Reaktoranomalie: Rückschlag für "sterile" Neutrinos
Für Physiker gehören die Messungen zu den rätselhaftesten Beobachtungen der letzten Jahre: Wiederholt haben Detektoren, die den geisterhaften Neutrinos im Umfeld von Atomkraftwerken nachspüren, weniger der Teilchen nachgewiesen als erwartet. Als Erklärung für diese "Reaktor-Antineutrino-Anomalie" schlugen Wissenschaftler unter anderem die Existenz einer neuen, bisher unbekannten Neutrinogattung vor. Möglicherweise wandeln sich einige der Geisterteilchen im Flug in "sterile", also nicht nachweisbare Neutrinos um, was die Diskrepanz zwischen Theorie und Beobachtung erklären könnte, so die Forscher.
Diese Interpretation fand auch deshalb viel Beachtung, weil sterile Neutrinos als Dunkle-Materie-Teilchen in Frage kämen, die es in großer Anzahl im Weltall geben müsste. Eine Messung der chinesisch-amerikanischen Daya-Bay-Kollaboration lässt diese Deutung nun allerdings fragwürdig erscheinen. Stattdessen wirkt es so, als hätten die Physiker bisher falsch berechnet, wie häufig gewöhnliche Geisterteilchen bei der Spaltung von Atomkernen entstehen.
Mit vier Detektoren haben die Daya-Bay-Forscher zwischen 2011 und 2015 gut zwei Millionen Antineutrinos aufgefangen, die aus den sechs Kernreaktoren des Daya-Wan-Atomkomplexes in der Nähe von Shenzhen, China, stammen. Dabei konnten die Wissenschaftler nachvollziehen, wie stark einzelne chemische Elemente in den Brennstäben zum Neutrinofluss beitrugen. In Kernkraftwerken werden unter anderem Uran-235- und Plutonium-239-Atomkerne zertrümmert.
Im Fall von Uran-235 erreichten acht Prozent weniger Antineutrinos die Detektoren von Daya Bay, als ein verbreitetes Modell des Kernzerfalls vorhersagt – hier hatte die Anomalie also weiter Bestand. Bei der Analyse der Antineutrinos aus Plutonium-239 zeigte sich hingegen keine Spur der zuvor beobachteten Diskrepanz. Dies würde man jedoch erwarten, wenn sich einige der ausgesandten Teilchen im Flug tatsächlich in "sterile" Neutrinos verwandeln. Aus Sicht der Forscher ist die plausibelste Erklärung, dass das Modell für den Zerfall von Uran-235 ungenau ist – vermutlich sage es eine zu hohe Rate der emittierten Antineutrinos voraus. Weitere Messungen sollen diese Vermutung bestätigen.
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