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Roblox: In der Stretchlimousine durchs Metaverse

54 Millionen Menschen tummeln sich jeden Tag in den virtuellen Welten der Spieleplattform »Roblox«. Sie züchten Haustiere, kaufen Villen oder fahren Jetski. Eine Erkundungstour.
Eine Szene aus dem Metaverse-Spiel »Livetopia«
»Livetopia« ist ein gigantisches Universum mit 40 Millionen einzelnen Spielwelten, eine Art virtuelles Disneyland, wo man sich per Mausklick in die verschiedensten Mikrokosmen teleportieren kann.

Es ist 11 Uhr mittags, als ich mich mit dem Laptop auf dem Schoß in mein erstes virtuelles Abenteuer im Metaverse stürze. Ein paar Klicks, dann erscheint mein Avatar in Gestalt einer Figur, die einem Legostein ähnelt, auf der Topia Plaza, dem zentralen Platz von »Livetopia«. So heißt eine von vielen virtuellen Welten auf der Spieleplattform »Roblox«. Die digitale Uhr in der Bildschirmecke zeigt 21.36 Uhr. Der Abend hier ist also noch jung. Ein Tag- und-Nacht-Zyklus dauert exakt 20 Minuten. Aber das spielt eigentlich keine Rolle, denn alles ist rund um die Uhr geöffnet. Das Einkaufszentrum leuchtet grell in den Nachthimmel, ein paar andere Avatare hängen vor dem Glücksrad ab.

»Livetopia« ist ein virtueller Stadtstaat, der der Vorstellung eines digitalen Paralleluniversums sehr nahekommt: Es gibt Shopping-Malls, Waschanlagen und Kinos. Die Spieler können mit einem Sportwagen genauso wie mit einem E-Scooter durch die Straßen fahren. Kürzlich hat sogar das amerikanische Kaufhaus »Walmart« eine eigene Filiale eröffnet – als Showroom, in dem man die Produkte, die im physischen Raum angeboten werden, schon mal anschauen und anprobieren kann. Es lassen sich auch Häuser kaufen und nach Belieben einrichten. Sogar eine Polizeistation gibt es. Zwar handelt es sich bei »Livetopia« noch immer um ein Spiel, aber um eins, das kaum Grenzen kennt und beinahe alle Kriterien erfüllt, die der amerikanische Medienmanager und Investor Matthew Ball in seinem 2020 veröffentlichten Essay »The Metaverse: What It Is, Where to Find it, and Who Will Build It« aufstellte. Dieses Metaverse, über das gerade alle sprechen, lässt sich hier also schon im Kleinformat besuchen.

Alles, was man braucht, um in die dreidimensionale Welt einzutauchen, ist eine VR-Brille oder ein Computer. Allerdings sind die Systemanforderungen recht hoch: Ist die Grafikkarte zu langsam, ruckeln die Bewegungen. Ich bewege meinen Avatar wie in einem Abenteuerspiel durch die Gegend. Er sieht mir nicht im Geringsten ähnlich: klein, rundlich, mit gesträhntem Wuschelkopf. Unter dem schwarzen Pullover trägt er ein blaues T-Shirt mit Motorradmotiv und klobige, weiße Schuhe. Der Türsteher einer Disco würde mich in dem Outfit wahrscheinlich abweisen. Wäre mir sein Äußeres wichtiger, könnte ich dafür bezahlen und weitere Attribute freischalten. Aber vielleicht sorgt ja mein Username »Mr. Coconut« für etwas gute Stimmung.

Serie: Metaverse

Das »Metaverse« gilt als gigantische Verheißung – als »the next big thing«, die nächste große Sache, wie die Tech-Gurus im Silicon Valley sagen. Dieser dreidimensionale Nachfolger des mobilen Internets soll unsere Wirklichkeit von Grund auf verändern. Fantasie und Realität verschmelzen zu einem digitalen Paralleluniversum. Doch ist es schon mehr als eine Spielerei?

  1. Willkommen im digitalen Paralleluniversum
  2. In der Stretchlimousine durchs Metaverse
  3. »Im Metaverse droht ein Komplettverlust der Privatsphäre«
  4. Wie eine Datei zum Statussymbol wird

Im Gruppenchat grüße ich in die anonyme Runde: »Hi«. Prompt schreibt mir die Nutzerin Tocafan4568 zurück: »Hello, kann ich deine Mama sein?« Bitte was? Zuerst bin ich irritiert, dann begreife ich: Das muss ein Rollenspiel sein. So, wie man seine Kleidung wechselt, kann der Spieler in »Livetopia« in verschiedene Rollen schlüpfen: Fabrikarbeiter, Tänzer, Richterin und vieles mehr. »Komm zu mir nach Hause«, schreibt mir Tocafan4568 in den Chat und lädt mich auf einen Besuch ein. »Haus Nr. 8!«

Ich rufe den Stadtplan auf, werde aber nicht fündig. »Du musst auf Gemeinschaft klicken«, instruiert mich die Userin. Ich klicke auf den Button und habe eine Art Immobilienkatalog vor mir: Haus 1 ist eine freie Grünfläche mit einem »Bauen«-Schild darauf. Es handelt sich hier offensichtlich um Bauland. Ich klicke mich durch den Katalog, dann sehe ich Haus 8. Ein Mausklick, schon teleportiere ich mich direkt vor die Haustür. Baumbestandene Alleen, emaillierte Namensschilder an den Türen, Vorstadtidyll. Tocafan4568 empfängt mich vor ihrem Anwesen. Sie trägt Kopfhörer über dem langen, blonden Haar, hat eine braune Hose an sowie einen Mantel, der ihr bis zu den Kniekehlen reicht.

Richtige Spielziele gibt es nicht. Es lauert einem kein Gegner auf, den man ausschalten muss, und es existiert kein Schatz, den man am Ende finden kann – man lässt sich einfach treiben oder schmückt seinen Avatar mit immer mehr Details und Accessoires aus

Es ist das erste Mal, dass sich unsere Avatare begegnen, wir kennen uns gerade mal ein paar Minuten aus dem Chat. Doch die Frau hat offenbar keine Berührungsängste. Sie trägt mich huckepack die Treppen hoch und führt mich durch ihr Haus. Ich bestaune bodentiefe Fenster, einen schicken, schwarz glänzenden Flügel und die hohen Decken. »Wow, du hast es richtig schön hier«, lobe ich das Intérieur, während mein Blick durch das großzügige Wohnzimmer schweift.

Unterwegs in »Livetopia« | Tocafan4568 wohnt in einer schicken Villa. Der Autor bestaunt bodentiefe Fenster, einen schicken, schwarz glänzenden Flügel und hohe Decken.

Tocafan4568 ist eine von knapp 60 Millionen täglich aktiven Roblox-Spielerinnen und -spielern. Sie züchten virtuelle Haustiere, verkaufen Milchshakes oder fahren auf der Privatinsel von Paris Hilton Jetski. Es ist ein gigantisches Universum mit 40 Millionen einzelnen Spielwelten, eine Art virtuelles Disneyland, wo man sich per Mausklick in die verschiedensten Mikrokosmen teleportieren kann: von der Pizzafabrik bis zum internationalen Flughafen. Es gibt Konzerte, Fashion Shows und Sportveranstaltungen. Millionen Menschen vertreiben sich hier die Zeit, indem sie virtuelle Bubble Teas bestellen oder mit Sportwagen durch Modellstädte cruisen. Richtige Spielziele gibt es nicht. Es lauert einem kein Gegner auf, den man ausschalten muss, und es existiert kein Schatz, den man am Ende finden kann – man lässt sich einfach treiben oder schmückt seinen Avatar mit immer mehr Details und Accessoires aus.

In der virtuellen Welt von »Livetopia« kann man allerlei Zusatzfeatures freischalten. Bezahlt wird mit der spieleigenen Kryptowährung Robux, die man in bestimmten Challenges verdienen oder gegen Euro eintauschen kann. Tocafan4568 besitzt einen sogenannten VIP-Pass, der ihr Zugriff auf Premiumhäuser, Fahrzeuge, Werkzeuge, Haustiere und Tapeten erlaubt. 399 Robux kostet der Pass einmalig, das sind umgerechnet fünf Euro. Ich habe zwar keinen einzigen Robux in der Tasche, bin dafür aber bei einem VIP zu Hause.

»Du siehst toll aus!«, schmeichelt mir die Gastgeberin, was mir ein bisschen peinlich ist, weil mein Avatar aussieht, als hätte man ihm eine Portion fettige Haare auf den Kopf geklatscht. Aber ich gebe das Kompliment zurück. Dann zeigt sie mir mein Zimmer. Es ist im Boutique-Hotel-Stil eingerichtet: weiße Vorhänge, grau gemusterter Teppichboden, Ikea-Lampen. Nicht schlecht für einen Mittellosen im Metaverse!

»Schlaf tief und fest«, sagt Tocafan4568 fürsorglich, die ja in dem Rollenspiel meine Mutter ist, und fügt hinzu: »Morgen nehme ich dich mit zum Shoppen.« Sie werde mich wecken. Ich lasse mich mit Klamotten ins Bett fallen und döse vor mich hin. Um halb vier in der Nacht werde ich geweckt. »Das ist aber früh«, mosere ich, doch meine Gastgeberin schickt mir nur ein Smiley hinterher. Sie ist wohl eine Frühaufsteherin. In der echten Welt sind natürlich nur ein paar Minuten vergangen, seit mein Avatar sich schlafen gelegt hat. »Lass uns auswärts frühstücken«, schlägt Tocafan4568 vor. Ich könne mich aber noch in Ruhe umziehen und fertig machen. Mangels Ersatzklamotten bin ich schnell gerichtet, wir gehen runter auf die Straße. Dort wartet bereits eine weiße Stretchlimousine – allerdings ohne Fahrer. Tocafan4568 ist heute meine Chauffeurin. Was für ein Service!

Auf Erkundungstour im Metaverse

Nun ist es 4.42 Uhr, im Supermarkt um die Ecke brennt Licht. Ich kann einen Blick auf quietschbunte Süßigkeitenregale erhaschen, bevor ich mich auf die Rückbank setze. Aber Tocafan4568 bittet mich, vorne einzusteigen. Leertaste gedrückt, und schon hüpft mein Avatar auf den Beifahrersitz. Wir fahren im Morgengrauen mit der Stretchlimo durch »Livetopia«, vorbei an Sportzentren, Autowaschanlagen und Spielplätzen. Einmal kommt uns sogar eine Hochzeitskutsche entgegen. Es fühlt sich ein wenig an wie bei einem Junggesellenabschied in Las Vegas. Ich komme mir plötzlich gar nicht mehr so blöd vor mit dem kindlichen Motorrad-T-Shirt. Meine Chauffeurin muss immer wieder rangieren. Eine Stretchlimousine durch das gitterartige Straßennetz von »Livetopia« zu fahren, scheint gar nicht so einfach zu sein. Dann parkt sie – vor der Polizeiwache.

Grenzenlos | Mit der Stretchlimousine fahren Tocafan4568 und der Avatar des Autors zum Frühstück. Alles hat rund um die Uhr geöffnet in »Livetopia«.

»Habe ich etwas verbrochen?«, frage ich im Chat. »Nein, nein«, beruhigt mich meine Fahrerin, hier könne man nur gut parken. »Komm mit.« Schräg gegenüber ist ein Diner, sie nimmt mich wieder huckepack mit rein. So wie man sich in sozialen Netzwerken früher anstupste, trägt man sich in der 3-D-Welt anscheinend auf dem Rücken, um seine Zuneigung auszudrücken. Eine Interaktion, die auch deshalb praktisch ist, weil man den anderen nicht verlieren kann.

Wir sind um 6.17 Uhr die einzigen Gäste. Es wirkt alles ein wenig karg und steril. Im grellen Schein der Hängeleuchten sehen die Tischgruppen noch etwas ungemütlicher aus. Ich könne mir etwas aussuchen, sagt meine Gastgeberin. Aber die bonbonfarbenen, gezuckerten Törtchen sprechen mich nicht an. Tocafan4568 erzählt mir bei einem Kaffee, was wir vorhaben: Shoppen und dann Kino.

»Willst du Spaß haben? Dann komm mit«Tocafan4568, Livetopia-Spielerin

Wir fahren zur Shopping-Mall. Auf dem Bürgersteig liegen Taschen, die schnappt man sich einfach und nimmt sie mit rein. Mit der Rolltreppe geht es in den ersten Stock. Die Avatare, die sich unten an der Imbissbude tummeln, werden mit jeder Stufe kleiner. In der ersten Etage gibt es einen Zahnarzt, dessen Werbung mir schon auf Topia Plaza aufgefallen war. Sie wolle ihre Zähne checken lassen, sie sei gleich zurück, schreibt mir Tocafan4568. Ich solle im Wartezimmer auf sie warten. Also gut. Zahnhygiene ist auch für Avatare wichtig. Ich lasse mich in eine orangefarbene Sitzgruppe plumpsen und schaue zwischen zwei Zimmerpflanzen auf den Fernseher, wo gerade eine Nachrichtensendung läuft. Mittlerweile ist es 11.45 Uhr in »Livetopia«, draußen scheint die Sonne. Nach gut einer halben Minute, also einer knappen Dreiviertelstunde auf dem virtuellen Behandlungsstuhl, kehrt Tocafan4568 gut gelaunt zurück. »Willst du Spaß haben? Dann komm mit.«

Über das reale Leben wird im Metaverse geschwiegen

Ich folge meiner Mutter wieder aus der Shopping-Mall heraus durch die Straßen, bis wir vor einer bläulichen Wolke stehen. Wir stellen uns mit unseren Avataren hinein und werden in eine Halle mit einem Hindernisparcours teleportiert. Es hat ein wenig was von der TV-Show »Ninja Warriors«. Tocafan4568 hat jetzt der Spieltrieb gepackt, sie rennt über eine Rampe mit Stacheln und hüpft wild über Platten, während ich mit meinen Nerd-Klamotten etwas verloren danebenstehe. Zum Springen fehlt mir ohne VR-Brille das Talent: Ich falle dauernd runter und scheitere schon am ersten Hindernis. Tocafan4568 kommt zu mir, und ich habe das Gefühl, dass ich Vertrauen zu ihr aufgebaut habe. Ich offenbare ihr, was ich bislang noch nicht verraten habe: Ich sei Journalist – und recherchiere. »Im echten Leben?«, fragt sie. »Ja«, antworte ich. Sie macht einen Luftsprung. Mit dieser Reaktion habe ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Jetzt bin ich neugierig. Was sie im echten Leben so mache, will ich wissen. Sie sei Studentin und komme aus Spanien, sagt sie. Mehr will sie nicht verraten. Im Metaverse spricht man nicht so gerne über das reale Leben, entsprechend erfahre ich auch nicht, wie viel Zeit sie hier verbringt und was ihr an dem Spiel so gut gefällt.

Als Nächstes möchte Tocafan4568 gerne ins Kino. Sie mag »The Hunger Games«, erzählt sie mir auf dem Weg. Wir setzen uns in die blau illuminierten Kinosessel. Ich solle warten, sie gehe gerade mal den Film einlegen. Das Kinoprogramm bestimmt man in »Livetopia« offenbar selbst. Doch außer auf eine blaue Leinwand zu starren, passiert nichts. Es ist nun 22.16 Uhr, der »Film« ist aus. Meine virtuelle Mutter sagt, sie müsse jetzt nach Hause, sie habe morgen Unterricht.

Vor dem Kino parkt ihre Limousine, wir steigen wieder ein und cruisen durch die Nacht, vorbei an neonfarbenen Bars und Schönheitssalons, zurück zu Haus Nr. 8. Das Garagentor öffnet sich, Tocafan4568 parkt den Wagen in der Garage. Ich könne den Indoor-Pool im Erdgeschoss gerne nutzen, während sie weg ist, bietet sie großzügig an. Dann zieht sie sich zurück. Ich schwimme im Pool ein paar Bahnen, während ich durch die bodentiefen Fenster auf die Straße schaue, dann fahre ich mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Ich hole mir ein Softeis aus dem Kühlschrank und lasse mich auf das Sofa vor dem Flachbildfernseher fallen. Ich komme mir dabei ein wenig wie der Gigolo Nikki in der Komödie »Toy Boy« vor, der sich in Los Angeles in der Luxusvilla einer reichen Anwältin einnistet. Ich gehe noch mal raus auf den Balkon, werfe einen Blick über die Luxusvillen in der Nachbarschaft, schließlich lege ich meinen Avatar schlafen. Ein ereignisreicher Tag in »Livetopia« geht zu Ende. Ich logge mich aus, fahre den Laptop herunter und schaue auf die Uhr. Sie zeigt 11.32 Uhr.

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