Energiepolitik: Schadete Kernkraft-Stilllegung Babys?
In vielen Staaten der Welt ist Atomenergie seit Mitte der 1990er Jahre auf dem Rückzug: Weit mehr Kraftwerke gehen vom Netz als neu gebaut werden. Grund dafür sind vor allem schlagzeilenträchtige Unfälle in Meilern, aber auch wirtschaftliche Erwägungen und die ungelöste Endlagerfrage. Viele Fachleute üben jedoch Kritik am Atomausstieg: Während das Risiko der Kernkraft im Zentrum der öffentlichen Debatte steht, befasse sich kaum jemand mit den versteckten gesundheitlichen Konsequenzen ihrer Abschaffung.
Der Ökonom Edson Severnini von der Carnegie Mellon University befasst sich seit Jahren mit den langfristigen Auswirkungen von Kraftwerksstillegungen. In einem Artikel in "Nature Energy" erläutert er nun, welche Folgen die Abschaltung zweier US-Kernkraftwerke in den 1980er Jahren auf die Luftverschmutzung und das Geburtsgewicht von Babys in der betroffenen Region hatte. Die fehlende Energie nämlich lieferten Kohlekraftwerke, und die erzeugen potenziell gesundheitsschädliche Flugasche – Kernkraft-Befürworter argumentieren deswegen, sie seien weit gesundheitsschädlicher als Kernkraftwerke.
Im März 1979 kam es im Kernkraftwerk Three Mile Island wegen eines verklemmten Ventils und menschlichen Fehlern zu einer partiellen Kernschmelze, bei der radioaktives Material in die Umwelt gelangte. In der Folge verschärften die US-Behörden die Kontrollen in US-Kernkraftwerken und legten 1985 die Kernkraftwerke Browns Ferry und Sequoyah in den Bundesstaaten Alabama und Tennessee wegen mehr als 600 Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften vorübergehend still. Wie Severnini berichtet, lieferten im Anschluss Kohlekraftwerke den gesamten fehlenden Strom, mit dem Ergebnis, dass die Luftverschmutzung in Form schwebender Staubpartikel in der Nähe dieser Kraftwerke zunahm.
Das Gewicht von Neugeborenen sank um fünf Prozent
Das hatte Folgen, so der Forscher. In einer der untersuchten Regionen mit zusätzlicher Luftverschmutzung sank das durchschnittliche Gewicht von Neugeborenen um mehr als fünf Prozent. Das Geburtsgewicht gilt als wichtiger Indikator für die zukünftige Entwicklung der Kinder. Deswegen bezeichnet der Umwelt- und Nuklearaktivist Michael Shellenberger die Studie in einem Kommentar für "Nature Energy" als Beleg für die positive Gesundheitswirkung der Kernkraft.
So weit will Studienautor Edson Severnini nicht gehen. Die Geschichte hat einen Schönheitsfehler: Der Effekt ließ sich nur bei einem einzelnen Kohlekraftwerk nachweisen – jenem, in dessen Nähe die Staubkonzentration schon vor der Inbetriebnahme am höchsten war. Die anderen Kohlekraftwerke erzeugten zwar nachweislich zusätzlichen Staub, hatten aber keine erkennbaren Folgen für Neugeborene. Mithin kann der Forscher auch keine Dosis-Wirkungs-Beziehung vorweisen, die für die Einschätzung des Effektes wichtig wäre.
Entsprechend vorsichtig ist er mit seiner Schlussfolgerung: Man müsse in der Energiepolitik Effekte im gesamten Energienetz berücksichtigen, um Gesundheitsrisiken an unerwarteten Orten auszuschließen. Möglicherweise habe der Atomausstieg insgesamt betrachtet einen weniger positiven gesundheitlichen Effekt als erhofft – zumal die tatsächlichen Auswirkungen des Unfalls von Three Mile Island bis heute umstritten sind. Unklar ist auch, ob sich Erkenntnisse aus den 1980er Jahren so problemlos auf das 21. Jahrhundert übertragen lassen.
Schreiben Sie uns!
5 Beiträge anzeigen