Riesensterne: Was ist los mit Beteigeuze?
Beteigeuze (oder Alpha Orionis) ist seit einem deutlichen Helligkeitseinbruch in den Jahren 2019 und 2020 nicht zur Ruhe gekommen. Der Stern, einer der hellsten des Himmels, ist als Veränderlicher bekannt: Seine mehr oder weniger stabile Periode dauert normalerweise 400 Tage; in dieser Zeit variiert seine Helligkeit um eine halbe Größenklasse. Zur Zeit der Großen Verdunklung fiel Beteigeuzes scheinbare Helligkeit um eine ganze Größenklasse, was Spekulationen über eine bevorstehende Supernova nährte (siehe SuW 3/2020, S. 24, und SuW 9/2023, S. 14). Zwar leuchtet der Stern mittlerweile wieder mit alter Stärke, doch seine Helligkeit schwankt nun doppelt so schnell wie vorher, mit 200 Tagen Periodendauer.
»Nach der Großen Verdunklung hat Beteigeuze seine Variabilität erheblich verändert«, bestätigt Pierre Kervella vom Observatoire de Paris (siehe »Gut dokumentierter Verlauf«). »Seine Oberfläche ist sehr wahrscheinlich unruhiger, als sie es um 2015 war.« Das erschwert es, ein weiteres Rätsel um Beteigeuze zu lösen, nämlich das seiner Rotation.
Vor rund zehn Jahren hatte Kervella zusammen mit einem internationalen Team das damals noch taufrische Radiointerferometer ALMA auf Beteigeuze gerichtet und eine Entdeckung gemacht, die ihnen bis heute Kopfzerbrechen bereitet: Der Stern rotiert an seinem Äquator mit bis zu 6,5 Kilometern pro Sekunde, was trotz seiner enormen Größe einer Periode von höchstens 40 Jahren entspricht. Das ist nahezu zwei Größenordnungen schneller, als man erwartet hatte. Riesensterne sollten beim Aufblähen durch Drehimpulserhaltung, Sternwinde und magnetisches Bremsen Rotationsgeschwindigkeit verlieren und sich am Äquator mit höchstens 0,1 Kilometern pro Sekunde drehen (siehe SuW 12/2023, S. 20). In zwei Anfang 2024 veröffentlichten Arbeiten wird das überraschende ALMA-Resultat nun auf ganz unterschiedliche Weisen erklärt.
Schwung durch Begleitstern
Die erste Arbeit stammt von der Gruppe um Sagiv Shiber von der Louisiana State University in den USA und wurde in der Zeitschrift »The Astrophysical Journal« veröffentlicht. Die Forschenden gehen davon aus, dass Beteigeuze durch das Verschmelzen mit einem kleineren Begleitstern Schwung aufgenommen hat. Die Wissenschaftler schließen das aus Computersimulationen, in denen sie einen Riesenstern von 16 Sonnenmassen mit einem Hauptreihenstern von 4 Sonnenmassen kollidieren ließen. Sobald der Hauptreihenstern mit der expandierenden Hülle des Riesensterns in Kontakt tritt, verliert er Bahnenergie durch Reibung und stürzt tiefer in seinen Begleiter, bis er schließlich – in der Simulation 340 Tage nach dem erstmaligen Kontakt – mit dessen Heliumkern zusammenstößt. In einem solchen Szenario könnte laut den Forschern die Rotationsgeschwindigkeit des Überriesen beschleunigt werden.
Doch was, wenn Kervella und sein Team mit ALMA etwas ganz anderes gemessen haben als die Sternrotation? Diese Idee bringt eine Gruppe um Jing-Ze Ma vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching in einem in den »The Astrophysical Journal Letters« veröffentlichten Aufsatz ins Gespräch.
Gemessene Rotation
Bei Beteigeuze kann die Rotationsgeschwindigkeit direkt gemessen werden: Dank seiner Distanz von 550 bis 700 Lichtjahren – die genaue Entfernung ist eine weitere Unbekannte – erscheint der Riesenstern am Erdhimmel als rund 40 Millibogensekunden großes Sternscheibchen. Mit ALMA erreichten Kervella und sein Team bei der verwendeten Frequenz von 350 Gigahertz eine Winkelauflösung von 18 Millibogensekunden, was etwa der Hälfte der Sternscheibe entspricht. Sie konnten Beteigeuze also aufgelöst darstellen.
Die Astronomen konzentrierten ihre Beobachtungen auf eine bestimmte Emissionslinie von Siliziummonoxid (SiO) und identifizierten Zonen auf der Sternscheibe, in denen die Linie blau- beziehungsweise rotverschoben ist und die sich damit auf den Beobachter zu oder von ihm weg bewegen. Dabei fiel auf, dass die gesamte nordwestliche Hälfte des Sterns blauverschoben und die südöstliche rotverschoben war – die klassische Signatur einer Rotation, wie die Forscher schlossen. Das Resultat stimmte mit früheren Beobachtungen des Weltraumteleskops Hubble überein, die eine ähnliche Rotation andeuteten, allerdings im Ultravioletten: Die energiereichere UV-Strahlung wird von heißerem Sternmaterial ausgesendet und stammt damit aus tieferen Sternschichten als denjenigen, die mit ALMA beobachtet werden.
Raum zur Interpretation
Doch nicht nur Rotation, auch das Auf und Ab von Konvektionszellen in der Photosphäre – der scheinbaren Sternoberfläche – erzeugt Blau- und Rotverschiebung (siehe »Auf drei Arten zum Dipolfeld«). In den Zellen treibt heißes Plasma aus dem Sterninneren an die Oberfläche, wo es Energie an den Weltraum abstrahlt, abkühlt und anschließend wieder in die Tiefen des Sterns versinkt. Auf der Sonne erreichen die Zellen in der Photosphäre einige tausend Kilometer Größe und existieren wenige Minuten. Bei Sternen wie Beteigeuze können einzelne Zellen einen großen Teil der Hemisphäre des Sterns ausmachen und viele Monate oder sogar Jahre überleben.
Die Große Verdunklung wurde sehr wahrscheinlich von einer besonders großen Konvektionszelle ausgelöst: Sie war so energiereich, dass sie sich von der Oberfläche des Sterns löste und Milliarden Tonnen Sternmaterial in das umliegende All katapultierte. Das Material kühlte ab, kondensierte zu Staubkörnchen und verdeckte einige Monate lang die südliche Hemisphäre des Sterns. Unterstützung erhält diese Hypothese durch hochaufgelöste Aufnahmen des Interferometers des Very Large Telescope, die eine Verdunklung der südlichen Sternhälfte anzeigten.
Konvektion statt Rotation?
Wenn große Konvektionszellen den ganzen Stern verdunkeln, können sie dann auch die ALMA-Messungen der Radialgeschwindigkeit in die Irre führen? Ma und seine Kollegen überprüften dies, indem sie 3-D-Simulationen von Konvektionsmustern künstlich verschmierten, um das Beobachten dieser Muster bei niedrigerer Auflösung mit ALMA zu simulieren. Ihre synthetisch am Computer generierten Karten der Radialgeschwindigkeit – nichtrotierender Sterne, wohlgemerkt – zeigen tatsächlich in 90 Prozent der Fälle Dipolmuster, die sich nicht ohne Weiteres von Rotationsmustern unterscheiden lassen (siehe »Verwechslungsgefahr«). Das gilt zumindest für die Winkelauflösung von 18 Millibogensekunden, die von Kervella und seinem Team verwendet wurde. Eine um den Faktor zwei höhere Winkelauflösung wäre für ein Unterscheiden der beiden Effekte notwendig.
Verwechslungsgefahr
Kann die Konvektion eines nichtrotierenden Sterns eine schnelle Rotation vortäuschen? Die Modellrechnungen legen das nahe. In der linken Spalte ist das simulierte Bild eines konvektiven, nichtrotierenden Sterns dargestellt (a). Die daraus abgeleitete Radialgeschwindigkeitskarte (d) zeigt blau- und rotverschobene Zonen, ausgelöst durch Konvektionszellen, die sich auf den Beobachter zu beziehungsweise von ihm weg bewegen. Die mittlere Spalte zeigt die aus den Simulationsdaten zu erwartete ALMA-Beobachtung (b) unter der Annahme einer Winkelauflösung von 18 Millibogensekunden. Die »Beamgröße« von ALMA – vereinfacht ausgedrückt der Bereich, aus dem das Teleskop Strahlung empfängt – ist durch einen grauen Kreis angezeigt. Die dazugehörende Karte der Radialgeschwindigkeit (e) liefert bei dieser Auflösung ein Dipolfeld, das einer Rotation um die grün eingezeichnete Achse zum Verwechseln ähnelt. In der rechten Spalte sind die Ergebnisse der realen Beobachtungen aus dem Jahr 2015 gezeigt (c und f). Der im rechten oberen Bild auf etwa 10 Uhr zu erkennende Hot Spot scheint nahe dem nördlichen Rotationspol zu liegen – er ist ebenso auf ALMA-Bildern von 2022 zu sehen. Was ihn auslöst, ist unbekannt.
Das Team um Kervella ist von dieser neuen Interpretation der Beobachtungen noch nicht überzeugt, selbst wenn die Methode grundsätzlich interessant sei. Seine Gruppe kritisiert vor allem, dass für die Simulationen von Ma ein Sternmodell mit nur fünf Sonnenmassen benutzt wird. In diesem Massenbereich sei zum einen das Auftreten von großen Konvektionszellen, die eine scheinbare Rotation imitieren, wahrscheinlicher. Zum anderen sei er in Bezug auf Beteigeuze, deren Masse zwischen 10 und 20 Sonnenmassen liegt, nicht realistisch. Das im Anhang der Arbeit diskutierte Alternativmodell mit einer Masse von zwölf Sonnenmassen liefere weit weniger überzeugende Ergebnisse.
Kompromisse in den Modellen
Ein weiteres Problem sei, dass sich die verwendeten Konvektionsmodelle nur auf Beobachtungen bei der Sonne stützen: »Das ist eine echte Schwierigkeit, da wir in der Vergangenheit festgestellt haben, dass diese Modelle in der Praxis nicht mit optischen interferometrischen Beobachtungen [anderer Sterne] verglichen werden können.« Der Kritik stimmt Ma auf Nachfrage zwar zu, die Wahl eines masseärmeren Sterns in den Modellen zur Konvektion sei jedoch begründet: Modelle schwererer Sterne berücksichtigen bislang nicht die Wirkung des Kerns, in dem Helium zu schwereren Elementen fusioniert, auf die umgebende Sternmaterie. In der Folge seien die simulierten Sterne kompakter als in der Realität. Eine geringere Sternmasse mit entsprechend kleinerer Gravitation – wie in der Studie untersucht – gleiche dies teilweise aus. »Die Simulation diente nur zur Veranschaulichung unserer Idee und nicht als Beweis«, fügt Ma hinzu. Das Ziel ihrer Arbeit sei es gewesen, die Idee der Konvektion für Beobachtungen vorzuschlagen, um sie in naher Zukunft zu testen.
Für Kervella ist das Szenario mit dem Begleitstern, wie es die Gruppe um Shiber untersuchte, überzeugender. Sehr massereiche Sterne wie Beteigeuze sind überwiegend in Doppel- oder Mehrfachsystemen zu finden. Die schnelle Rotation durch Drehimpulsübertragung mit dem Begleiter sei laut Kervella also eher die Regel als die Ausnahme. Damit wäre die relativ hohe Rotationsgeschwindigkeit für Beteigeuze nicht überraschend.
Neues von ALMA
Die Entscheidung zwischen Rotation und Konvektion scheint schon bald möglich zu sein: Eine Gruppe von Astronomen, darunter auch Kervella, hat Beteigeuze im Jahr 2022 mit ALMA und einer Winkelauflösung von nur acht Millibogensekunden erneut beobachtet. Diese Auflösung entspricht etwa dem Faktor zwei, der von Ma und seinem Team angeregt wurde. Vorläufige Ergebnisse, die im Dezember 2023 auf der Konferenz »ALMA at 10 years« präsentiert wurden, zeigten kein klares Rotationsmuster. »Das steht im Einklang mit unserer Vorhersage«, schreibt Ma, »aber bevor wir weitreichendere Schlüsse ziehen, müssen wir die komplette Analyse der Daten abwarten.« In diesem Punkt stimmt ihm Kervella zu: »Wir haben die Datensätze der Emissionslinien noch nicht wirklich analysiert. Es ist also noch zu früh, um zu entscheiden, ob es eine Signatur der Rotation gibt oder nicht.«
Probleme bereiten ausgerechnet die Große Verdunklung und ihre Folgen: Die anhaltende Störung in der Photosphäre des Sterns könnte laut Kervella das Signal der Rotation verschleiern. Auf den Bildern ist zudem ein heißer Fleck (englisch: hot spot) im nordöstlichen Quadranten von Beteigeuze zu erkennen, der nahe dem Rotationspol liegt: »Das ist faszinierend, denn 3-D-Konvektionsmodelle sagen ein solches langfristig anhaltendes Merkmal nicht voraus«, fügt der Astronom hinzu.
Trifft die Analyse zu, die Morgan MacLeod vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in den USA und seine Kollegen jüngst veröffentlicht haben (siehe »Steht eine neue Verdunklung bevor?«), dann könnte es bis zu zehn Jahre dauern, bis Beteigeuzes Schwingungsperiode wieder ihren langjährigen Mittelwert annimmt. Damit könnte das Rätsel seiner Rotationsgeschwindigkeit vielleicht doch noch eine Weile bestehen bleiben.
Steht eine neue Verdunklung bevor?
Die heiße Konvektionszelle, welche die Große Verdunklung ausgelöst hat, könnte ebenfalls die Gleichmäßigkeit der Pulsation von Beteigeuze gestört haben, meinen Morgan MacLeod vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in den USA und Kollegen: Bei der Expansion der Zelle habe sich die Oberfläche ausgedehnt, während sich die tieferen Schichten bereits wieder zusammenzogen. Die Folge war ein Wechsel des 400-tägigen Grundmodus der Pulsation, mit dem sich der gesamte Stern synchron ausdehnt und zusammenzieht, zu seinem 200-tägigen Oberton, bei dem sich die innere und äußere Hülle in entgegengesetzter Phase bewegen. Stimmt dies, dann sollte die Dämpfung im Sterninneren dafür sorgen, dass Beteigeuze in den nächsten fünf bis zehn Jahren wieder zu ihrer normalen 400-Tage-Schwingung zurückkehrt.
Das Überwachen der Helligkeit von Beteigeuze, zu dem auch viele Amateure beitragen, wird von der American Association of Variable Star Observers (AAVSO) koordiniert. Im März 2024 berichteten AAVSO-Beobachter von einer erneuten Abnahme der scheinbaren Helligkeit des Sterns, weit weniger dramatisch als im Jahr 2020, aber deutlich genug, dass man sie mit bloßem Auge wahrnehmen konnte. Die scheinbare Helligkeit Beteigeuzes sank auf fast 0,8 mag, nachdem sie ein Jahr vorher bei knapp 0,0 mag gelegen hatte. Bis zum Sommer 2024 hatte sich die Helligkeit jedoch wieder stabilisiert.
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