Milchstraße: Einsame Abtrünnige oder Boten einer Zwerggalaxie?
Die Milchstraße beherbergt neben unserer Sonne einige hundert Milliarden Sterne. Sie zählt zu den Balkenspiralgalaxien, und das Sonnensystem befindet sich innerhalb der im Durchmesser etwa 100 000 Lichtjahre ausgedehnten galaktischen Scheibe, in einem der Spiralarme rund 26 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt. Dieses liegt im Sternbild Schütze und beherbergt ein extrem massereiches Schwarzes Loch. Die beschriebene Scheibe wird von einer sphärischen Struktur umgeben, dem so genannten galaktischen Halo. Dieser vergleichsweise gasarme und vorwiegend staubfreie Raum beinhaltet die uns zahlreich bekannten Kugelsternhaufen mit ihren alten Sternen sowie Überbleibsel früherer Zwerggalaxien, die im Verlauf der Zeit mit der Milchstraße verschmolzen und heute durch die Schwerkraft an unsere Galaxis gebunden sind. In diesem Bereich werden auch riesige Mengen an Dunkler Materie postuliert. Die Ausdehnung des Halos ist bis heute nicht vermessen, doch geht die Forschung davon aus, dass sich dieser über mindestens 500 000 Lichtjahre hinaus ins All erstreckt.
Untersuchungen von Sternen in diesen Randbereichen sind schwierig, weil ihre Leuchtkraft in der Regel nicht ausreicht, um sie bei solchen Entfernungen beobachten zu können. Dabei könnten gerade diese Sternpopulationen eine wichtige Rolle bei der Erforschung der galaktischen Entstehungsgeschichte spielen. Deshalb suchten John Bochanski und Beth Willman vom Haverford College und Kollegen gezielt nach weit entfernten roten Riesensternen. Das sind Sterne, die sich dem Ende ihrer Entwicklung nähern. Nachdem ihnen der Brennstoff im Zentrum langsam ausgeht, setzen Kernfusionsprozesse in ihrer Hülle ein. Das führt zu einer Aufblähung der Körper und wegen ihrer großen Oberflächen zu einer erheblichen Steigerung ihrer Leuchtkraft. Trotz ihrer recht niedrigen Oberflächentemperaturen erreichen sie Helligkeiten, die 1000-fach größer sind als die von Hauptreihensternen vergleichbarer Spektralklasse. Somit sind sie auch bei großen Entfernungen zu sehen.
Die Astronomen durchsuchten die Daten der Durchmusterungskampagnen UKIRT Infrared Deep Sky Survey (UKIDSS) und Sloan Digital Sky Survey (SDSS) im Optischen und nahen Infrarot nach diesen seltenen Riesen und identifizierten mehr als 400 mögliche Kandidaten. Zur Bestätigung der Spektralklasse wurde eine Auswahl am 6,5-Meter-Teleskop des MMT-Observatoriums spektroskopisch untersucht. Dabei wurden vier Sterne als Rote Riesen identifiziert und bei zweien die außerordentlichen Entfernungen von rund 780 000 und 900 000 Lichtjahren festgestellt. Die Entfernungsbestimmung ist in diesen Fällen schwierig, weil dafür die absoluten Helligkeiten der Sterne bekannt sein müssen. Diese schätzten die Astronomen anhand sechs unterschiedlicher Methoden für Sterne unterschiedlicher chemischer Zusammensetzungen ab. Trotz der vergleichsweise hohen Unsicherheiten von rund 25 Prozent ergab die Analyse, dass es sich um die bisher am weitesten entfernten Sterne handelt. Ihre Entfernung entspricht rund dem Fünffachen der Distanz zur Großen Magellanschen Wolke und beträgt ein ganzes Drittel der Entfernung zur Andromedagalaxie.
Zu klären bleibt allerdings die Frage nach ihrem Ursprung. Forscher gehen davon aus, dass die Gasdichte in diesen Bereichen niedrig ist und dass dort keine Sterne entstehen können. Daher sehen sie nur drei Möglichkeiten: Die Sterne könnten im Zuge einer Verschmelzung der Milchstraße mit einer Zwerggalaxie aus einer solchen herausgerissen worden sein. Entsprechende Prozesse werden auch in inneren Bereichen des Halos beobachtet. Des Weiteren wäre es möglich, dass die Sterne vor mehr als einer Milliarde Jahren aus der galaktischen Scheibe herausgeschleudert wurden. Ein solches Szenario ist im Zusammenhang von gravitativen Wechselwirkungen von Doppelsternsystemen mit anderen Sternen oder durch das zentrale Schwarze Loch hervorgerufene Beschleunigungen denkbar. Dafür sind jedoch hohe Anfangsgeschwindigkeiten von bis zu 600 Kilometern pro Sekunde erforderlich. Somit erscheint diese Erklärungsvariante den Forschern als unwahrscheinlich, da solche Ereignisse selten zu erwarten sind. Alternativ wäre es auch möglich, dass die Sterne zu den hellsten einer kleinen noch unbekannten Zwerggalaxie gehören, die insgesamt so leuchtschwach ist, dass sie bisher nicht entdeckt wurde.
Die Forscher setzen ihre Arbeit fort und erwarten, dass sich insgesamt 70 ihrer 404 Kandidaten als Riesensterne herausstellen. Dabei gehen sie davon aus, dass ihre entwickelten Methoden zur Identifikation dieser Sterntypen von Bedeutung für zukünftige Himmelsdurchmusterungen sein werden. Zukünftige Funde von Sternen in den äußeren Halobereichen seien weiterhin hilfreich, da mit deren Hilfe die Entwicklung der Milchstraße nachvollzogen werden kann. Auch liefern ihre Eigenschaften weitere Rückschlüsse, wie zum Beispiel auf die Gesamtmasse der Galaxis.
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