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Alltagsphysik: Röntgenblitze von der Rolle

Es gibt Menschen, die fürchten sich vor Erdstrahlen. Oder vor Elektrosmog. Aber wer hat schon Angst vor einer Rolle Klebeband? Dabei gibt diese genug energiereiche Strahlung ab, um von seinem Finger ein Röntgenbild zu machen.
Haben Sie schon einmal Ihre Post im Dunkeln geöffnet? Oder im Finstern mit einem Hammer auf Zuckerkristalle eingeschlagen? Sie werden es vielleicht nicht glauben, doch bei beiden Vorgängen entstehen winzige, aber sichtbare Lichtblitze. Ein kleiner Teil Ihrer hineingesteckten mechanischen Energie wird aufkonzentriert und als elektromagnetische Strahlung abgegeben. Tribolumineszenz nennen Wissenschaftler diesen erstaunlichen Effekt, den Forscher bereits seit rund hundert Jahren untersuchen – und für den sie bis heute keine abschließende Erklärung haben.

Es werde Licht! ... mit Klebefilm | Eine Rolle Klebefilm, eine handelsübliche Digitalkamera und 30 Sekunden Belichtung – mehr ist nicht nötig, um Tribolumineszenz zu fotografieren.
Ohne einen standardisierten Messaufbau ist es natürlich schwer, des Rätsels Lösung zu finden. Denn wie öffnet man Briefumschläge mit einer stets gleichen und hinreichend konstanten Geschwindigkeit? Da ist es doch leichter, sich einem weiteren tribolumineszenten System zuzuwenden – zum Beispiel einer Kleberolle. Das Abziehen von Tesa, Scotch oder anderem Klebefilm erzeugt nämlich ebenfalls Licht. Und das nicht nur im sichtbaren Bereich, sondern fast über das gesamte elektromagnetische Spektrum von Radiowellen bis hin zu harter Röntgenstrahlung.

Ein Team von Physikern um Seth Putterman von der University of California in Los Angeles hat nun so eine zuverlässige Apparatur gebastelt, in welcher ein Motor die Kleberolle höchst gleichmäßig mit beispielsweise drei Zentimetern pro Sekunde abrollt. Umgeben ist der Film währenddessen von verschiedenen Detektoren, die mit zeitlichen Auflösungen im Nanosekundenbereich die abgestrahlten Photonen auffangen und vermessen. Wahrlich kein Aufbau, den man mal eben schnell zu Hause im Keller nachstellen könnte. Vor allem, weil das Ganze obendrein noch in einer Vakuumkammer platziert ist.

Der Ort des Leuchtens | Kurz hinter jener Stelle, an welcher der Kontakt abreißt, entsteht das rätselhafte Leuchten des Klebefilms.
Das Vakuum ist nötig, weil bei normalem Druck die Stickstoffmoleküle der Luft alle "magischen" Vorgänge stören und nur bläuliche Blitze zulassen. Die Röntgenstrahlung, um die es den amerikanischen Wissenschaftlern geht, braucht jedoch eine weit gehend freie Bahn zwischen dem frisch abgezogenen Stückchen Klebestreifen und der restlichen Rolle. Laut Theorie fliegen hier nämlich reichlich Elektronen von der negativ geladenen Rollenoberfläche zum positiv geladenen Filmstreifen. Beim Abrollen von ihren Atomrümpfen getrennt, stellen sie so wieder den Ausgleich her. Nach ihrer kurzen Reise durch das elektrische Feld sind die Elementarteilchen so schnell, dass sie bei der Ankunft im Film ordentlich abgebremst werden. Ihre überschüssige Bewegungsenergie geben sie dabei als Bremsstrahlung im Röntgenbereich ab.

Das Modell passt gut zu den experimentellen Daten aus der Abrollstation. Die Forscher verzeichneten tatsächlich Röntgenstrahlung, die rechnerisch auf rund zehn Milliarden fliegende Elektronen pro Quadratzentimeter Klebefilm schließen lässt. Einige davon müssen erstaunlich schnell gewesen sein, denn die Energie der Photonen reichte bis hinauf zu zehn Gigaelektronvolt – ein Wert, der sonst eher für Gammastrahlung typisch ist. Immerhin einmal pro Sekunde traf solch ein energiereiches Photon auf den Sensor.

Klebefäden und schnelle Elektronen | Unter dem Mikroskop sind deutlich die Fäden des Klebstoffs zu erkennen, die beim Abrollen entstehen. Die schnellen Elektronen, die hinüberfliegen zur positiv geladenen Rolle, lassen sich so nicht sichtbar machen. (Falschfarbenaufnahme)
Trotz des einheitlichen Abrollens, berichten die Forscher, entstand die Röntgenstrahlung nicht gleichmäßig. Als sie die auf das Klebeband wirkende Kraft untersuchten, zeigte sich auch der Grund für das unstete Verhalten: Die Klebebindung riss in kleinen Sprüngen. Zunächst baute sich über etwa eine zehntel Sekunde eine mechanische Spannung auf, die sich plötzlich entlud, indem sich ein Stückchen Film ablöste. Genau zu diesen Zeitpunkten entstanden die Röntgenblitze.

Bleibt die Frage, wieso es beim Abziehen eigentlich zur Ladungstrennung kommt. Eine Hypothese geht davon aus, dass beim Kontakt unterschiedlicher Substanzen – wie dem Klebstoff und dem Trägermaterial – Elektronen wandern und an der Grenze eine geladene Doppelschicht entsteht, die auseinandergerissen wird. Andere Forscher machen zufällige Verteilungsprozesse während des Abrollens verantwortlich.

Puttermans Team kommt jedoch zu dem Schluss, dass beide Prozesse nicht ausreichen, um die extremen Elektronendichten zu erklären, die sich im Bereich von Nanosekunden aufbauen und entladen. Mindestens ein unbekannter Mechanismus dürfte die Wissenschaftler und ihre Kleberolle also noch eine Weile beschäftigen.

Röntgenbild dank Klebefilm | Die Energie der ausgesandten Röntgenstrahlung reicht aus, um biologisches Gewebe zu durchleuchten, wie diese Miniaufnahmen eines kleinen Fingers beweisen.
Als Ausgleich für das ungelöste Rätsel haben die Physiker sich einen klassischen Spaß erlaubt. Die erste fotografische Aufnahme, die Wilhelm Conrad Röntgen mit der von ihm entdeckten Strahlung im Jahr 1895 gemacht hat, zeigte nämlich die Hand seiner Frau mitsamt Ehering. Für derart große Objekte ist eine Rolle Klebefilm zwar zu klein, aber für die Röntgenaufnahme eines kleinen Fingers reichte die ausgesandte Strahlung immerhin aus – wenngleich aufgeteilt auf drei Einzelbildchen.
  • Quellen
Camara, C. G. et al.: Correlation between nanosecond X-ray flashes and stick-slip friction in peeling tape. In: Nature 455(7216), S. 1089–1092, 2008.

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