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RSV: Warum viele Kinder gerade in die Klinik müssen

Kaum ein Kind hat sich im letzten Winter mit dem RS-Virus angesteckt. Nun machen gleich zwei Jahrgänge die Infektion zum ersten Mal durch. Die Folge: volle Kinderkliniken.
Erkältetes Kind

Herbstzeit ist Erkältungszeit. Da niest, hustet und röchelt es an jeder Ecke. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. In diesem Herbst aber fällt auf, dass mehr Menschen als in den Vorjahren mit einer akuten Atemwegserkrankung zum Arzt gehen. Die meisten von ihnen kurieren ihre Erkältung einfach aus. Gerade an den jüngsten Patientinnen und Patienten geht die scheinbar harmlose Infektion aber nicht spurlos vorbei. Mehr Säuglinge und Kleinkinder als in den Jahren zuvor liegen mit einem schweren akuten Atemwegsinfekt in der Kinderklinik. Zwei von drei Kindern sind mit dem respiratorischen Synzytialvirus, kurz RSV, infiziert.

RSV ist ein RNA-Virus, das dem Grippevirus ähnelt, weltweit vorkommt und Menschen aller Altersgruppen befällt. Es ist hochansteckend und verbreitet sich über feinste Flüssigkeitströpfchen, zum Beispiel beim Niesen. Selbst wenn virushaltige Tröpfchen sich an Gegenständen oder auf Oberflächen sammeln, können sich Menschen – allerdings seltener – anstecken. Die Erreger befallen die Schleimhautzellen des Rachenraums ebenso wie die der verästelten Luftwege in der Lunge, die Bronchien und die noch feineren Bronchiolen.

Die Viren vermehren sich in den Schleimhautzellen. Mehrere befallene Zellen verschmelzen zu je einer großen Superzelle, einem Synzytium. Das Immunsystem erkennt diese funktionsunfähigen Superzellen als fehlerhaft und attackiert sie. Gleichzeitig schlägt der Körper Alarm: Die betroffenen Bronchien und Bronchiolen entzünden sich, genannt Bronchiolitis. Beide Vorgänge bewirken, dass infizierte Schleimhautzellen absterben und abgestoßen werden.

Die Schleimhäute reagieren auf die Entzündung, indem sie anschwellen. Darum ist unsere Nase bei einer Erkältung manchmal komplett zu. Die Folge: Deutlich weniger Luft strömt durch die Atemwege. Sind Bronchien und Bronchiolen verengt oder sogar verschlossen, sprechen Medizinerinnen und Mediziner von einer obstruktiven Atemwegserkrankung.

Kleinkinder erkranken besonders oft schwer

Im Schnitt zeigen sich fünf Tage nach der Ansteckung mit RSV erste Symptome, frühestens aber nach zwei Tagen. Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene merken manchmal gar nicht, dass sie infiziert sind, können aber trotzdem ihre Mitmenschen anstecken. Andere haben nur eine leichte Erkältung mit Husten und Schnupfen. Bei einem schweren Verlauf kommen noch Appetitlosigkeit, Fieber und Abgeschlagenheit hinzu. Damit ähneln die Symptome einer RSV-Infektion denen einer Grippe, also einer Infektion mit Influenzaviren. Wie bei einer Grippe können sich die Symptome auch innerhalb weniger Stunden verschlimmern.

In den ersten zwei Lebensjahren stecken sich nahezu alle Kinder mindestens einmal mit RSV an. Kinder sind nach überstandener Krankheit nicht immun gegen das Virus, so dass sie sich immer wieder anstecken können. »Es werden durchaus Antikörper gebildet«, sagt Biologe Thomas Pietschmann, Institutsleiter in der Experimentellen Virologie der Medizinischen Hochschule Hannover. »Allerdings fallen die Antikörperspiegel beim Menschen nach einer Infektion schnell wieder ab.« Zu wenige Antikörper können wiederum das Risiko erhöhen, sich erneut mit RSV zu infizieren.

Auch bei jüngeren Kindern verlaufen die meisten Infektionen mild. Dennoch ist das Virus die häufigste Ursache dafür, dass Säuglinge und Kleinkinder mit einer Atemwegserkrankung in eine Klinik aufgenommen werden müssen. Etwa die Hälfte der stationär behandelten Kinder ist jünger als drei Monate. Jungen müssen doppelt so häufig wie Mädchen ins Krankenhaus  – warum, ist noch nicht vollständig verstanden.

»Die Bronchien und insbesondere die Bronchiolen sind bei einem kleinen Kind sehr viel enger als bei einem Erwachsenen«, erklärt Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Das sei der Grund, warum obstruktive Atemwegserkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern oftmals schwerwiegender verlaufen als bei größeren Kindern oder Erwachsenen. Ihre Bronchien sind im schlimmsten Fall so stark verengt, dass sie nicht mehr atmen können. Besonders gefährdet sind Frühgeborene sowie Säuglinge mit bekannten Erkrankungen der Lunge und des Herzens. Bis zu 5 von 100 Kindern dieser Risikogruppen sterben an einer RSV-Infektion.

Die Corona-Pandemie beeinflusst die RSV-Saison

Wie auch bei anderen Erkältungs- und Grippeviren – zum Beispiel Rhino- oder Influenzaviren – treten Infektionswellen mit RSV saisonal verstärkt auf. In Deutschland bleibt der Sommer daher in der Regel erkältungsfrei, ab November bis in den Winter laufen jedoch viele Menschen mit verschnupfter Nase und hustend durch die Gegend. Ein Infektionshoch lässt sich in den Monaten Januar und Februar beobachten. Im Jahr 2021 startete die »RSV-Saison« allerdings bereits im September. Und noch etwas fiel auf: Deutlich mehr Kinder als in den Vorjahren mussten mit einer RSV-Infektion in einer Kinderklinik behandelt werden.

Ähnliche Beobachtungen waren zuvor auch in anderen Ländern zu verzeichnen: Im australischen Frühjahr und Sommer Ende 2020 wurde die Bevölkerung des Kontinents von einer ungewöhnlich frühen und hohen Infektionswelle getroffen. In Israel begann die RSV-Saison im Mai 2021 statt wie sonst Anfang Oktober, in den USA im Juni. Das Robert Koch-Institut warnte deshalb, dass auch Deutschland ähnliches bevorstehen würde.

»Im Winter 2020/2021 haben wir in den deutschen Kinderkliniken so gut wie keine RSV-Infektionen gesehen. Die Erkältungssaison ist quasi ausgefallen«Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin

Für kleine Risikopatientinnen und -patienten gibt es zwar eine Möglichkeit, eine Infektion mit RSV zu verhindern oder zumindest abzuschwächen. Besonders gefährdete Kinder erhalten Antikörper, die an das Virus binden und es daran hindern, Zellen zu befallen. Dieses als passive Impfung bekannte Verfahren funktioniert auch gut, allerdings nur, wenn früh genug mit der Prophylaxe begonnen werden kann. Die Antikörper müssen in einzelnen Dosen über Wochen verabreicht werden, was entsprechend Vorlauf benötigt. Den gab es in diesem Jahr aber nicht.

Dass das RS-Virus jüngere Kinder diesmal so stark und schwer trifft, liegt an der Corona-Pandemie. Im Herbst und Winter 2020 galt es, Kontakte zu reduzieren und durchweg Maske zu tragen. Immer wieder schlossen Kitas und Schulen, das öffentliche Leben wurde zurückgefahren. Die Maßnahmen haben aber nicht nur das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgebremst. »Im Winter 2020/2021 haben wir in den deutschen Kinderkliniken so gut wie keine RSV-Infektionen gesehen. Die Erkältungssaison ist quasi ausgefallen«, sagt Kinder- und Jugendmediziner Rodeck. Das RS-Virus hatte schlicht keine Möglichkeit, sich auszubreiten.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Seit diesem Spätsommer 2021 scheint RSV die Saison nachzuholen. Für Rodeck ist das wenig überraschend: »Das Virus traf im September nicht nur auf eine, sondern gleich auf zwei Jahrgänge von immunnaiven Kindern.« Denn nicht nur die im Jahr 2021 geborenen Kinder, sondern auch diejenigen, die im Jahr zuvor auf die Welt gekommen sind, stehen der aktuellen Infektionswelle mit RSV – bezogen auf ihren spezifischen Immunstatus – schutzlos gegenüber.

Die Kinderkliniken sind voll

Das ist ein Dilemma. Denn das medizinische Personal arbeitet auf Grund der Corona-Pandemie sowieso schon am Limit, auch in den Kinderkliniken. Und die Bettenkapazität könnte bundesweit bald an ihre Grenzen stoßen. Von den etwa 2700 zur Verfügung stehenden Betten auf den Kinder-Intensivstationen sind aktuell mehr als 2000 belegt. Kinder mit einem schweren Verlauf einer RSV-Infektion können aber nicht warten, bis ein Platz auf einer Intensivstation frei wird.

»Bei akuten Atemschwierigkeiten müssen die Kinder umgehend in eine Klinik und mit Sauerstoff versorgt werden«, sagt Rodeck. Das ist oftmals die einzige Therapie, die in der Situation hilft. Wie bei vielen viralen Erkrankungen gibt es gegen das RS-Virus keine wirksamen Medikamente. Es bleibt, die Symptome zu behandeln, etwa indem das Fieber gesenkt und die Atemwege über abschwellende Wirkstoffe freigehalten werden. Besonders kleine Kinder benötigen solche Sauerstoffgaben mitunter über einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen, je nach Schwere der Erkrankung.

Erschwerend kommt hinzu, dass Kinder, die wegen einer RSV-Infektion im Krankenhaus behandelt werden, isoliert werden müssen, damit sie nicht noch weitere Kinder anstecken. Dafür benötigen die Kliniken Platz und Personal. Beides fehlt. »Die Kinderkliniken sind aktuell in der Situation, dass sie entweder die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung nicht einhalten können oder aber Kinder in andere Kliniken schicken oder sogar abweisen müssen«, sagt Rodeck. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) regelt, wie viele Pflegekräfte für eine bestimmte Anzahl erkrankter Kinder rund um die Uhr zur Verfügung stehen müssen. Hält sich eine Klinik nicht an diese Vorgabe, drohen Strafzahlungen. Kranke Kinder auf Grund von Personalmangel abzuweisen, könne allerdings als unterlassene Hilfeleistung gewertet werden, sagt Rodeck. Er fordert deshalb den Gesetzgeber auf, zumindest die Sanktionen für ein Unterschreiten der Pflegepersonal-Untergrenze vorübergehend auszusetzen.

Die Kinder an andere Kliniken zu verweisen, ist außerdem oft keine Option, denn viele Kliniken stehen derzeit vor den gleichen Schwierigkeiten. Der Verband leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD) veröffentlichte die Ergebnisse einer Umfrage, laut der bereits 78 Prozent der Kinderkliniken von Versorgungsengpässen berichteten. Höchstens eine Kontaktbeschränkung wie im Herbst und Winter 2020 könnte die Lage in den Kliniken entspannen.

Auch wenn die Zahl der schweren RSV-Fälle leicht rückläufig ist, sind die Kliniken weiterhin in Habachtstellung. Die eigentliche Wintersaison und besonders die kritischen Monate Januar und Februar stehen erst noch bevor: Niemand kann sagen, ob die Anzahl infizierter Kinder in dieser Zeit wieder zunimmt. Zusätzlich haben dann Influenzaviren ihre Saison und füllen die Kinder-Intensivstationen.

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