Taktische Nuklearwaffen: Warum die Gefahr eines Atomkriegs steigt
Ein Atomkrieg hat in der öffentlichen Diskussion seit dem Ende des Kalten Kriegs kaum eine Rolle gespielt. Aber Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Aufmerksamkeit wieder auf Atomwaffen gelenkt. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass Russland eine der größten Atommächte der Welt ist«, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin nach der Annexion der Krim 2014 in einer Rede vor russischen Jugendlichen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt die Debatte wieder aufkommen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Arten von Atomwaffen zu unterscheiden: In der aktuellen Debatte geht es nicht um strategische Atomwaffen auf Interkontinentalraketen, die ganze Städte auslöschen können, sondern um taktische Atomwaffen. Das sind Atombomben mit geringerer Sprengkraft, die meist auf Trägersystemen mit Reichweiten bis zu etwa 100 Kilometern installiert sind. Diese so genannten Gefechtsfeldwaffen sollen Truppen oder Infrastruktur an oder nahe der Front vernichten oder einen feindlichen Vormarsch aufhalten – im Prinzip so wie konventionelle Artillerie.
»Taktische Nuklearwaffen haben die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen verringert und auch die möglichen Gründe für ihren Einsatz diffuser gemacht«Götz Neuneck, Friedensforscher
Doch auch wenn sie meist kleiner sind – für den Weltfrieden sind diese Waffen nach Ansicht vieler Fachleute eine viel größere Gefahr als die strategischen Atomraketen. Denn Letztere dienen der klassischen Abschreckung, ein realer Einsatz ist unwahrscheinlich. »Taktische Nuklearwaffen haben die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen verringert und auch die möglichen Gründe für ihren Einsatz diffuser gemacht«, erklärt Götz Neuneck, Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH). »Das erzeugt auch die Unklarheit, die wir jetzt wieder mit Putin erleben.«
Eine verpasste Chance
Dabei sah es 1991 nach einer Initiative des damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush zunächst danach aus, als wenn diese Waffen an Bedeutung verlieren würden. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ging Bush eine Reihe von einseitigen Verpflichtungen ein, ganze Kategorien taktischer US-Atomwaffen aus anderen NATO-Staaten zurückzuziehen und abzurüsten. Diese Presidential Nuclear Initiatives (PNIs) verringerten die Zahl der taktischen Nuklearwaffen der Supermächte deutlich – eine endgültige Lösung war das aber nicht. Bis heute hat die NATO rund 180 B61-Bomben auf Flugplätzen stationiert, unter anderem auch in Deutschland.
Russland besitzt laut Schätzungen der Nuklearexperten Hans M. Kristensen und Matt Korda vom Nuclear Information Project derzeit 1912 »nicht strategische« Atomsprengköpfe. Die USA haben nach offiziellen Angaben rund 230 taktische Atomwaffen. Eine beträchtliche Anzahl dieser so genannten Gefechtsfeldwaffen hat außerdem Pakistan, laut Schätzungen machen sie ungefähr ein Drittel seines gesamten Nukleararsenals von rund 200 Sprengköpfen aus. Frankreich wiederum besitzt 50 von Flugzeugen abfeuerbare Lenkraketen, die als Gefechtsfeldwaffe über relativ kurze Distanzen eingesetzt werden können; eine vergleichbare Ausstattung nimmt man auch für Israel an. Nordkorea strebt nach eigenen Angaben ebenfalls an, solche Waffen zu entwickeln.
Eine gefährliche Idee aus dem Kalten Krieg macht zudem derzeit die Runde: dass ein Atomkrieg geführt und gewonnen werden kann. Das ist eine Abkehr von der seit Jahrzehnten vorherrschenden Sicht der Nuklearwaffen als reine Abschreckung. »Es gibt diese Denkschule in den USA und anderswo, die sagt: Wenn wir diese Atomwaffen haben, und die sind so wirkungsvoll, warum setzen wir sie eigentlich nicht ein? Das ist natürlich angesichts der tatsächlichen Zerstörungskraft unglaublich zynisch und fehlleitend, aber es leuchtet manchen Leuten zunächst erst mal ein«, erklärt Neuneck.
Was taktische Atomwaffen sind, ist unklar
In dieser Vorstellung des »begrenzten nuklearen Konflikts« sollen zwar Feldschlachten auch mit Atombomben geführt werden. Das aber, ohne den vernichtenden Gegenschlag mit hunderten Interkontinentalraketen auszulösen, der während des Kalten Kriegs bei jeder Konfrontation der Atommächte im Raum stand. Der Haken daran: Niemand weiß, ob sich Atomkriege auf diese Weise begrenzen lassen oder ob sie schließlich doch eskalieren. Grund dafür ist auch die Unsicherheit, was taktische Atomwaffen eigentlich sind. »Das ist zunächst eine künstliche Kategorie«, erklärt Neuneck.
Einen eindeutigen technischen Unterschied zwischen strategischen und taktischen Atomwaffen gibt es nicht. Taktische Waffen haben nicht grundsätzlich weniger Sprengkraft, und außerdem kann man bei einem großen Teil der modernen Atomsprengköpfe zwischen mehreren möglichen Explosionsstärken wählen. Zum Beispiel, indem man bei der Explosion kleine Mengen Fusionsbrennstoff einspritzt oder zusätzliche Neutronen, die die Kettenreaktion verstärken. Bei Wasserstoffbomben wiederum kann man die erste Stufe, in der die Kernspaltung stattfindet, vom Fusionsbrennstoff abtrennen, so dass nur die schwächere Kernspaltungsexplosion stattfindet.
Zwar kann man solche Waffen auch nach Art und Reichweite der Trägersysteme einteilen, aber auch das nicht eindeutig – am ehesten lassen sich strategische und taktische Waffen auf Grund der Rüstungskontrollverträge bei den USA und Russland unterscheiden, die Interkontinentalraketen besitzen, die Städte in tausenden Kilometern Entfernung treffen können. In einem Konflikt zwischen Nachbarstaaten, zum Beispiel Indien und Pakistan, verschwimmen diese Unterschiede. Dort können unter Umständen die gleichen Waffen sowohl Schlachtfelder als auch feindliche Einrichtungen erreichen. Neuneck sagt: »Wenn wir über die Staaten jenseits der USA und Russland reden, können wir fragen: Welchen Zweck haben da die Atomwaffen? Kann man die überhaupt noch als taktisch oder strategisch bezeichnen?«
Nukleardoktrinen: »No first use« ist die Ausnahme
Eine zentrale Rolle spielt die Nukleardoktrin eines Landes – also die öffentlich erklärten Bedingungen, unter denen ein Land Atomsprengköpfe einsetzen würde. Bisher hat mit China lediglich ein Land kategorisch ausgeschlossen, als erstes Atomsprengköpfe einzusetzen – ein Konzept, das man als »No first use« bezeichnet. Indien verfolgt eine ähnliche Politik, mit dem kleinen Unterschied, dass sich das Land vorbehält, auch auf Angriffe mit chemischen und biologischen Waffen nuklear zu reagieren.
Bei dieser Nukleardoktrin spielen taktische Atomwaffen keine Rolle. Der erklärte Zweck des nuklearen Arsenals ist Abschreckung – jede Art von atomarem Angriff wird mit einem Gegenschlag gegen das Territorium des Angreifers beantwortet. Einen begrenzten nuklearen Konflikt gibt es in dieser Doktrin nicht und damit auch nicht die Option, Atombomben auf dem Schlachtfeld einzusetzen.
Genau andersherum ist die Situation in Pakistan. Dort spielen taktische Atomwaffen eine zentrale Rolle (pdf) – sie sollen in einem Konflikt mit Indien die Überlegenheit der indischen Armee mit konventionellen Waffen ausgleichen. Vermutlich rund ein Drittel des nuklearen Arsenals Pakistans ist auf Kurzstreckenraketen mit lediglich einigen Dutzend Kilometern Reichweite verteilt, die bei einem indischen Einmarsch auf die vorrückenden feindlichen Einheiten abgefeuert werden sollen, um sie zu bremsen oder zu stoppen.
Die sowjetische Staatsführung hatte sich zwar im Jahr 1982 ebenfalls zu »No first use« bekannt, nach dem Ende des Kalten Kriegs rückte Russland jedoch davon wieder ab. Seit dem Jahr 2010 behält sich das Land vor, auf Angriffe mit Massenvernichtungswaffen nuklear zu reagieren, ebenso wie auf konventionelle Angriffe, die die Existenz des Staates selbst gefährden. Die jüngsten, als Drohungen interpretierten Verweise des russischen Präsidenten Putin auf das russische Nukleararsenal stehen daher im Widerspruch zur erklärten Abschreckungspolitik des Landes – was in der NATO erhebliche Unsicherheit erzeugt.
Das Risiko eines Atomschlags ist gestiegen
Die NATO-Staaten USA, Vereinigtes Königreich und Frankreich behalten sich ausdrücklich vor, mit Nuklearschlägen auf konventionelle Angriffe auf das eigene Staatsgebiet und das der Verbündeten zu reagieren. Historisch war die NATO bis zum Ende des Kalten Kriegs davon ausgegangen, die zahlenmäßig überlegenen Truppen des Warschauer Pakts nur mit taktischen Nuklearwaffen besiegen zu können. Bis heute ist es erklärte Strategie der NATO, im Rahmen des Prinzips der »flexiblen Erwiderung« auch auf konventionelle Angriffe nuklear zu reagieren.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs hatten die Kontrahenten des Konflikts ihre Arsenale an taktischen Waffen deutlich reduziert. Allerdings kehrt sich dieser Trend derzeit wieder um, gerade auch weltweit. Das zeigt sich nicht nur darin, dass die taktischen Atombomben und ihre Trägersysteme wieder modernisiert werden. Mindestens ebenso wichtig ist, dass sich der Diskurs über Atomwaffen verschiebt – weg von der nicht gewinnbaren nuklearen Apokalypse hin zu »begrenzten nuklearen Konflikten«, die lediglich auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden.
Komplizierter wird die Situation außerdem dadurch, dass es inzwischen mehr Nuklearstaaten gibt und die Konflikte nach dem Ende der bipolaren Konfrontation der Supermächte komplexer werden, zum Beispiel durch die aufstrebende Nuklearmacht China. »Es ist für die Eskalation natürlich auch ein Unterschied, ob man Atomwaffen oder strategische konventionelle Waffen gegen einen Atomwaffenstaat oder einen Nichtatomwaffenstaat einsetzt«, sagt Neuneck. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine veranschaulicht das Problem. Dort kämpft ein Nuklearstaat gegen einen Nichtnuklearstaat – und es besteht im Prinzip die Möglichkeit, dass die Atommacht Russland den konventionellen Konflikt verliert. Taktische Nuklearwaffen könnten in so einer Situation genutzt werden, um die Überlegenheit auf dem Schlachtfeld wiederherzustellen – ohne einen Gegenschlag befürchten zu müssen.
Die Abrüstung liegt auf Eis
Im Konflikt zwischen Indien und Pakistan droht sogar ein nuklearer Erstschlag als direkte Reaktion auf einen konventionellen Angriff. Hintergrund sind indische Militärplanungen, die im Kriegsfall sehr schnelle Vorstöße auf pakistanisches Gebiet vorsehen und die mit taktischen Atomwaffen gestoppt werden sollen. Dabei müsste die Entscheidung für den Atomwaffeneinsatz sehr schnell erfolgen – und damit steigt das Risiko eines Irrtums erheblich.
Ob allerdings solche Planungen tatsächlich in die Tat umgesetzt werden, ist völlig unklar. Bis heute ist der Umgang mit Atomwaffen von den Erfahrungen und Überlegungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt, als Warschauer Pakt und NATO vom »nuklearen Tabu« und von der realen Möglichkeit der nuklearen Apokalypse geleitet agierten. Auch heute würde der Einsatz eines nuklearen Sprengkopfes – egal wie kurz die Reichweite oder wie klein der Sprengkopf – jeden Konflikt fundamental und unvorhersehbar verändern. »So etwas wie eine taktische Atomwaffe gibt es nicht. Jede Atomwaffe, die zu irgendeinem Zeitpunkt eingesetzt wird, ist ein strategischer Game-Changer«, sagte 2018 der damalige US-Verteidigungsminister James Mattis gegenüber dem Kongress.
Um die Gefahr durch taktische Nuklearwaffen auszuschalten, gibt es allerdings nur ein wirklich wirksames Rezept: Abrüstung. Die aber kommt derzeit nicht voran. »Die Presidential Nuclear Initiatives von 1991/1992 hat man nie in einem Vertrag niedergelegt, wahrscheinlich weil man sich damals nicht einigen konnte«, sagt Neuneck. Es habe immer wieder Initiativen gegeben, diese Waffen in die Rüstungskontrolle einzubeziehen, auch von den deutschen Außenministern. Das sei auf Grund der üblichen wechselseitigen Vorwürfe nicht passiert. »Das Thema ist vertagt – ad infinitum.« Ein Ersteinsatzverzicht für diese Kategorie von Waffen wäre aber ein Schritt vorwärts.
Tatsächlich geht der Trend eher in die entgegengesetzte Richtung. »Einerseits gibt es auf Seiten der Kernwaffenstaaten seit Jahren zu wenig Fortschritte für spürbare Abrüstung. Andererseits geht eine reale Gefahr von Staaten aus, die in den Besitz von Nuklearwaffen gekommen sind oder kommen könnten«, schrieb das Auswärtige Amt 2020 anlässlich des 50. Jubiläums des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags. Man dürfe die nukleare Abrüstung nicht aus dem Blick verlieren. Und Götz Neuneck sagt: »Es gibt dieses Zitat, ich glaube, es stammt von Carl Friedrich von Weizsäcker: Solange es Atomwaffen gibt, werden sie auch irgendwann eingesetzt werden.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.