Alte Kulturen: Sand im System
Die weltgrößte Stadt des Mittelalters lag in Südostasien: Im Khmerreich Kambuja beherrschten die Gottkönige von ihren urbanen Tempelzentren aus womöglich 1000 Quadratkilometer und hundertausende Untertanen. Grundlage der beispiellosen Macht war das Wasser, oder besser: der geübte Umgang damit. Ein jahrhundertelang perfektioniertes System von Kanälen, Dämmen und riesigen Speicherreservoirs ermöglichte den Khmer bis zu drei Reisernten pro Jahr statt einer einzigen. Ihre "hydraulische Zivilisation" machte das Gemeinwesen unabhängiger von Jahreszeiten und Monsunregen und legte die Basis für eine zu ihrer Zeit weltweit beispiellose Bevölkerungszahl. Aber wie oft lag bereits der Keim des späteren Verfalls in der zunehmend ausgefeilten Technologie.
Begonnen hatte der Aufstieg des altkambodschanischen Reichs schon Ende des 9. Jahrhunderts mit dem Umzug des Khmerkönigs Yashovarman: Er gründete seine neue Hauptstadt Yashodharapura in einer weiten Schwemmlandebene. Hier durchzogen drei Flüsse ein von Nordosten nach Südwesten sanft abfallendes Plateau, um im Süden im größten Süßwassersee Asiens, dem fischreichen Tonle Sap, zu münden.
Das langsam ablaufende Wasser wurde an strategisch geeigneten Stellen mit Wällen gestaut und umgeleitet. Nach und nach dirigierte man das Wasser so auf neu ausgewaschene Wege und schuf ein Kanalsystem, welches – das natürliche Geländegefälle ausnutzend – völlig ohne Pumpen auskam. Herzstück waren die mehrere Kilometer langen und breiten Wasserspeicher, die Barays, deren Spuren auch heute, fast ein Jahrtausend später, die Landschaft prägen.
Auch sie entstanden zunächst eher durch Strömung als durch Schaufel: Zwei parallel von West nach Ost verlaufende Kanäle bildeten die nördlichen und südlichen Begrenzungen des späteren Reservoirs; das im Kanal mitgeführte Schwemmmaterial wurde dann immer wieder ausgehoben und als Begrenzungswall aufgeschüttet. Zwischen den emporwachsenden Wällen entstand so der Baray; er sammelte schließlich als Stausee Wasser oberhalb des Niveaus der Ebene. Das größte Reservoir – der noch heute teilweise gefüllte, in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts erbaute westliche Baray, war nach seiner Fertigstellung acht Kilometer lang, 2200 Meter breit und konnte etwa 53 Millionen Kubikmeter fassen.
Stauwehre und Schleusen verteilten das Wasser gezielt in ein Kanalsystem, das nicht nur landwirtschaftlichen, sondern auch religiösen Zwecken diente: Die Wassergräben der charakteristischen Bergtempel Kambujas, wie etwa des weltberühmten Angkor Wat, symbolisierten für die Khmer Aspekte des Ozeans um den heiligen Berg Meru und spiegelten so die Überzeugungen ihres hinduistisch-buddhistischen Weltbilds in der Realität.
Auf dem Höhepunkt ernährten Kanalsystem, Wasserreichtum und umsichtige Bodennutzung auf vielleicht 100 000 Quadratkilometer Fläche womöglich zwölf Millionen Menschen – die zudem durch die Klammer der Staatsreligion zusammengehalten wurden. Mit der Zahl der Einwohner und der Komplexität des Bewässerungssystems wuchs aber auch die Anforderung an die Instandhaltung: Die Barays und immer komplizierteren Kanalsysteme versandeten ständig und mussten laufend gewartet werden.
Wie intensiv die Anforderungen während der rund 300-jährigen Nutzung des westlichen Barays waren, demonstrieren nun Mary Beth Day von der University of Cambridge und ihre Kollegen: Sie förderten aus der auch heute noch unter Wasser liegenden Südwestecke des Barays einen rund zwei Meter langen Sedimentbohrkern und ermittelten mit seiner Hilfe die wechselnden Umweltparameter des vergangenen Jahrtausends am Ort der Probenentnahme.
Gut mit Radiokarbonuntersuchungen belegbar war der Zeitpunkt des Reservoirbaus Mitte des 11. Jahrhunderts. Die ersten 300 Jahre des Barays verliefen dann offenbar gemütlich: Nur wenig Sediment setzte sich gleichmäßig und stetig auf den südwestlichen Baraygrund ab. Zu dieser Zeit war das Reservoir gemächlich durch die gründlich gewarteten und immer wieder vom Schwemmsand befreiten Hauptzuflüsse aus Nordost nachgefüllt worden, und ebenso allmählich hatten die Khmer das Wasser in die ableitenden Kanäle weitergeführt; verwirbelt wurde der riesige Wasserkörper dabei wenig. Das Gemeinwesen gedieh, immer prächtigere Tempel, etwa Angkor Wat, wurden gebaut, das Reich stabilisierte und vergrößerte sich ständig.
Das änderte sich, wie die Sedimentkerne zeigen, dramatisch über das gesamte 13. Jahrhundert hinweg – einer Epoche, die mit dem spürbaren Niedergangs des Reichs endete und mit der imposanten Prachtentfaltung des letzten großen Herrschers Jayavarman VII. begonnen hatte, dem vielleicht bis 1220 regierenden Baumeister von Angkor Thom und unzähligen weiteren Bauwerken. Noch zu Lebzeiten dieses Herrschers hatte sich offensichtlich einiges verändert – mit langfristigen Folgen für die hydraulische Zivilisation von Angkor.
Zum einen, so bestätigen die Sedimente des Barays, das Klima: Der Reservoirspiegel sank zu Beginn des 13. Jahrhunderts während einer Trockenperiode deutlich. Dies schuf offenbar Lebensraum für wurzelnde Wasserpflanzen, die zuvor im Baray nicht heimisch werden konnten: Mehr organisches Material als aus den Zuleitungen angeschwemmtes Sediment wird nachweisbar. Tatsächlich wissen Klimaforscher aus Baumringchroniken, dass um diese Zeit eine Dürreperiode Südostasien heimsuchte.
Allerdings: Zudem sedimentierten nicht nur zunehmend abgestorbene Wasserpflanzen, sondern insgesamt immer mehr Schwemmstoffe im Baray, zeigen Days Daten. Der nach der Trockenperiode insgesamt flachere Baray scheint über einige Jahrzehnte also sogar intensiver genutzt worden zu sein als zuvor.
Bis zu einem Kollaps, der das Khmerreich dann aber mit mehreren Schlägen treffen sollte. Hauptfaktor war das militärische Erstarken der Khmer-Feinde im Westen – der Thai. Dies ging einher mit einer um sich greifenden religiösen Krise des Gemeinwesens. Schon Mahayanabuddhist Jayavarman VII. hatte die alten Zeiten des hinduistischen Devaraja-Staatskults hinter sich gelassen – in den Jahrzehnten nach ihm folgte dann aber eine belastende ikonoklastische Restauration der Brahmanenpriester; schließlich aber eine Hinwendung zum als Staatsdoktrin denkbar ungeeigneten Theravedabuddhismus, der sich in Südostasien überall auszubreiten begann.
Die Baray-Sedimente erzählen die Folgen dieser Umwälzungen nach: Ab dem 14. Jahrhundert sank die Sedimentationsrate im immer flacheren und zunehmend bewachsenen Baray zunächst deutlich ab – was allerdings nicht darauf schließen lässt, dass er wie in guten alten Zeiten funktionierte. Vielmehr scheint er zunehmend überwuchert gewesen zu sein: In der Staatskrise war das nicht mehr wie früher penibel gewartete Zuleitungssystem womöglich kollabiert. Als Folge – oder Ursache – sanken Landnutzung und Wasserverbrauch, und die landwirtschaftliche Produktion brach ein. Offenbar begannen die Menschen schon jetzt Angkor zu verlassen, auch wenn es noch über einige Zeit auf niedrigerem Niveau besiedelt bleiben sollte. Mit zwei weiteren Dürreperioden im 15. und 16. Jahrhundert konnten es die erschöpften Kräfte des Staatswesens dann nicht mehr aufnehmen: Anders als noch unter Jayavarman VII. fing eine intensivere Nutzung des Reservoirs die Dürren nicht auf, im Gegenteil, der Baray kam zum Erliegen.
Zwar wurde Angkor dann nicht plötzlich und vollständig verlassen – seine Bedeutung sank aber immer mehr, und das politische und wirtschaftliche Zentrum verlagerte sich an den Mekong in die Nähe des heutigen Phnom Penh. Die Ursachen für den Verfall sind demnach vielschichtig: Über Jahrhunderte konnte es nur einer starken, einigen und in der Bevölkerung akzeptierten Zentralmacht gelingen, die wartungsintensiven Bewässerungssysteme nicht nur in Stand zu halten, sondern auch immer weiter auszubauen. Am Ende war das System ebenso leistungsfähig wie komplex und fragil – es musste zusammenbrechen, als exzessive Bautätigkeit mit klimatischen Unwägbarkeiten, Kriegen, Rohstoffmangel und spiritueller Unrast der Bevölkerung zusammentrafen.
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