»Russische Grippe«: Was für eine Corona-Pandemie im 19. Jahrhundert spricht
In der Bevölkerung war die Erinnerung an die letzte Pandemie längst verblasst, als Reisende das nächste Virus nach Europa brachten. Es verbreitete sich explosionsartig. Innerhalb von vier Monaten trug die Seuche Tod und Schrecken rund um den Globus – die Rede ist von der so genannten Russischen Grippe, die ab 1889 wütete. Der 15-jährige Schüler Winston Churchill notierte, sie sei eine »abscheuliche, unersättliche Geißel«, die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« beschrieb am 5. Dezember 1889 die Situation in St. Petersburg: »Fast Dreiviertel aller über den Krankenbetten angebrachten Schilder trägt den Namen ›Influenza‹ und die Hospitaldirektion ist eilig bemüht um die Vermehrung der Krankenbetten.«
Die Krankheit sei aber noch auf Russland beschränkt und eigentlich ungefährlich, schrieb die Zeitung weiter. Das erwies sich als voreilig. Am 10. Januar 1890 vermeldete die »Zürcherische Freitagszeitung«, dass in New York 100 000 darniederlägen, dass die deutsche Kaiserin Augusta an der Influenza gestorben sei, der spanische König erkrankt sei genau wie die britische Königin Victoria und der britische Premierminister. Churchill schrieb, die Symptome machten keinen Unterschied zwischen den Klassen: »The rich, the poor, the high, the low – alike the various symptoms know ...«
»Ähnlich wie die jetzige Pandemie traf die Infektion zunächst Menschen, die viel reisten und die viele Kontakte hatten – also Geschäftsleute, Politiker und Wohlhabende«, sagt Robert Jütte, Medizinhistoriker und langjähriger Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. »Später zeigte sich, dass die sozial schwächer Gestellten stärker betroffen waren.« Am Ende starben schätzungsweise eine Million Menschen aus einer Weltbevölkerung von rund 1,5 Milliarden. Die Parallelen zu heute sind verblüffend – und sie gehen über die schlichte Ausbreitung der Seuche hinaus. Es gibt einige Indizien, die darauf hindeuten, dass die so genannte Russische Grippe nicht durch einen Influenzaerreger, sondern durch ein Coronavirus namens OC43 verursacht wurde.
Über Rind und Schwein zum Menschen
»Es gibt Studien, die nahelegen, dass dieses Virus ungefähr 1890 auf den Menschen übergegangen ist«, sagt Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie an der Uni Zürich. Eine Untersuchung belgischer Forscher brachte 2005 das Ergebnis, dass das Genom von OC43 große Ähnlichkeit mit einem Coronavirus hat, das bei Rindern vorkommt (Bovine Coronavirus , BCoV). Anhand der Mutationen, in denen sich dieses von OC34 unterscheidet, errechneten die Wissenschaftler, wann das Coronavirus vom Rind auf den Menschen übergegangen sein könnte: um 1890.
Dänische Fachleute bestätigten diese Kalkulation 2020. Der zeitliche Zusammenhang ist aber längst nicht der einzige Hinweis. »Viele Menschen in dicht besiedelten Regionen kamen damals in nahen Kontakt zu Rindererregern, was das Risiko für Ansteckungen zwischen den Arten steigerte«, schreibt der Mikrobiologe Harald Brüssow, der an der Königlichen Universität Leuven, Belgien, forscht, in einem Artikel zum Ursprung der Russischen Grippe im Fachjournal »Microbial Biotechnology«. Rinderseuchen traten im 19. Jahrhundert sehr häufig auf. Menschen lebten eng zusammen mit Nutztieren – und verschiedene Spezies von Tieren untereinander ebenfalls.
Letzteres erklärt womöglich einen weiteren überraschenden Befund: In einem einzelnen Gen, E genannt, ist das heutige OC43 einem anderen Virus sogar noch ähnlicher als BCoV. In diesem Erbgutabschnitt teilt es 99,6 Prozent seiner Basen mit PHEV (porcine hemagglutinating encephalomyelitis virus) – einem anderen Coronavirus, das in Schweinen zirkuliert. Möglicherweise war ein Schwein oder ein Rind mit beiden Viren infiziert, und es gab zwischen beiden Erregern einen genetischen Austausch, Rekombination genannt. »Die Anpassung von BCoV an den menschlichen Wirt und ein Rekombinationsereignis zwischen BCoV und PHEV könnten zu einem neuen Typ von Coronavirus mit einer anderen Artspezifität geführt haben«, konstatieren die Autoren. Auf diese Weise könne das neue menschliche Corona-Virus entstanden sein. Eine Zoonose mit Zwischenwirt wird auch als Ursprung von Sars-CoV-2 diskutiert.
»Das Fehlen von Konzentration, die Depression und Angst erinnern sehr an das, was heute Long-Covid-Symptome genannt wird«Harald Brüssow
Neben den molekularen Belegen sprechen aber noch weitere Indizien für ein Coronavirus als Verursacher der so genannten Russischen Grippe: Die Symptome glichen viel mehr denen, die wir von Covid-19 kennen, als denen der Influenza. Wichtigste Quelle zu den Krankheitsbildern ist der »Parsons Report« aus England, der die Seuche detailliert beschreibt. Kinder waren demnach seltener von schweren Krankheitsverläufen betroffen, Männer stärker als Frauen, Tote gab es vor allem unter den Alten.
In anderen Quellen, wie dem Bericht der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin über die Seuche, ist von vermehrtem Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn die Rede. Und alle damaligen Schilderungen erwähnen die häufige Rate von Menschen, die auch lange nach der akuten Infektion noch gesundheitliche Problem hatten. »Manche Patienten bekommen wöchentlich eine Attacke, andere erleiden Rückfälle, die für viele Wochen nach der ersten Infektion anhalten«, heißt es im »Parsons Report«. »Sie kann die Form von großer Beeinträchtigung mentaler und physischer Kraft annehmen.«
Die Russische Grippe verursachte ähnliche Symptome wie Covid-19
»Das Fehlen von Konzentration, die Depression und Angst erinnern sehr an das, was heute Long-Covid-Symptome genannt wird«, konstatiert Harald Brüssow. Ein Beweis dafür, dass die Russische Grippe durch OC43 ausgelöst wurde, ist all das noch nicht – und diesen zu finden, wird schwierig. »Coronaviren nutzen als Erbinformation RNA, und die ist nicht sehr stabil«, sagt Christian Münz. Unmöglich ist es allerdings nicht. Den Erreger der Spanischen Grippe identifizierten Fachleute um Ann Reid und Jeffery Taubenberger anhand vieler Bruchstücke aus konserviertem Lungengewebe. Taubenberger forscht heute am National Institute of Allergy and Infectious Diseases der USA – und sucht nun nach entsprechenden Präparaten aus der Zeit der Russischen Grippe, die den Erreger enthalten könnten. Bislang erfolglos.
Auch wenn der genaue Erreger bisher nicht nachgewiesen ist, gilt: Das Beispiel der Russischen Grippe ist in jedem Fall lehrreich. »Wir können daran gut sehen, wie eine Pandemie eines Atemwegsvirus verläuft«, sagt Christian Münz. »Denn die schnelle Ausbreitung damals legt nahe, dass das Virus auf eine Bevölkerung traf, die – wie jetzt bei Covid-19 – keine nennenswerte Immunität gegen den Erreger hatte.«
»Auch mit dem jetzigen Virus werden wir noch Jahre leben müssen«Robert Jütte
Wie also verlief die Pandemie damals – und vor allem wie endete sie? Es gab vier Wellen zwischen 1889 und 1895. »Die ersten vier waren ziemlich heftig, was die Todesraten betrifft«, sagt Historiker Robert Jütte. »Bis zum Jahr 1900 musste sich die Welt mit dem Erreger beschäftigen – und auch mit dem jetzigen Virus werden wir noch Jahre leben müssen.«
Christian Münz sieht ebenfalls deutliche Parallelen zur aktuellen Coronapandemie: »Dass der Erreger in der kalten Jahreszeit Wellen verursacht, dass sich gegen ihn eine Immunität aufbaut, die dann aber nachlässt und weniger schwere Infektionen zulässt, das beobachten wir ja im Moment bei Sars-CoV-2 auch.«
Entsprechend ist es bei OC43, das gemeinsam mit einem anderen humanen Coronavirus (229E) ungefähr 30 Prozent saisonaler Erkältungskrankheiten hervorruft. »Alle zwei, drei Jahre stecken wir uns mit ihnen an und sind danach wieder eine Weile geschützt«, sagt Richard Neher, Professor am Biozentrum Basel, der die Evolution von Viren erforscht und modelliert. Diese Viren lösen Erkältungskrankheiten aus – dass sie für uns heute harmlos sind, hängt vor allem damit zusammen, dass das Immunsystem sich durch die ständige Konfrontation angepasst hat. »Wahrscheinlich steuern wir bei Sars-CoV-2 auf eine Situation wie bei der Influenza zu: Winterwellen, in denen es viele milde, aber auch einige schwere Krankheitsverläufe geben wird«, vermutet Richard Neher. »Es ist plausibel, dass wir dann Risikogruppen jährlich wie gegen die Grippe impfen.«
Auch Long Covid ist nicht neu
Die Covid-19-Pandemie unterscheidet sich grundlegend von der Russischen Grippe, und zwar durch die menschlichen Eingriffe. Kontaktbeschränkungen und Infektionsschutz verhinderten die Durchseuchung, die Impfung schaffte für den Großteil der Bevölkerung eine Immunisierung ohne Erkrankung. Bei der Russischen Grippe dagegen brauchte es fünf Winter, bis die Pandemie auf Grund der durch Infektion erworbenen Immunität abklang. »Wenn man heute zweimal gegen Sars-CoV-2 geimpft ist, geboostert ist und noch einmal Omikron überstanden hat, dann ist man immunologisch dort, wo die Bevölkerung damals am Ende der Pandemie war«, sagt Münz.
Bislang ist allerdings nicht ganz sicher, ob Sars-CoV-2 mit einer so aufgebauten Immunität für den Einzelnen als erledigt gelten kann. »Ob der Omikron-Boost reicht, um dauerhaft immun gegen schwere Covid-Erkrankungen zu sein, ist noch nicht klar«, sagt Münz. »Zwar sieht es im Moment gut aus, aber es könnten auch neue Varianten auftauchen oder solche wie Delta zurückkehren.« Dabei hilft ebenso der Vergleich mit OC43 nicht, denn es gibt keine Proben aus den vergangenen 100 Jahren, anhand derer die Mutationen dieses Virus nachvollzogen werden könnten.
Eine weitere Unbekannte ist heute Long Covid. »Aus den historischen Aufzeichnungen wissen wir, dass auch Überlebende der Russischen Grippe oft mit psychischen Folgen zu kämpfen hatten«, sagt Jütte. »Man sprach damals von Post-Influenzaler Depression.« Im »Parsons Report« heißt es, dass solche Symptome bei neun Prozent der vormals Erkrankten auftraten.
Bezüglich Langzeitfolgen der Virusinfektion sieht es allerdings für die Covid-19-Pandemie besser aus als damals. Die Mehrzahl der Menschen ist geimpft – und aktuelle Studien legen nahe, dass das Risiko für Long Covid dadurch massiv sinkt oder sogar komplett verschwindet. So lang die Pandemie sich für viele anfühlte – verglichen mit der Russischen Grippe hat sie schnell ihren Schrecken verloren.
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