Bibliothek von Herculaneum: Röntgenlicht entziffert antike verkohlte Schriftrollen
Als im Jahr 79 der Vesuv ausbrach und das antike Herculaneum unter Vulkanasche begrub, konservierte er gleichzeitig einen enorm wertvollen Schatz. Schon im 18. Jahrhundert hatten Archäologen damit begonnen, diesen zu heben: Sie entdeckten bei einer der ersten überhaupt bekannten Ausgrabungen in einer verschütteten Römer-Villa eine Bibliothek mit Hunderten von handbeschriebenen Papyrus-Schriftrollen, die den Feuersturm überstanden hatten. Zwar sind die Rollen in den heißen Gasen und Schlacken des Vulkan-Hochofens außen und innen fast vollständig verkohlt, haben dabei aber entzifferbare Texte erhalten.
Seit der Entdeckung vor 260 Jahren versuchen Antikenforscher nun, die Herculaneum-Funde auch zu lesen – ein extrem schwieriges und potenziell zerstörerisches Unterfangen, denn die antiken, kohlenstückartigen Rollen zerbröseln unwiederbringlich in kleine Papyrusreste und Aschehäufchen, sobald sie zu grob angefasst werden. Und selbst mit den umsichtigsten, über die Jahre immer weiter perfektionierten Methoden – etwa der so genannten "Oslo"-Entrolltechnik aus den 1980er Jahren – ist es nicht möglich, ein Schriftstück wirklich unbeschädigt lesbar zu machen. Immerhin gelang es so, einzelne Schriftspuren auf den beim Aufrollen übrig gebliebenen Fragmenten mit Multispektralfiltern im nahen Infrarot unter dem Binokular zu entziffern. Dabei enthüllte sich etwa, dass die Papyrusrollen Texte des Philosophen Epikur enthalten.
Auch mit dieser Methode der Textanalyse ist den verkohlten Papyrusrollen aber nicht beizukommen, solange sie noch halbwegs unversehrt in einem Stück gerollt vorliegen. Schon vor einiger Zeit hatten Forscher daher nach Ideen gesucht, wie auch noch gerollte Papyruslagen gelesen werden könnten, ohne sie dabei zu zerstören: etwa mit Röntgentomografie, wie sie auch in der Medizin zum Durchleuchten von Geweben eingesetzt wird? Versuche zeigen allerdings, dass sich die Röntgendichte der antiken Tinte – einst hergestellt aus Ruß – und die des verkohlten Papyrus-Schreibuntergrunds zu wenig unterscheiden, als dass mit konventioneller Röntgendurchleuchtung hier etwas zu holen wäre.
Ein Forscherteam um Vito Mocella von der Universität in Neapel hat daher nun versucht, eine geeignetere Form der Durchleuchtung in Stellung zu bringen: die Röntgenphasenkontrast-Technik. Die Bildgebung basiert dabei nicht auf der unterschiedlichen Abschwächung der Röntgenstrahlung durch mehr oder weniger röntgendichte Materialien, sondern auf der unterschiedlichen Brechung beim Durchtritt der Strahlung durch die Schichten eines durchleuchteten Objekts. Dabei, so die Idee der Forscher, sollte ihnen zugutekommen, dass die antike Tinte beim Schreiben nicht in den Untergrund eindringt wie Tinte in Papier. Stattdessen sind die Rußschichten der Schriftzeichen auf dem Papyrus aufgelagert und heben sich so um wenige Mikrometer reliefartig ab. Dies verändert die Phasenverschiebung des Röntgenscanners genug, hoffte das Wissenschaftlerteam nach Erfolg versprechenden Tests an entrollten Papyrusfragmenten.
Im nächsten Schritt schoben sie nun eine vollständige Papyrusrolle in einen Röntgentomografen am Europäischen Synchrotronzentrum in Grenoble. Der vorgefilterte und durch einen monochromatischen Filter gelenkte Röntgenstrahl tastete darin die Papyrusrolle in vielen Schichten ab. Dabei entstand zunächst ein inneres Bild der Rolle mitsamt ihren unter dem Druck der Vulkanasche erzeugten Falten und Verschiebungen. Ein immer weiter perfektionierter Algorithmus erlaubte es den Forschern anschließend, aus den Röntgendaten tatsächlich einzelne griechische Lettern herauszufiltern – wobei eines der Hauptprobleme darin lag, die Papyrusschichten und ihre Orientierung zu ermitteln.
Tatsächlich gelang dies am Ende gut genug, um sogar ein charakteristisches Schriftbild des antiken Schreibers zu erkennen, etwa an den Schnörkeln, die der Autor an die Enden der Buchstaben setzte. Das Bild ähnelt dabei ziemlich genau dem von teilzerstörten, entrollten Papyrusfragmenten der Herculaneum-Bibliothek, die dem Schreiber Philodemus zugeschrieben werden. Auch die Größe der Buchstaben – sie sind rund drei Millimeter hoch – erinnern an die bekannte Vorlage. Die analysierte Rolle stammt demnach offenbar aus derselben Zeit.
Sicher wird man sein, wenn die Technik noch weiter perfektioniert wird. Dabei sollte eine Feinjustierung der Röntgentomografie Artefakte weiter reduzieren. Und höher entwickelte Algorithmen können helfen, die Ausrichtung von Papyrusfasern und -kanten besser von den Linien der Buchstaben unterscheiden zu können – was gerade bei bestimmten Buchstaben noch problematisch ist. Das alles sei aber gut möglich, so die Forscher optimistisch: Mehr als ein paar Stunden Synchrotron-Nutzungsdauer dürften dann ausreichen, eine Papyrusrolle gut genug zu durchleuchten, um sie im Anschluss nach und nach entziffern zu können. Spannende Zeiten also für die Antikenforschung – vor allem wenn, wie vermutet, unter der schon längst ausgegrabenen Bibliothek tatsächlich eine weitere, seit zwei Jahrtausenden unter Asche begrabene entdeckt werden sollte.
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