Dasselbe gilt für Autismus. Auch hier ist der Riechsinn bei vielen Betroffenen beeinträchtigt – ihre Empfindlichkeit allerdings weniger als die Fähigkeit, Düfte zu identifizieren. Eine Forschergruppe um Noam Sobel vom Weizmann Institute of Science in Israel konnte zudem vor einigen Jahren zeigen, dass Kinder mit Autismus anders schnuppern als gesunde Gleichaltrige. Während Letztere angenehme Gerüche stärker inhalierten als unangenehme, war es den Autisten egal, ob ihnen Rosenduft oder der Gestank saurer Milch vor die Nase gesetzt wurde: Sie schnüffelten stets gleich stark. »Menschen mit Autismus riechen tendenziell stärker analytisch und weniger holistisch«, sagt Thomas Hummel. »Sie zerlegen Gerüche also eher in ihre Bestandteile, auch die unangenehmen.«

Gerüche leiten unser Verhalten: Saure Milch erfüllt uns mit Ekel, und wir schütten sie weg. Normalerweise erfolgt unsere emotionale Reaktion (»iiih, widerlich«) sehr rasch und quasi automatisch. Bei Menschen im Autismus-Spektrum ist das eventuell anders. Sie nehmen Gerüche zwar genauso gut wahr wie neurotypische Personen, es fällt ihnen aber vermutlich schwer, eine angemessene intuitive Antwort auf olfaktorische Informationen zu geben. Das zeigt etwa ein Experiment von Noam Sobel und seinen Kollegen. Versuchspersonen waren Männer mit und ohne Autismus-Symptomen. Sie sollten mit der Computermaus ein Symbol anklicken, das entweder auf der rechten oder auf der linken Seite des Bildschirms erschien. Zuvor erhielten sie einen Tipp, wo dieses Symbol auftauchen würde. Tippgeber waren zwei Schaufensterpuppen, die jeweils eine Sprachaufnahme abspielten, sobald sich die jeweilige Testperson näherte.

Eine der beiden sonderte zugleich Angstschweiß ab, den die Wissenschaftler zuvor Fallschirmspringern abgenommen hatten. Die andere verströmte Schweiß, der beim Sport aufgefangen worden war. Männer ohne autistische Züge vertrauten der sportlichen Puppe deutlich mehr als der ängstlichen. Sie bewegten die Maus schon vor dem eigentlichen Test auf die Seite des Schirms, die der künstliche Tippgeber genannt hatte. Stammte der Hinweis von der ängstlichen Puppe, ignorierten sie ihn dagegen meist. Das spezielle Bukett des Angstschweißes schien sie unbewusst zu warnen: Vorsicht, hier ist etwas im Busch.

Das Verhalten der Freiwilligen mit Autismus veränderte sich dagegen durch den Geruch nicht. Dabei nehmen sie laut einem Vorversuch Schweißgeruch ähnlich gut wahr und können auch erkennen, dass er von Menschen stammt, die sich fürchteten. Eventuell ist bei Autisten also ausschließlich die automatische, unbewusste Reaktion auf Duftstoffe beeinträchtigt – und zwar insbesondere auf solche, die unser Sozialverhalten beeinflussen.

Wolfgang Kelsch, Professor für Systemische Neurowissenschaften an der Mainzer Universitätsmedizin, vermutet, dass die Verdrahtung der Nervenzellen in den Riechzentren von Autisten verändert ist. »Wir kennen inzwischen eine Reihe von Kandidaten-Genen, die wahrscheinlich zu Autismus beitragen«, sagt er. »Viele von ihnen haben einen Einfluss auf die Funktion der Netzwerke, die soziale Informationen verarbeiten – etwa, indem sie die Gewichtung der Synapsen verändern.« Das führe in letzter Konsequenz dazu, dass die Betroffenen soziale Situationen anders beurteilen und ihre autonome, unbewusste Reaktion anders ausfällt als bei Nichtautisten. »Allerdings ist Autismus eine sehr heterogene Störung, und nicht alle Betroffenen zeigen dieselben Symptome.« Auch hier befindet sich die Forschung noch am Anfang.

Große individuelle Unterschiede

Einig sind sich Experten in einem Punkt: Eine unempfindliche Nase ist nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht. Wer Gerüche nicht so gut wahrnehme wie seine Mitmenschen, müsse darüber nicht in Panik verfallen, beruhigt Markus Rothermel. »Es gibt große individuelle Unterschiede im Riechvermögen, die zum Teil genetisch bedingt sind«, sagt der Professor für Physiologie und Riechforscher an der Universität Magdeburg. »Ich selbst habe beispielsweise keine besonders empfindliche Nase; das war schon immer so. Das kann auch Vorteile haben. Es gibt zum Beispiel Menschen, die Schweißgeruch schlechter wahrnehmen können. Ich glaube nicht, dass die besonders darunter leiden.« Zudem kann die Geruchswahrnehmung schwanken. Nach Atemwegsinfekten oder einer Covid-Erkrankung sind stärkere Einbußen ganz normal und verschwinden in der Regel nach einiger Zeit wieder.

»Autisten zerlegen Gerüche eher in ihre Bestandteile, auch die unangenehmen«Thomas Hummel, Mediziner

Einen unerklärlichen, starken und langfristigen Riechverlust sollte man jedoch abklären lassen. »Selbst dieses Symptom ist aber sehr unspezifisch«, betont Rothermel. »Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass man zum Beispiel an Alzheimer oder Parkinson erkranken wird.« Es kann jedoch ein erster Hinweis darauf sein, dass etwas nicht in Ordnung ist. Was genau, müssen dann weitere Tests zeigen. »Wenn sich dann der Verdacht erhärtet, kann man versuchen, präventiv einzugreifen«, erklärt Olga Garaschuk. Allerdings gebe es bei neurodegenerativen Erkrankungen momentan so gut wie keine Ansätze, die wirklich helfen. »Bei Alzheimer setzen wir große Hoffnungen in einen neuen Antikörper, der jedoch in Deutschland noch gar nicht zugelassen ist. Und auch der hilft wohl nicht allen Betroffenen gleichermaßen – bei der Wirkung scheint es Geschlechtsunterschiede zu geben, die aber noch besser erforscht werden müssen.«

Zumindest für die Alzheimerdemenz empfiehlt sie, mit der Prävention noch sehr viel früher zu beginnen – sogar bevor die ersten Riechdefizite auftreten. »Die Formel ist einfach: viel Sport treiben und weniger essen«, sagt sie. »Das hilft gegen alle Alterserscheinungen.« Zudem sei es wichtig, die Nervenzellen zu trainieren, denn so schaffe man eine kognitive Reserve, die Ausfälle ein Stück weit kompensieren könne. »Gehen Sie unter Leute, spielen Sie Sudoku, tragen Sie ein Hörgerät, wenn Sie schlechter hören. All das hilft Ihnen dabei, länger geistig fit zu bleiben.«

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  • Quellen

Doty, R.: Olfactory dysfunction in neurodegenerative diseases: Is there a common pathological substrate? The Lancet Neurology 16, 2017

Endevelt-Shapira, Y. et al.: Altered responses to social chemosignals in autism spectrum disorder. Nature Neuroscience 21, 2018

Marin, C. et al.: Olfactory dysfunction in neurodegenerative diseases. Current Allergy and Asthma Report 18, 2018

Pause, B. et al.: Reduced olfactory performance in patients with major depression. Journal of Psychiatric Research 35, 2001

Tonacci, A. et al.: Olfaction in autism spectrum disorders: A systematic review. Child Neuropsychology, 23, 2017

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