Ökologie: Spionagefotos für den Naturschutz
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich der Schwarzwald rapide, denn der Holzbedarf war enorm. Vieles im Land lag in Trümmern und musste wiederaufgebaut werden; zudem zahlte Deutschland einen Teil seiner Reparationen in Form von Holz an die Alliierten. Im Schwarzwald wurden deshalb große Flächen gerodet und mit Fichtenmonokulturen neu bepflanzt – ein Eingriff in die Natur, der bis heute nachwirkt, wie die Ökosystemforscherin Catalina Munteanu von der Universität Freiburg erklärt. »Selbst wenn diese Gebiete heute wieder bewaldet sind und nachhaltig bewirtschaftet werden, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihres Artenspektrums und ihrer Habitate immer noch von Wäldern, die in der Vergangenheit nicht so intensiv genutzt wurden.«
Munteanu erforscht mit ihrer Gruppe, wie die Waldwirtschaft von damals auf die heutige Biodiversität des Mittelgebirges nachwirkt. Sie nutzen dazu ein ungewöhnliches Werkzeug: Satellitenbilder aus ehemaligen US-amerikanischen Spionageprogrammen.
Im Kalten Krieg ließen die USA zahlreiche Satellitenaufnahmen von der Erdoberfläche machen. Sie wollten damit industrielle und militärische Anlagen der Sowjetunion, Chinas und weiterer Gegner auskundschaften. In mehreren Spionageprogrammen entstanden über Jahre hinweg zahlreiche hochauflösende Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Lange galten diese als streng geheim und blieben unter Verschluss. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden viele Bilder jedoch für die Forschung freigegeben und dienen seither in diversen Fachdisziplinen als Untersuchungsmaterial. Archäologen beispielsweise verhalfen sie zu neuen Entdeckungen, Klimaforscher wiesen damit die fortschreitende Gletscherschmelze nach.
Seit mehr als drei Jahren treiben Munteanu und andere Umwelt- und Naturschutzforscher den Einsatz dieser Bilder auch im Rahmen ökologischer Untersuchungen voran. Denn bislang werde dieser Ansatz noch zu wenig dafür genutzt, sagen sie. Bisherige Arbeiten zu dem Thema befassten sich unter anderem mit historischen Veränderungen von Wäldern, landwirtschaftlichen Flächen und Flüssen.
Analog und digital
Munteanu und ihre Gruppe haben mehr als eine Million Militäraufnahmen aus vier verschiedenen Spionageprogrammen durchforstet und dabei festgestellt, dass die Fotos zu allen Jahreszeiten angefertigt wurden und fast den gesamten Globus abdecken. Für die Ökosystemforscherin lag es deshalb nahe, die historischen analogen Satellitenbilder für wissenschaftliche Untersuchungen einzusetzen – ergänzend zu den heutigen digitalen Luftaufnahmen.
»Digitale Fernerkundungsdaten sind eine der wichtigsten Datenquellen für die großflächige ökologische Forschung. Sie erlauben aber kaum Aussagen über zeitliche Entwicklungen – diese bekommen wir, indem wir Spionagesatellitenbilder aus dem Kalten Krieg heranziehen«, erklärt Munteanu. Systematisch angefertigte, hochauflösende Luftaufnahmen liegen erst etwa seit den 2000er Jahren vor. Die Ursachen, die zu den heute erkennbaren ökologischen Veränderungen geführt haben, liegen oft aber viel weiter zurück.
Um den Wandel in ausgewählten Naturgebieten nachzuvollziehen, vergleichen Munteanu und ihr Team die alten und die neuen Bilder mit Hilfe einer Software, die ursprünglich dazu diente, Drohnenaufnahmen zu verarbeiten. 2020 gelangten die Fachleute so zu einer Erkenntnis, die auf breites öffentliches Interesse stieß.
Empfindliche Murmeltiere
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten damals anhand von Satellitenbildern aus dem früheren Spionageprogramm »Corona«, wie sich die Bestände von kasachischen Steppenmurmeltieren (Marmota bobak) über Jahrzehnte hinweg entwickelt hatten. Die Tiere legen weitläufige unterirdische Tunnelsysteme an und werfen dabei oberirdisch große Erdhügel auf, die vom Weltall aus sichtbar sind. Da das unablässige Buddeln der Nager den Stickstoffgehalt der Böden erhöht und die Murmeltierbaue auch von anderen Arten genutzt werden, gelten die Tiere als Ökosystemingenieure und Schlüsselspezies für die Region.
Bei ihren Untersuchungen stellten Munteanu und ihr Team fest, dass die Bestände der Murmeltiere seit den 1960er Jahren, nachdem in Kasachstan große Teile der Steppe zu Ackerland umgewandelt worden waren, geschrumpft sind. So sei die Zahl ihrer Baue seitdem um etwa 14 Prozent zurückgegangen. Untersucht hatten die Forscherinnen und Forscher mehr als 12 500 Murmeltierbaue.
Am stärksten habe sich der Rückgang in Gebieten gezeigt, die in den vergangenen 50 Jahren durchgängig der Landwirtschaft gedient hätten, und auf den Flächen, die am längsten landwirtschaftlich genutzt wurden. Allerdings befand sich etwa die Hälfte der Baue noch am selben Ort wie schon vor 50 Jahren. Im Grasland, ihrem natürlichen Lebensraum, waren die Murmeltiere ihren Standorten häufiger treu geblieben als auf Agrarflächen, erläutern die Forschenden weiter. Das deute darauf hin, dass landwirtschaftliche Praktiken wie wiederholtes Pflügen den Murmeltieren auf lange Sicht schaden.
Unumkehrbare Veränderungen
Was lässt sich daraus ableiten? Munteanu betont, sie ziele mit ihren Forschungsarbeiten nicht darauf ab, dass einstige Ökosysteme wiederhergestellt werden. »In einzelnen Fällen mag das zwar eine gute Idee sein, in der Regel aber ist es nicht machbar beziehungsweise nicht wünschenswert, weil der Kontext heute ein ganz anderer als früher ist«, sagt sie. Wälder beispielsweise seien auf Grund der großen Nachfrage nach Holz, wegen der veränderten Landnutzung, den Veränderungen im Wasserhaushalt sowie durch den Klimawandel starken und unumkehrbaren Veränderungen unterworfen.
Munteanu möchte mit ihren Untersuchungen vielmehr dafür sensibilisieren, dass Eingriffe in Ökosysteme oft langfristige Folgen haben, die mitunter stark zeitverzögert sichtbar werden. Das ist der Fall bei den Steppenmurmeltieren in Kasachstan ebenso wie beim Schwarzwald in Deutschland.
Es geht aber auch anders. Eine Studie, für die ebenfalls Satellitenbilder verwendet wurden, zeigte im Jahr 2021, dass Auerhühner (Tetrao urogallus) durch menschliche Aktivitäten beeinflusste Waldflächen relativ schnell wiederbesiedeln, nachdem dort wieder günstige Lebensbedingungen für sie entstanden sind. Einer anderen Studie zufolge reagieren Rote Waldameisen (Formica rufa) sogar prompt auf Störungen ihres Lebensraums, indem sie ihre Hügel dann an einen anderen Ort verlagern.
Die Forschung mit den Satellitenbildern soll auch Wissen für Entscheidungsträger bereitstellen. Konkret haben Munteanu und Kollegen das 2021 in einer Studie beschrieben, in der es um schützenswerte Wälder ging. Das Team um die Ökosystemforscherin identifizierte anhand von Satellitenbildern bestimmte Wälder in den rumänischen Karpaten, die im Sinn des Artenschutzes, des Erhalts von Ökosystemfunktionen und des Klimaschutzes besonders wichtig und bewahrenswert erscheinen. Die dabei angewendeten Methoden, schreibt das Team, ließen sich auch auf andere Regionen anwenden, um entsprechende Habitate zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ihrem Schutz zu entwickeln.
Hinsichtlich des Schwarzwalds wird es Munteanu & Co. in den kommenden Jahren darum gehen, herauszufinden, in welchem Ausmaß die frühere intensive Bewirtschaftung die Region heute anfälliger gegenüber den Klimaveränderungen macht. Bekannt ist etwa, dass die Fichte unter den immer häufiger auftretenden Dürresommern leidet. Als flach wurzelnder Baum kommt sie nicht an die Feuchtigkeit der unteren Bodenschichten heran. Das schwächt sie und macht sie anfällig für Schäden durch den Borkenkäfer. Auch Extremwetterereignissen hat die Fichte nur wenig entgegenzusetzen. Fachleute sehen deshalb keine Zukunft für den »Brotbaum« der Forstwirtschaft und suchen nach Alternativen.
Für Munteanu ist dabei klar, dass es bei der Gestaltung des »Waldes der Zukunft« keine Einheitslösung geben kann. Jedes Habitat sei einzigartig. »Wir müssen aber in jedem Fall versuchen sicherzustellen, dass Wälder auch weiterhin möglichst viele Ökosystemfunktionen und -dienstleistungen erbringen können«, sagt die Wissenschaftlerin.
Noch viel Potenzial
Ein aktuelles Forschungsprojekt von Munteanu und ihrem Team befasst sich mit Kaiserpinguinen (Aptenodytes forsteri). »Dank moderner Fernerkundungsdaten und Felduntersuchungen kennen wir die Lage der meisten, wenn nicht aller aktuellen Kaiserpinguinkolonien auf dem antarktischen Kontinent«, berichtet die Forscherin. Anhand der historischen Daten will sie herausfinden, ob die Kolonien bereits vor 50 Jahren in denselben Gebieten siedelten, in denen sie heute leben, oder ob sie »umziehen« mussten, weil sich die Meereisbedeckung geändert hat. Auf das dicke Eis, das mit dem Festland verbunden ist, sind die Tiere angewiesen, um darauf ihre Küken großzuziehen. Studien haben 2022 und 2024 gezeigt, dass das einigen Kolonien zunehmend schwerfällt, da Eisflächen infolge des Klimawandels schrumpfen.
Da die Satellitenbilder die ganze Welt abdecken, könnten Munteanu und ihre Gruppe damit noch viele weitere Ökosysteme untersuchen. Einige technische Schwierigkeiten stehen ihnen dabei aber noch im Weg. Beispielsweise ist es aufwändig, die Satellitenbilder so zu bearbeiten, dass eine digitale Auswertung möglich ist. Die Wissenschaftler hoffen, dass sich solche Probleme in Zukunft lösen lassen werden – etwa durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz bei der Bildanalyse.
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