Sarah Bernhardt: Die erste große Diva der Geschichte
Das Alter tut nichts zur Sache. So zumindest sah es die erste große Diva der Bühnengeschichte. Als Geburtsjahr nannte sie mal dieses und mal jenes Datum. Denn: Was sind schon Zahlen für eine Schauspielerin, die für jede Rolle ein anderes Alter annimmt, in ein anderes Geschlecht oder eine andere Person schlüpft? In ihren Zwanzigern spielte sie 40-jährige Frauen, und mit 40 verkörperte sie zum ersten Mal den 19-jährigen Napoleon II. Ihn mimte sie noch viele Male, bis sie etwa 70 war. Alter, Geburtsdaten oder Geschlecht – das waren kleinbürgerliche Kategorien, gemacht für Menschen, die innerhalb der Ordnung blieben. Da stand sie, davon war die Diva überzeugt, meilenweit drüber.
Marie Henriette Rosine Bernhardt, wie sie als Kind hieß, wurde am 22. Oktober in Paris geboren – irgendwann zwischen 1841 und 1844. Von Anfang an war sie eine Randgestalt der Gesellschaft. Ihre Mutter war eine gut situierte Kurtisane, der Vater unbekannt. Obwohl die Mutter Jüdin war, wurde das Mädchen auf ein katholisches Pensionat geschickt. Und kurz dachte es sogar darüber nach, in den Orden einzutreten.
Als die Jugendliche zurück nach Paris kam, passte sie wieder nicht dazu. Sie war verträumt und temperamentvoll, sie glich einem verwöhnten Kind, das Süßigkeiten will und sich, wenn sie ihm versagt bleiben, schreiend auf den Boden wirft. Sarah Bernhardt eignete sich auch wenig, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Für eine professionelle Geliebte war sie zu dünn und zu wenig gefällig. Und alle Versuche der Mutter, sie zu verheiraten, schlugen fehl. Wohin mit einem Mädchen, das ständig aneckte und sämtliche Fabeln von Jean La Fontaine auswendig konnte?
Zum Glück hatte die Mutter hervorragende Kontakte. Sie könnte vielleicht Schauspielerin werden, schlug Charles de Morny vor. Der Freund ihrer Mutter und Halbbruder von Napoleon III. (1808–1873) hatte Beziehungen zur Comédie-Française in Paris, dem wichtigsten Theater Frankreichs. Sarah solle doch einmal vorsprechen, lautete de Mornys Idee. Um zu sehen, ob dem Kind das Schauspiel liegen würde, besuchten sie eine Aufführung der »Bérénice«, einer Tragödie des Dichters Jean Racine (1639–1699).
Sarah war wie versteinert. Sie starrte auf die Bühne, weinte stundenlang. Plötzlich wusste sie, wo sie hingehörte. Endlich. Wie alle Menschen mit Talent – so wird sie später erzählen – erkannte sie damals: Sie musste nicht Schauspielerin werden, sie war es schon. Das Vorsprechen lief gut, de Morny half ein bisschen nach, und so wurde Sarah Bernhardt 1860 Schauspielerin. Erst ging sie zur Ausbildung ans Pariser Konservatorium, danach an die Comédie-Française. Bis zum ersten großen Skandal.
Ein Mythos entsteht durch harte Arbeit
Sarah Bernhardt legte nicht weniger Ehrgeiz in die Ausarbeitung ihrer Rollen als in die Inszenierung ihres Lebens. Ob sie tatsächlich so aufbrausend war, wie sie sich zeigte, oder eine Meisterin der Selbstinszenierung, lässt sich nicht mehr klären. Vermutlich beides. Der jungen Sarah war jedenfalls schnell klar, dass es nicht reichen würde, nur Schauspielerin zu sein. Um richtig berühmt zu werden, brauchte es mehr. Im Lauf der Jahre perfektionierte sie daher die Fähigkeit, sich so zu inszenieren, dass sie im Gespräch blieb.
Glaubt man den damaligen Theaterkritiken, war sie ohne Zweifel eine Schauspielerin mit umwerfender Bühnenpräsenz, einer »goldenen« Stimme, wie der Schriftsteller Victor Hugo meinte, und starker Körperlichkeit. Sie schonte sich nicht, sondern ging immer bis an die Grenze – und darüber hinaus. Zudem wählte sie nicht nur ihre Rollen mit Bedacht, sondern achtete auch auf ihren privaten Auftritt, auf das Leben hinter der Bühne. So legte sie großen Wert darauf, dass Gerüchte über ihr Liebesleben kursierten und exzentrische, berühmte Freunde sie umgaben. Die Öffentlichkeit sollte von Skurrilitäten erfahren wie ihrem Schlafsarg oder ihrer Menagerie exotischer Tiere. Dafür pflegte sie enge Kontakte zur Presse – den Zeitungen sollte kein Skandal entgehen.
Mit etwa 19 Jahren legte Sarah an der Comédie-Française den ersten großen Skandal hin. Sie war noch ein kleines Licht und hatte zu einer Veranstaltung im Foyer ihre kleine Schwester Régine mitgenommen. Das Mädchen trat aus Versehen einer berühmten Kollegin auf die Schleppe, die umgehend und wenig damenhaft Régine gegen eine Säule schubste. Bernhardts Schwester verletzte sich dabei. Die noch junge Schauspielerin reagierte und ohrfeigte die Kollegin, schrie sie an und schimpfte sie eine dumme, dicke Pute – vor versammeltem Publikum. Der Intendant drängte sie, sich schnell zu entschuldigen. Bernhardt weigerte sich. Solange die dicke, dumme Pute sich nicht bei ihrer Schwester entschuldigen würde, würde sie gar nichts tun. Daraufhin zerriss Bernhardt ihren Vertrag, knallte die Tür und beendete fürs Erste ihre Zeit an der wichtigsten Bühne Frankreichs. Nach diesem Auftritt kannte jeder in Frankreich ihren Namen.
Die ständige Suche nach dem Kick
So ging es weiter. Sarah spielte an Bühnen in Paris und Brüssel, sie hatte Affären, bekam einen unehelichen Sohn. Schließlich wurde sie am Pariser Theater Odéon engagiert. Hier feierte sie die ersten großen Erfolge. Das Publikum lag ihr zu Füßen. Nicht nur das Tout-Paris, die Hauptstadtelite, sondern auch die herausragenden Künstler und Schriftsteller jener Zeit liebten sie, wie Victor Hugo, Georges Sand, Oscar Wilde, Alexandre Dumas, Edmond Rostand oder Marcel Proust.
Sarah Bernhardt beherrschte ein vielfältiges Repertoire an Rollen, sie mimte Kurtisanen, Heldinnen, Helden und Prinzen. Es lief fast schon erschreckend gut für sie. Denn Sarah Bernhardt brauchte Extreme, um sich lebendig zu fühlen, wie sie in Briefen und ihren Memoiren schrieb.
Die Französin liebte das Risiko, etwa wenn sie einen Heißluftballon bestieg, und ignorierte, wenn sich die Leute darüber aufregten, dass sie ihren unehelichen Sohn nicht versteckte. Maurice kam mit ins Theater und auf Reisen. Fragte ein Journalist nach dem Vater des Jungen, knallte ihm Sarah Bernhardt die Namen sämtlicher Politiker und Schriftsteller der Zeit vor und sagte, sie könne sich nicht recht erinnern. Die Menschen glaubten ihr. Es gab praktisch keinen Liebhaber, den man ihr nicht zugetraut hätte. Denn sowohl Männer als auch Frauen, Ältere und Jüngere, kamen nach der Aufführung in ihre Garderobe. Sarah verpflichtete sich ungern, deshalb dauerten die wenigsten Beziehungen lange. Ihre einzige Ehe war eine Katastrophe, die in der Scheidung und im Bankrott endete.
Zu Sarah Bernhardt gehörte nicht nur, dass sie wahnsinnig viel verdiente – sie gab auch wahnsinnig viel aus. Der Weltstar wollte Geld haben wie ein Mann und es verprassen, wie es zu ihrer Zeit nur Männern möglich war. Das Leben einer Diva zu führen, war entsprechend teuer: Da war ihr Privatzoo, ihr Personal, ihr Landhaus in der Bretagne und ihre Wohnung in Paris, sie trug Pelze und Juwelen. Das Ende vom Lied: Sarah Bernhardt war quasi ständig pleite. Aber sie war originell und sich ihres Ruhms bewusst. Immer wieder taten sich Türen auf. Selbst wenn es nicht danach aussah.
Der Bühnenstar ging auf Welttournee
Wie im Jahr 1872. Die Comédie-Française schickte ihr eine Anfrage. Eigentlich war sie glücklich am Odéon. Aber als die Comédie sie bat, zwölf Jahre nach ihrem rauschenden Abgang, ließ sie sich locken. Zudem war das Angebot ausgesprochen lukrativ.
Also löste sie den Vertrag mit dem Odéon, Skandal! Sie ging zurück zur Comédie und spielte die Protagonistin in Jean Racines Tragödie »Phèdre«, wie sie nie gespielt worden war – das Publikum weinte, Triumph! Bei einer Tournee in London trat sie unerlaubterweise gegen eine sehr hohe Gage in privaten Salons auf, Triumph und Skandal! Daraufhin geriet sie in Streit mit dem Direktor der Comédie-Française und kündigte ihren Vertrag, Skandal und große Presse.
Wurde es einmal still um die Schauspielerin, sickerten Anekdoten aus ihrem Privatleben durch: Ihre Boa hatte ein Sofakissen verschluckt und Sarah musste sie eigenhändig erschießen; der Alligator war gestorben; der Affe stritt sich bis aufs Blut mit dem Papagei. Und dazwischen fehlte ihr immer wieder Geld. Dagegen half nur ein Mittel: auf Tournee gehen.
Die Französin war der erste weibliche Star überhaupt, der auf Tournee ging. Nicht als Teil einer Truppe, sondern als Solofigur, die sich begleiten ließ. Die Tour führte nach London und Brüssel, aber auch in die Neue Welt, nach Amerika. Als Bernhardt das erste Mal 1880 in die USA kam, wurde sie beäugt. Eine Frau! Allein! Unverheiratet mit Kind! Und was für Figuren waren das, die sie mimte? Ehebrecherinnen, Kurtisanen, Verrückte. Mehr als 160-mal trat sie bei ihrer ersten von neun US-Tourneen auf. Die Amerikaner waren fasziniert und erschrocken. Auch wenn sie die Texte nicht verstanden, drehten die Zuschauer regelrecht durch. Sarah Bernhardt sprach auf der Bühne Französisch, aber ihre Interpretationen waren so ausdrucksvoll, dass sie selbst international nicht ihre Wirkung verfehlten. Die Schauspielerin führte ganze Stücke auf oder brachte nur Auszüge dar, ein »Best of Sarah« sozusagen. Die einzige Bedingung, egal welcher Art die Aufführung war: Sie musste sterben. Sie starb so gut. Das war unbestritten zu ihrer Zeit.
Manchmal zog sich Sarah Bernhardt zurück in die Bretagne. Auf Belle-Île hatte sie ein Schloss gekauft. Obwohl die Reise dorthin Zeit raubend war, besuchten sie dort viele Freunde, ehemalige Liebhaber und Bewunderer. Man feierte zusammen, lachte, trank und malte. Sarah schuf Skulpturen, schrieb Romane und ihre Memoiren, während andere für sie schrieben. Wie viele Theaterstücke und Romane sie inspiriert hat, weiß wohl niemand. Viele Dramen wurden nur mit dem Ziel verfasst, dass sie die Hauptrolle spielte: die »Kameliendame« von Alexandre Dumas, Edmond Rostands »L'Aiglon« oder Oscar Wildes »Salome«. Marcel Proust ließ sich für die Schauspielerin in seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Bernhardt inspirieren. Die Diva hat überall in der Kunst Spuren hinterlassen. Es gibt sogar einen Lucky-Luke-Band über ihre erste Amerika-Tournee.
Ein Bühnenstar mit Holzbein
Auf einer ihrer Amerikareisen stürzte Sarah Bernhardt unglücklich auf einem Schiff und verletzte sich am Knie. Die Wunde heilte nicht, die Schauspielerin hatte unerträgliche Schmerzen. Von dem Unfall ist noch eine andere Version bekannt: Sie habe einmal »Tosca« gespielt und beim Sturz in den Bühnentod festgestellt, dass keine Matratze für den Aufschlag bereitlag. Bernhardt fiel hart und verletzte sich am Knie. Vielleicht stimmen beide Geschichten, vielleicht nur eine. An Sarah Bernhardts Leben haben so viele Federn mitgeschrieben, dass Mythos und Wahrheit durcheinandergehen. Fest steht: Das Bein musste 1915 abgenommen werden.
Theatralisch verabschiedete sich der Star von Sohn und Freunden, wachte nach der OP aber wieder auf und bekam ein Holzbein. Fortan ließ sie sich manchmal in einer Sänfte tragen. Vor allem bei den französischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sie im Feld besuchte, um ihnen mit einem Auftritt Mut zu machen, kam das sehr gut an.
Überhaupt hat sich die Diva um Soldaten gesorgt. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, als das Theater in Paris geschlossen war, setzte sie sich dafür ein, dass im Odéon behelfsmäßig ein Lazarett eingerichtet wurde und sie dort verwundete Soldaten pflegen konnte. Nach dem Krieg setzte sie dann ihre Karriere fort. Genauso hielt sie es nach der Amputation. Wenn sie mit dem Holzbein nicht stehen konnte, spielte sie eben im Sitzen.
Im Januar 1923 stand Sarah Bernhardt zum letzten Mal auf der Bühne. Ihr war schrecklich übel, sie kämpfte gegen einen Würgereiz und wurde nach Hause begleitet. Sie hatte immer den besten Auftritt, wenn sie das Publikum warten ließ. Davon war Bernhardt überzeugt. Also ließ sie es warten. Zwei Monate lang war sie krank. Die Menschen sammelten sich vor ihrem Fenster wie vor einer Bühne. Sie ließ sie weiter warten. Am 26. März 1923 starb Sarah Bernhardt. Das Datum ist gesichert. Aber was sind schon Zahlen? Das größte Kunstwerk der größten Schauspielerin ihrer Zeit, der größten Diva und des ersten Weltstars, war die Figur Sarah Bernhardt.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.