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Klimaextrem in den Ozeanen: Deshalb brechen die Meerestemperaturen alle Rekorde

Seit März 2023 sind die Meerestemperaturen weltweit dramatisch gestiegen. Zwei unerwartete Effekte, die sich gegenseitig verstärken, sind wohl für die sprunghafte Erwärmung verantwortlich.
Grafische Darstellung der Meerestemperaturen.
Die weltweiten durchschnittlichen Meerestemperaturen – ohne die Polargebiete – im Jahresverlauf. Im Frühjahr 2023 wurden die Weltmeere insgesamt sprunghaft wärmer.

Es ist das aktuell größte Rätsel der Klimaforschung. Seit März 2023 sind die Weltmeere so warm wie nie, und das mit enorm großem Abstand. Um mehr als ein halbes Grad übertrafen die Meerestemperaturen den bisherigen Rekord, ein Extremwert, der Fachleute überrascht und schockiert. Auch atmosphärisch war 2023 das heißeste jemals aufgezeichnete Jahr – ebenfalls mit großem Vorsprung. Dass der Klimawandel die Erde nach und nach erwärmt, ist bekannt, doch der drastische Hitzeschub binnen kurzer Zeit übersteigt alle Erwartungen.

Nun zeichnet sich ab, dass zwei wichtige Einflussgrößen des Erdsystems beteiligt sind. Zum einen nämlich fließt von der Meeresoberfläche seit einigen Jahren weniger Wärme in die Tiefe. Und zum anderen nimmt die Erde seit 2023 unerwartet viel Sonnenenergie auf. Diese beiden Effekte wirkten zusammen und erklären einen erheblichen Teil der außergewöhnlichen Wärme.

Selbst kleine Veränderungen in der Weise, wie sich Energie innerhalb der Ozeane verteilt, können deswegen ausgeprägte globale Folgen haben – wie eben jene globale Hitzewelle 2023, die sich auch 2024 unvermindert fortzusetzen scheint. »Eine der wichtigsten Ursachen ist das Abkapseln der Oberfläche vom tiefen Ozean«, erklärt Sunke Schmidtko vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. »Es wird weniger Energie durch Mischungsprozesse ausgetauscht.«

Die Weltmeere sind von einer dünnen Wasserschicht bedeckt, die vom Wind gut durchmischt ist und besonders in den Tropen und Subtropen von der Sonne erwärmt wird. Sie liegt an der Oberfläche, weil sie eine vergleichsweise geringe Dichte hat. Unterhalb davon befindet sich dichteres und oft kühleres Wasser. Die Grenze zwischen beiden, an der die Dichte schnell ansteigt, bezeichnet man als Thermokline. Energie aus der warmen Oberflächenschicht gelangt nur dann in die Tiefe, wenn sich diese Wassermassen mischen – zum Beispiel durch interne Wellen an der Grenzschicht und andere Prozesse.

Ein rätselhafter Sprung der Meerestemperaturen

Doch seit einigen Jahren ist die durchmischte Schicht an der Oberfläche weltweit mächtiger geworden, wie eine aktuelle Veröffentlichung von Schmidtkos Arbeitsgruppe zeigt. Und das hat Folgen für den Energietransport. Wenn die leichte Oberflächenschicht weiter in die Tiefe reicht, wird der Übergangsbereich, in dem die Dichte zunimmt, quasi zusammengedrückt – und der Dichteanstieg steiler. Die größeren Unterschiede auf kleinerem Raum erschweren die Durchmischung, und mehr Wärme bleibt in der Oberflächenschicht. Die Meeresoberfläche wird heißer und heizt auch die Atmosphäre auf.

Dieser langfristige Prozess allerdings erklärt nicht das größte Mysterium: Was geschah im Frühjahr 2023? Binnen zweier Monate, zwischen März und Mai, wechselten die Meerestemperaturen von bloß warm auf Rekorde jenseits jeglicher historischen Vorbilder. Seither sind sie dort geblieben. Fachleute versuchen nun zu entschlüsseln, warum sich das Klima so außergewöhnlich verhält. »Wir können das nicht global an einem Mechanismus festmachen, da gibt es regional sicher unterschiedliche Aspekte, die eine Rolle spielen«, sagt Schmidtko.

Ein Indiz bietet die Energiebilanz der Erde. Unser Planet erhält Strahlungsenergie von der Sonne und gibt seinerseits längerwellige Infrarotstrahlung in den Weltraum ab. Durch die zusätzlichen Treibhausgase nimmt er derzeit langfristig mehr Energie auf, als er abstrahlt – dadurch erwärmt sich das Klima. Doch wie hoch der zusätzliche Energieeintrag ist, schwankt von Jahr zu Jahr.

»Eine der wichtigsten Ursachen ist das Abkapseln der Oberfläche vom tiefen Ozean«Sunke Schmidtko, GEOMAR

2023 habe die Erde besonders viel zusätzliche Energie aufgenommen, erklärt Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) – und das entgegen den Erwartungen. »Für mich ist eine große Überraschung, dass das Ungleichgewicht so hoch ist«, sagt er. Eigentlich nämlich, führt er weiter aus, sei die Erde unter dem Einfluss eines mächtigen Wettermusters, durch das die Erde tendenziell Energie abgibt: El Niño.

Ein Teil der Wärme kommt von El Niño

Tatsächlich ist El Niño ein wichtiger Aspekt des Klimarätsels von 2023 – denn er ist für einen großen Teil der Erwärmung des Jahres 2023 verantwortlich. Das Klimapendel aus El Niño und La Niña verteilt enorme Wärmemengen zwischen Ozean und Atmosphäre um. Zuletzt herrschte drei Jahre lang La-Niña-Klima, doch 2023 formierte sich ein starker El Niño, und in diesem Zustand sind die Weltmeere und die Atmosphäre wärmer. El-Niño-Jahre sind gemeinhin Rekordjahre, zuletzt 1998 und 2016.

Es klingt erst einmal überraschend, dass die Erde ausgerechnet in warmen Jahren weniger Energie zusätzlich aufnimmt. Dieser Effekt entsteht, weil El Niño normalerweise bereits im Ozean vorhandene Energie nur umverteilt. Er erwärmt die Meeresoberfläche und die Atmosphäre quasi von unten, und dadurch strahlt die Erde mehr Energie in den Weltraum ab. Ein hohes Ungleichgewicht dagegen, wie 2023, deutet darauf hin, dass zusätzliche Energie von oben in den Ozean strömt und das Wasser aufheizt. Das bestätigt, was Fachleute schon Mitte 2023 vermuteten: El Niño spielt zwar eine Rolle bei den hohen Temperaturen, aber jenseits davon geschieht noch etwas anderes, Neues.

Das Klimaphänomen erkläre auch dieses Jahr einen Teil der hohen Meerestemperaturen, sagt Helge Gößling vom AWI. »Der Indische Ozean zum Beispiel war im Rekordjahr 2016 ähnlich warm wie jetzt.« Angesichts von El Niño seien die Temperaturen in den meisten Ozeanen also gar nicht so außergewöhnlich hoch, sagt er. Mit einer entscheidenden Ausnahme: »Das wirklich Interessante ist, was gerade im Atlantik los ist.« Dort nämlich ist das Oberflächenwasser besonders warm, und diese Anomalie fiel 2023 als Erstes auf.

Der Nordatlantik war im Juli 2023 mehr als ein Grad wärmer als normal zu dieser Jahreszeit – die Abweichung ist damit doppelt so groß wie in den Ozeanen insgesamt. Neben El Niño trage das Meer vor Europas Haustür den größten Anteil zur globalen Anomalie bei, sagt Gößling. Für den Atlantik spielt El Niño allerdings eine geringere Rolle. Erste Vermutungen über die Ursache für die hohen Temperaturen dort konzentrierten sich deshalb auf lokale Faktoren.

Der Atlantik tanzt aus der Reihe

So gilt seit 2020 eine Regelung, die schwefelarme Schiffstreibstoffe vorschreibt – durch die sind die Licht streuenden Schwefelaerosole in der Atmosphäre zurückgegangen. Mehr Sonnenlicht trifft dadurch aufs Wasser und erwärmt es. Auf dem stark befahrenen Atlantik könnte dieser Effekt deutliche Auswirkungen haben. Auch die in der ersten Jahreshälfte schwächeren Passatwinde waren laut Gößling möglicherweise beteiligt. »Man hat dann eine schwächere Durchmischung, so dass die oberflächennahe Schicht dünner ist und von der Sonne im Frühling und Sommer stärker erwärmt wird.«

Manche Fachleute, darunter Gößling, vermuten zudem, dass die großräumigen Strömungssysteme der Ozeane eine Rolle bei der ungewöhnlichen Wärme im Atlantik spielen. »Seit Dezember ist der Südatlantik sehr warm. Auch das ist sehr interessant.« Das könne eine Art Hitzestau in den Tropen anzeigen, der daher stammt, dass warmes Wasser mit der atlantischen Oberflächenströmung langsamer nach Norden transportiert wird. Das lässt sich ebenfalls auf die schwächeren Passatwinde zurückführen – die Strömung ist Teil des Subtropenwirbels, eines Strömungsrings, der von diesem Windsystem angetrieben wird.

Ein weiterer möglicher Hinweis auf die Rolle der Strömungen ist ein Band warmen Wassers, das sich von Westeuropa bis vor die Küste Afrikas erstreckt. Dieser Bereich ist normalerweise kühler, weil hier am Ostrand des Subtropenwirbels Wasser von Norden nach Süden fließt. Das Problem dabei ist, dass der Einfluss der Strömungen allein zu gering ist. »Eine Abschätzung der Größenordnung spricht dagegen, dass dies eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Anomalie gespielt hat«, sagt Stefan Rahmstorf, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

»Wahrscheinlicher sind Veränderungen in den Wärmeflüssen durch die Oberfläche der Ozeane«, erklärt er. Messungen der irdischen Strahlungsbilanz stützen diese Vermutung. Das Energieungleichgewicht der Erde hat derzeit einen Rekordstand erreicht. Gemessen an der eingestrahlten Sonnenenergie gibt die Erde aktuell so wenig Infrarotstrahlung ab wie noch nie seit Beginn der Messungen. Wohin aber verschwindet die Energie, die vorher ins All abgestrahlt wurde?

Zusätzliche Energie im Erdsystem

Fachleute diskutieren deswegen bereits seit 2023 mehrere mögliche Quellen für die zusätzliche Energie im Erdsystem. Eine davon ist die Sonne. Unser Zentralgestirn ist derzeit wieder nahe dem Höhepunkt des Sonnenfleckenzyklus und jetzt schon aktiver als auf dem Höhepunkt des letzten, allerdings recht schwachen Zyklus. Das hat Auswirkungen auf die Temperatur der Erde. Eine weitere Wärmequelle ist die Eruption des Vulkans Hunga Tonga-Hunga Ha'apai im Pazifik. Dessen Ausbruch hatte, vermuten Fachleute, ganz andere Folgen als normale Vulkanausbrüche. Statt reichlich kühlender Schwefelaerosole schleuderte er viel Wasser in die Stratosphäre – das dort langwellige Strahlung zur Erde zurückwirft und so den Treibhauseffekt verstärkt.

Beide Faktoren allerdings erhöhen die Temperatur der Welt nur um wenige Prozent eines Grades. Und keiner der vorhandenen Einflüsse erklärt plausibel, was genau sich um den April 2023 herum weltweit so dramatisch änderte. So traten die Vorschriften für Schiffsdiesel schon 2020 in Kraft, der Vulkan Hunga Tonga-Hunga Ha'apai brach bereits im Januar 2022 aus, und die Oberflächenschicht der Ozeane wird schon seit Jahren dicker. Die beiden tatsächlich erst im Jahr 2023 einsetzenden Effekte, El Niño und die schwächelnden Passatwinde, reichen nicht aus, um den drastischen Erwärmungsschub zu begründen. Dagegen bieten längerfristige Trends, wie die globale Erwärmung allgemein oder die verdickte Mischungsschicht der Ozeane, keine Erklärung dafür, dass das Meer ausgerechnet im Frühling 2023 sprunghaft wärmer wurde.

»Es gibt ein Feedback zwischen Meerestemperaturen und Wolken«Helge Gößling, Alfred-Wegener-Institut

Eine mögliche Lösung des Rätsels sind Rückkopplungsmechanismen in Ozean und Atmosphäre. Sie können abrupte Veränderungen verursachen, wenn ein Schwellenwert erreicht wird oder äußere Einflüsse das System stören. Sunke Schmidtko hat den Verdacht, dass die schwächere Durchmischung der Ozeane beteiligt ist. »Es kann auch im Schichtungsverhalten des Ozeans gewisse Kipppunkte geben«, sagt er. Ein möglicher Ausgangspunkt ist der milde Winter 2022/2023, einer der wärmsten bisher beiderseits des Nordatlantiks.

Ein warmer Winter, erklärt Schmidtko, könne einen sich selbst verstärkenden Prozess in Gang setzen. Im Winter nämlich bildet sich in den gemäßigten Breiten an der Oberfläche kaltes, dichtes Wasser, das in tiefere Schichten absinkt und die scharfe Grenze zwischen Mischungsschicht und dem darunterliegenden Wasser durcheinanderbringt. Im Frühling dauert es dann erst einmal eine Weile, bis sich die stabile Schicht ausgebildet hat und sich wieder erwärmen kann. Ist der Winter dagegen mild, bleibt die Mischungsschicht stabil und kann sich im Sommer schneller und stärker aufheizen. Und je wärmer das Wasser, desto höher die Wahrscheinlichkeit auf milde Winter. »Das sind zwei Feedback-Mechanismen, die nebeneinander wirken und sich gegenseitig verstärken können«, sagt der Forscher.

Ein Kipppunkt im Meer

Helge Gößling vermutet, dass eine weitere Rückkopplung die ozeanische Wärme verstärkt hat. »Es gibt ein Feedback zwischen Meerestemperaturen und Wolken.«. Die Zusammenhänge seien recht komplex, aber eine wärmere Meeresoberfläche führe in bestimmten Situationen zu weniger Wolkenbildung – ein Effekt, der aus diversen Meeresregionen bekannt ist. »Dadurch bekommt man mehr Sonneneinstrahlung auf den Ozean, und die Temperatur steigt weiter.« Vorläufige Analysen deuteten tatsächlich darauf hin, dass 2023 weltweit die Sonneneinstrahlung durch geringere Bewölkung höher gewesen sein könnte, erklärt der Forscher.

Das weist darauf hin, dass sich bei den plötzlich stark steigenden Meerestemperaturen des Jahres 2023 mehrere Faktoren gegenseitig aufschaukelten. Zum einen langfristige Trends, die die Welt und die Ozeane wärmer machen und mehr Wärme an der Oberfläche des Meeres ansammeln. Zum anderen eine Reihe von speziellen Bedingungen wie El Niño, die schwachen Passatwinde und der milde Winter 2023, die die Weltmeere und besonders den Atlantik im Frühjahr zusätzlich erwärmten. Beides zusammen könnte dann eine Serie sich selbst verstärkender Effekte ausgelöst haben, die binnen kurzer Zeit einen eigentlich langfristigen Erwärmungstrend in eine schnelle, deutliche Aufheizung der Meere verwandelten.

Bisher sind das jedoch nur Schlussfolgerungen und Vermutungen, denn die verschiedenen Einflüsse sind oft nicht leicht zu messen und beeinflussen sich gegenseitig. »Das macht es für uns sehr schwer, das konkret zuzuordnen«, sagt Schmidtko deshalb. Das ist umso wichtiger, weil es auch beantworten könnte, ob dieser außerordentliche Zustand jetzt das neue Normal ist – oder die Erwärmung wie nach früheren El-Niño-Jahren zum langjährigen Trend zurückkehrt.

Wenn nämlich das Extremjahr 2023 nur eine ungewöhnlich starke Schwankung war, dann sollten die Temperaturen etwa im August 2024 wieder sinken, schrieb zum Beispiel der Klimaforscher Gavin Schmidt in einem Artikel bei »Nature«. Doch die Hitze könnte auch bleiben. Weitere ungewöhnliche Klimaereignisse wie das ebenfalls unerwartet extreme Rekordminimum des Antarktischen Meereises deuten womöglich darauf hin, dass gerade etwas Unerwartetes im Erdsystem passiert. 2023 könnte eben auch eine grundsätzliche Veränderung in den Weltmeeren und im Klimawandel markieren. »Der Ozean hat bisher einen großen Teil der menschlichen Erwärmung aufgenommen», erklärt Sunke Schmidtko. «In Zukunft wird er sie vielleicht nicht mehr so stark abfangen.«.

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  • Quellen

Kuhlbrodt, T. et al.: A Glimpse into the Future: The 2023 Ocean Temperature and Sea Ice Extremes in the Context of Longer-Term Climate Change. Bulletin of the American Meteorological Society 105, 2024

Roch, M. et al.: Recent large-scale mixed layer and vertical stratification maxima changes. Frontiers in Marine Science 10, 2023

Schmidt, G.: Climate models can't explain 2023’s huge heat anomaly – we could be in uncharted territory. Nature 627, 2024

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