Märchen: Rotkäppchen hat sich durchgesetzt
Nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Afrika werden seit Jahrhunderten Märchen erzählt, die denen vom Rotkäppchen oder vom Wolf und den sieben Geißlein ähneln. Jamshid Tehrani von der Durham University hat sich auf die Spur zu den Verwandtschaftsbeziehungen dieser Erzählungen gemacht. Seine Methode: phylogenetische Analysen, mit denen man gewöhnlich den Stammbaum biologischer Arten untersucht.
Zuerst überprüfte Tehrani, ob es sich bei den Überlieferungen aus aller Welt tatsächlich um Variationen der zwei Märchen handelt. Mit anderen Worten: Gilt als Rotkäppchen noch ein Mädchen, das zwar in westeuropäischen Wäldern herumstreift, aber kein rotes Käppchen trägt – wie es in "Die Geschichte von Großmutter" der Fall ist? In der ostasiatischen Version "Die Tigergroßmutter" verkleidet sich gar ein Tiger an Stelle eines Wolfes als Großmutter.
Wie sich zeigt, unterscheiden sich die Erzählungen in den verschiedensten Kriterien. Daher katalogisierte der britische Wissenschaftler 58 Märchen aus verschiedenen Weltgegenden und Jahrhunderten anhand von 72 Merkmalen. Alle diese Märchen enthielten Elemente mindestens einer der beiden Typen – "Rotkäppchen" oder "Der Wolf und die sieben Geißlein". Mit Hilfe mathematischer Modelle errechnete er dann, mit welcher Wahrscheinlichkeit zwei gegebene Märchen den gleichen Ursprung haben. So ergab sich ein Märchenstammbaum.
Dieser zeigte: Die 58 untersuchten Märchen lassen sich in Europa und Afrika in diese zwei Typen aufteilen. Interessanterweise entwickelten sich auf beiden Kontinenten die Märchen vom Typ "Rotkäppchen" aus dem Typ "Der Wolf und die sieben Geißlein". Für Tehrani entspricht dies dem Prozess der konvergenten Entwicklung, in dem sich zwei biologische Arten unabhängig voneinander in eine ähnliche Richtung entwickeln. Die Geschichte vom Mädchen mit der roten Kopfbedeckung scheint also international sehr beliebt zu sein, weswegen sie sich zweimal herausbildete.
In Asien hingegen hat sich ein Hybrid – eine Mischform aus beiden Märchentypen – entwickelt. Hier kennen Kinder Geschichten von einem Mädchen, das ein Ungeheuer hinters Licht führt, indem es die Stimme des Bruders imitiert. Am Ende wird es lebendig aus dem Bauch des Ungeheuers geschnitten.
Tehrani möchte nun phylogenetische Analysen auch auf andere Volksmärchen anwenden. Deren Verbreitungswege könnten womöglich Aufschluss darüber geben, wie Völker gewandert sind.
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