Evolution: Rückwärtiger Rüstungswettlauf
Süßwasserbewohner sollten eigentlich frohlocken, wenn ihr Gewässer wieder sauberer wird. Doch Stichlinge, die sich einst in trüben Fluten vor gefräßigen Feinden verstecken konnten, sehen sich durch Umweltschutzmaßnahmen genötigt, längst entsorgte Rüstungen neu anzulegen - und offenbaren damit eine Evolution im Rückwärtsgang.
"Vorwärts immer, rückwärts nimmer!", pflegte einst ein ostdeutscher Spitzenpolitiker zu sagen, dessen Zeit allerdings längst abgelaufen war. Ob diese Weisheit für die Politik anwendbar ist, sei dahingestellt – für die biologische Evolution gilt sie allemal: Stets entwickelt sie ihre Innovationen aus Althergebrachtem und schreitet damit permanent voran. So entstand beispielsweise aus den Kieferknochen eines Fisches das Mittelohr der Säuger, dieses wird sich jedoch niemals wieder zu einem Kiefergelenk zurückverwandeln. Eine "Rückwärtsevolution" gibt es nicht – oder doch?
Die Folgen blieben nicht aus. Die Eutrophierung führte zu einem massenhaften Algenwachstum – der Lake Washington verwandelte sich in eine trübe, stinkende Jauchegrube. Mit einem ökologischen Kraftakt, der 140 Millionen US-Dollar verschlang, konnte der See in den 1960er Jahren wieder gerettet werden. Die Sichttiefe, die zuvor bei 75 Zentimeter lag, stieg 1968 bereits auf drei Meter an; heute hat sie sich verzehnfacht.
Die Bewohner des Gewässers sollten über diese Umweltschutzmaßnahmen hoch erfreut sein. Doch dem Dreistachligen Stichling (Gasterosteus aculeatus) behagte die klare Sicht überhaupt nicht, wie die Forscher um Catherine Peichel vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle feststellten. Denn der Fisch, der zuvor in den trüben Fluten ein verborgenes Leben führen konnte, sieht sich nun den Nachstellungen hungriger Forellen der Art Oncorhynchus clarki ausgesetzt.
So hielten es nach den Beobachtungen der Forscher auch die Stichlinge im Lake Washington in den 1960er Jahren: Nur sechs Prozent der Tiere waren damals vollkommen gepanzert. Heute greift dagegen knapp die Hälfte des Bestandes auf den alten Schutz zurück; ein weiteres Drittel hat zumindest teilweise aufgerüstet.
Die Wissenschaftler kennen auch die Ursache für diesen rückwärtigen Rüstungswettlauf: Das Gen Eda kommt in zwei Versionen vor, von dem die erste für eine geringe, die zweite für eine starke Panzerung der Stichlinge sorgt.
Wie dem auch sei – Erich Honeckers Ansicht vom Fortschritt scheint damit auch für die Biologie widerlegt: Innerhalb nur eines halben Jahrhunderts haben die Stichlinge des Lake Washington einen evolutionären Schritt zurück gemacht. "Es gibt in der Natur nicht viele dokumentierte Beispiele für eine rückwärtige Evolution", meint Peichel. "Aber vielleicht liegt das nur daran, weil wir nicht richtig hingeschaut haben."
Begeben wir uns in den US-Bundesstaat Washington. Hier liegt, in unmittelbarer Nähe der Stadt Seattle, der Lake Washington – ein schönes, klares Gewässer, in dem sich zahlreiche Feizeitkapitäne tummeln und eine unberührte Natur genießen. Vor 50 Jahren sah das jedoch ganz anders aus: Der See diente als Entsorgungsbecken, in das hemmungslos 75 Millionen Liter phosphathaltiger Abwässer Tag für Tag eingeleitet wurden.
Die Folgen blieben nicht aus. Die Eutrophierung führte zu einem massenhaften Algenwachstum – der Lake Washington verwandelte sich in eine trübe, stinkende Jauchegrube. Mit einem ökologischen Kraftakt, der 140 Millionen US-Dollar verschlang, konnte der See in den 1960er Jahren wieder gerettet werden. Die Sichttiefe, die zuvor bei 75 Zentimeter lag, stieg 1968 bereits auf drei Meter an; heute hat sie sich verzehnfacht.
Die Bewohner des Gewässers sollten über diese Umweltschutzmaßnahmen hoch erfreut sein. Doch dem Dreistachligen Stichling (Gasterosteus aculeatus) behagte die klare Sicht überhaupt nicht, wie die Forscher um Catherine Peichel vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle feststellten. Denn der Fisch, der zuvor in den trüben Fluten ein verborgenes Leben führen konnte, sieht sich nun den Nachstellungen hungriger Forellen der Art Oncorhynchus clarki ausgesetzt.
Der Stichling griff auf Abwehrtechniken zurück, die eigentlich als längst verschrottet galten. Denn statt Schuppen besitzen die Tiere dachziegelartig überlappende Knochenplatten, mit denen sie sich vor Fressfeinden schützen können. Diese Rüstungen kommen jedoch hauptsächlich bei Stichlingsvarianten vor, die im Meer leben – Süßwasserbewohner haben längst abgerüstet und beschränken sich meist nur noch auf ein paar Platten im vorderen Rumpfbereich.
So hielten es nach den Beobachtungen der Forscher auch die Stichlinge im Lake Washington in den 1960er Jahren: Nur sechs Prozent der Tiere waren damals vollkommen gepanzert. Heute greift dagegen knapp die Hälfte des Bestandes auf den alten Schutz zurück; ein weiteres Drittel hat zumindest teilweise aufgerüstet.
Die Wissenschaftler kennen auch die Ursache für diesen rückwärtigen Rüstungswettlauf: Das Gen Eda kommt in zwei Versionen vor, von dem die erste für eine geringe, die zweite für eine starke Panzerung der Stichlinge sorgt.
Vielleicht haben wir nur nicht richtig hingeschaut"
(Catherine Peichel)
Interessanterweise kann das gleiche Gen beim Menschen ektodermale Dysplasie auslösen – einer Gruppe erblich bedingter Fehlbildungen der Haut sowie von Fingernägeln, Haare oder Zähne. "Es gibt vermutlich einen entwicklungsbiologischen Zusammenhang zwischen diesen äußeren Strukturen beim Menschen und den Knochenplatten des Fisches", erläutert Peichel. "Und es sieht so aus, dass das Eda-Gen vermutlich wichtig für die menschliche Evolution war, auch wenn wir den genauen Zusammenhang nicht kennen." (Catherine Peichel)
Wie dem auch sei – Erich Honeckers Ansicht vom Fortschritt scheint damit auch für die Biologie widerlegt: Innerhalb nur eines halben Jahrhunderts haben die Stichlinge des Lake Washington einen evolutionären Schritt zurück gemacht. "Es gibt in der Natur nicht viele dokumentierte Beispiele für eine rückwärtige Evolution", meint Peichel. "Aber vielleicht liegt das nur daran, weil wir nicht richtig hingeschaut haben."
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