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Krieg in der Ukraine: Gestörte Kontakte zu russischen Kollegen

Kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verhängten die deutschen Wissenschaftsorganisationen ein Embargo gegen Russland. Es trifft die Forschung spürbar – auch hier zu Lande.
Zwei Forscher untersuchen die Schneestruktur in der sibirischen Tundra
Zwei Männer untersuchen den arktischen Schnee. Die Samoylov-Forschungsstation in der sibirischen Tundra wurde gemeinsam von russischen und deutschen Partnern betrieben. Damit ist jetzt Schluss.

Ein kantiger Zweckbau auf Stelzen, mitten im Nirgendwo der sibirischen Tundra. Im Winter kann es hier minus 45 Grad kalt werden, im Sommer erreichen die Temperaturen immerhin lauwarme 20 Grad. Dafür steigen dann Schwärme von Mücken aus der feuchten Bodenschicht über dem Permafrost auf und überfallen alle, die vor die Tür der Samoylov-Forschungsstation treten. Trotzdem sei sie immer gern auf die Insel im Lena-Delta gekommen, um dort den Klimawandel in der Arktis zu erforschen, erzählt Anne Morgenstern.

Seit 2018 nahmen sie und ihr Team regelmäßig Proben des Flusswassers. »Anhand der chemischen Zusammensetzung können wir sehen, welche Substanzen verlagert werden, und so unter anderem das Abtauen des Permafrosts und seine Folgen für den Arktischen Ozean studieren«, sagt die Wissenschaftlerin vom Alfred-Wegener-Institut – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam. Solche Messreihen sind auf eine Zeitspanne von vielen Jahren angelegt, um die Veränderungen zuverlässig zu erfassen. Doch für das aktuelle Projekt ist jetzt Schluss.

»Ziel ist es, national und international die russische Regierung so weit wie möglich zu isolieren«Bundesforschungsministerium in einem Statement Ende Februar

Das AWI hat die Kooperation beendet und folgt damit einem Beschluss, den die großen deutschen Forschungsgesellschaften in Abstimmung mit dem Bundesforschungsministerium (BMBF) Ende Februar gefasst haben – unmittelbar nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Forschungsprojekte und Programme mit staatlicher Beteiligung aus Russland wurden gestoppt. »Ziel ist es, national und international die russische Regierung so weit wie möglich zu isolieren«, erklärte das BMBF damals in einem Statement.

Beziehungen zu Russland sind vielfältig

Das Wissenschaftsembargo, das kurz darauf auf Belarus erweitert wurde, ist nicht das erste seiner Art. Auch gegen Südafrika gab es solche Maßnahmen in Zeiten der Apartheid, gegen den Iran gibt es sie teilweise bis heute. Die Beziehungen zu Russland sind jedoch so zahlreich und so vielfältig, dass dieser Beschluss nicht nur die russische, sondern auch die deutsche Forschung spürbar trifft. Geowissenschaftlerinnen wie Anne Morgenstern, deren Datenreihen plötzlich abreißen, sind ebenso betroffen wie Biologinnen, Physiker und weitere Wissenschaftlerinnen aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Auch in der Frage, wie ein solches Embargo in der Praxis ausgelegt wird, gibt es verschiedene Meinungen.

Funkstille, in doppelter Hinsicht, herrscht bei Icarus, einem hoch gelobten Projekt, mit dem das Verhalten von Tieren erforscht werden soll. Spezielle Sender, weniger als fünf Gramm leicht, wurden allerlei Spezies verpasst: Amseln, Kraniche, Zebras, Gnus und viele mehr wurden so präpariert in die Wildnis entlassen. Wie diese Tiere wandern, wie sie überleben und wie sie interagieren, zeichnen Antennen am russischen Teil der Internationalen Raumstation ISS auf. Die Daten werden zur Bodenkontrolle nach Moskau geschickt und erreichen von dort schließlich das Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz/Radolfzell, das Icarus gemeinsam mit der Russischen Akademie der Wissenschaften gestartet hatte.

Ein Jahr lang lief das System »besser und leistungsfähiger als zunächst gedacht«, sagt Uschi Müller, die Koordinatorin am MPI. Am 3. März trafen die letzten Daten bei ihr ein, seitdem kam nichts mehr aus Moskau. »Möglicherweise versuchen die russischen Kollegen, das System weiterzubetreiben, aber das wissen wir nicht.« Sie habe keinen Kontakt, scheue sich auch, ihn aufzunehmen, sagt die Forscherin. »Ich möchte nicht, dass ein russischer Kollege auf Grund einer Kommunikation mit deutschen Partnern in Gefahr gerät.«

Einige Publikationen gibt es bereits, doch der ersehnte Routinebetrieb, der Biologen aus aller Welt über Jahre mit Daten versorgen sollte, bleibt nun aus. Dem stehen nach Müllers Aussage »zwischen 20 und 30 Millionen Euro« gegenüber, die für den deutschen Anteil an Icarus aufgebracht worden waren.

Es gibt kaum Alternativen

Nun sucht das Team nach Alternativen. »Manche Tiere kehren an ihre Brutplätze zurück, dort können die Sender ausgelesen werden, wenn man bis auf einige hundert Meter an sie herankommt«, sagt sie. Das ist aufwändig, aber eine Chance. Die nächste Generation der Sender wird mit globalen terrestrischen Funknetzwerken des Internets der Dinge (IoT) kommunizieren können. Auch weltraumgestützte Beobachtungen soll es wieder geben: ab Herbst mit einem deutschen Nanosatelliten, der dann ins All geschossen wird, und ab 2026 mit den Forschungssatelliten GRACE-I, die derzeit noch konzipiert werden. Dafür müssen aber neue Tiere mit Sendern versehen werden.

Peter Predehl hat anders als Uschi Müller keine Alternative. Er und sein Team vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching haben mit dem Teleskop eROSITA das Weltall nach Röntgenquellen abgesucht. Es befindet sich auf dem russischen Weltraumsatelliten Spektrum-Röntgen-Gamma (SRG) und wurde nach Kriegsbeginn in einen Ruhemodus versetzt. Mehr als die Hälfte der geplanten acht Himmelsdurchmusterungen ist geschafft, Anfang 2023 sollen diese Daten publiziert werden. »Mit jeder weiteren Beobachtung steigt aber die Empfindlichkeit«, sagt Predehl. Gerade veränderliche Röntgenquellen – beispielsweise »ein supermassives Schwarzes Loch, das einen Stern zu fressen kriegt« – lassen sich umso besser erforschen, je länger und öfter sie beobachtet werden. Als Wissenschaftler würde er das Teleskop am liebsten sofort wieder einschalten, als Mensch hat er Verständnis für die Solidaritätsbekundung gegenüber den vom Ukrainekrieg Getroffenen und Bedrohten. Er kritisiert, dass andere Organisationen anders reagieren und nennt die europäischen und amerikanischen Raumfahrtagenturen ESA und NASA, die weiterhin gemeinsam mit der russischen Agentur Roskosmos die ISS betreiben.

Und selbst beim SRG-Satelliten gibt es Unterschiede. »Die NASA ist an einem russischen Teleskop namens ART-XC beteiligt, das auch auf dem Satelliten montiert ist, und hat die Zusammenarbeit nicht gestoppt«, sagt Predehl. Das heißt im Klartext: Amerikanische Wissenschaftler dürfen weiterhin Daten gewinnen, deutsche Forscherinnen und Forscher nicht.

Zwei Tage würde es dauern, eROSITA wieder aufzuwecken, sagt Predehl. Bislang deutet nichts darauf hin, dass dies geschieht. Eine Übernahme durch Russland allein, die kürzlich von Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin angekündigt worden war, ist bislang nicht erfolgt – auch russische Wissenschaftler hatten hier widersprochen. So lange müssen die Astrophysiker mit dem zurechtkommen, was das Teleskop bereits geliefert hat.

Arktisforscherin Anne Morgenstern steht vor einem ähnlichen Problem. »Dass die Datenreihe vom Lena-Delta abreißt, bereitet uns großes Kopfzerbrechen«, sagt sie. »Wir hoffen, dass die russischen Kollegen irgendwie weitermachen.« Das aber sei schwer, denn einige Analysen seien bislang in den Laboren des AWI gemacht worden. Zudem habe die deutsche Seite viel bei der Logistik unterstützt. »Natürlich ist der Wunsch da, dass es auf Samoylov weitergeht, aber es ist uns allen klar, dass dies derzeit unmöglich ist«, sagt Morgenstern. Das AWI verschiebe nun seinen Fokus, arbeite mehr in anderen Polarregionen wie Spitzbergen, Grönland oder Kanada.

Mit einigen Forscherinnen und Forschern in Russland hat sie aber weiterhin Kontakt. »Wir tauschen uns aus, fragen, wie es geht, was der andere so macht«, erläutert sie. Auch einen wissenschaftlichen Austausch gibt es: Das AWI prüft, welche Daten, die vor Kriegsbeginn erhoben wurden, ausgewertet und veröffentlicht werden können, um sie der weltweiten Community zugänglich zu machen. Schließlich handele es sich um Grundlagenforschung, die unter anderem dabei helfe, dem Klimawandel zu begegnen.

»Hier steht etwas Großes auf dem Spiel, Putin bedroht die freie, westliche Welt«Christian Stegmann, Direktor Astroteilchenphysik am Desy

Das Direktorium des Forschungszentrums Desy mit Standorten in Hamburg und Zeuthen bei Berlin verfolgt eine deutlich restriktivere Sanktionspolitik. Die geht so weit, dass es nicht mit russischen Einrichtungen auf einer Website erscheinen will, etwa bei Konferenzen. »Wir bitten darum, dass die Teilnehmer aus Russland als wissenschaftliche Persönlichkeiten, aber ohne Nennung ihres Instituts aufgeführt werden, oder bei allen diese Zuordnung gestrichen wird«, sagt Christian Stegmann, Direktor für den Bereich Astroteilchenphysik. Auch seien zunächst alle Publikationen mit russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gestoppt worden, nun werde von Fall zu Fall entschieden. Oft stünde man dabei vor einem Dilemma, gibt der Forscher zu. Beispielsweise bei großen Experimenten am Teilchenbeschleuniger LHC in Genf. »Wenn Daten da sind, gehören sie veröffentlicht«, sagt Stegmann. »Es wäre wissenschaftsethisch falsch, bestimmte Autoren von der Publikation zu streichen.« Der Kompromiss jetzt: Die Daten werden auf Preprint-Servern veröffentlicht unter den Namen der Kollaborationen wie CMS oder ATLAS.

Hoffnung auf bessere Zeiten

Wer in der Wissenschaft zum Thema Russland herumfragt, trifft vielfach auf Verständnis für die Beschlüsse, spürt Hoffnung auf bessere Zeiten und innere Zerrissenheit. Stegmann wird ausgesprochen deutlich: persönliche Kontakte – unbedingt erhalten, Zusammenarbeit mit Institutionen – geht gar nicht. »Hier steht etwas Großes auf dem Spiel, Putin bedroht die freie, westliche Welt«, sagt er. »Wir sind die Ersten, die wieder Brücken aufbauen, aber nicht in der jetzigen Situation.«

Zumal es dafür den Willen beider Seiten brauche, betont Ulrike Hillemann-Delaney, Leiterin des Bereichs Internationales an der TU Berlin. »Wenn ich sehe, dass die Rektoren russischer Universitäten das Vorgehen in der Ukraine unterstützen, kann ich diesen Willen nicht erkennen.« Sie hofft, dass eines Tages wieder Kooperationen möglich werden, aus mehreren Gründen. »Bei bestimmten globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Gesundheit ist ein Datenaustausch essenziell, diese Probleme können wir nicht ohne Russland lösen«, sagt sie. Zudem gebe es dort hervorragende Forscherinnen und Forscher, insbesondere in der Mathematik und den Naturwissenschaften. »Es wäre nur gut, wenn deren Expertise gehört und genutzt würde.« Auch der gegenseitige Austausch von Studierenden und Doktoranden, bei dem die jungen Menschen das jeweils andere Land kennen lernen, ist nach Ansicht von Hillemann-Delaney ein Gewinn. Der Kurs, jegliche Kooperationen einzufrieren, werde von den TU-Angehörigen »im Großen und Ganzen« mitgetragen, sagt sie. »Entsprechend den weiteren Entwicklungen müssen und werden wir die Maßnahmen auch künftig diskutieren.«

Mit jeder weiteren Kriegswoche verschärft sich die Situation. An großen Forschungsinfrastrukturen wie dem Röntgenlaser XFEL in Hamburg und dem Teilchenbeschleuniger FAIR in Darmstadt wird längst diskutiert, ob man Russland als Partner loswerden sollte, auch wenn damit Millionenbeträge verloren gehen. Noch ist nichts entschieden.

»Der Mut der Menschen schwindet schnell, wenn sie merken, von allen Seiten verlassen zu werden«Stefan Schönert, Physiker

Derweil werden die russischen Forscherinnen und Forscher weiter isoliert. Manche unterstützen das Regime, manche passen sich an – aus welchen Gründen auch immer –, manche opponieren wie jene, die Ende Februar einen offenen Brief gegen den Krieg auf der russischen Website für Nachrichten aus der Wissenschaft »trv-science.ru« unterzeichneten, der mittlerweile allerdings nicht mehr abrufbar ist.

»Sie haben damit ihre Karriere aufs Spiel gesetzt und vielleicht noch mehr«, sagt Stefan Schönert. Der Physiker von der TU München hat langjährige Kontakte in das Land und meint: »Wenn das Regime eines Tages endet, braucht es solche Menschen, um die Gesellschaft wieder aufzubauen.« Er rät dringend, über sichere Kanäle den Kontakt zu den Kollegen aufrechtzuerhalten und »nicht nur übers Wetter zu reden«, sondern klarzumachen, dass man an ihrer Seite steht. »Der Mut der Menschen schwindet schnell, wenn sie merken, von allen Seiten verlassen zu werden.«

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