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Essverhalten: Schau mir auf den Teller, Kleines

Eine Szene, die jeder kennt und die genauso mit Gummibärchen, Popcorn oder Schokolade funktioniert. Neben den letzten Krümeln in der Verpackung bleibt nur die Frage, wohin der Inhalt verschwunden ist. Leider fällt die Antwort immer gleich aus: im eigenen Bauch – doch warum haben wir nichts davon gemerkt? "Weil beim Fernsehen und in Gesellschaft das Essen zur Nebensache wird", erklärt Volker Pudel, gerade emeritierter Professor der medizinischen Fakultät der Universität Göttingen und prominenter Ernährungspsychologe.

Pudels Aussage lässt darauf schließen: Beim Starren auf den Bildschirm merken wir nicht mehr, dass wir essen. Das ist komisch. Denn eigentlich denken wir oft übers Essen nach. US-Forscher Brian Wansink und seine Kollegen von der Cornell Universität in Ithaca konnten das vor einem Jahr durch eine Studie belegen. Sie ließen die 139 Freiwilligen zunächst schätzen, wie oft am Tag sie sich mit dem Thema Essen beschäftigten. Anschließend mussten die Teilnehmer einen Fragebogen ausfüllen, in dem die Wissenschaftler die Details wissen wollten: Wann haben Sie an Essen gedacht? Welche Nahrungsmittel zogen Sie dabei in Betracht? Wie viel haben Sie gegessen? Die Auswertung zeigte: Ihre Antworten wichen stark von der zuvor notierten Schätzung ab. Den gefühlten 15 Entscheidungen in Sachen Essen standen stolze 220 tatsächliche Überlegungen gegenüber.

Imbissbuden beeinflussen das Unterbewusstsein

Mit der Nahrungsaufnahme ist es nicht anders als mit anderen Angewohnheiten wie dem Fingernägel kauen: Wir bekommen davon nichts mit. Das führt so weit, dass äußere Einflüsse wie Werbeplakate, volle Supermarktregale und Imbissbuden in unserem Unterbewusstsein darüber entscheiden, ob wir etwas essen oder nicht. Der Nahrungskonsum stiege dann immens an, vermuten auch die amerikanischen Forscher. Sie empfehlen daher, das Essverhalten zu kontrollieren und möglichst häufig bewusst über das Essen nachzudenken.

Was in der Theorie recht einfach klingt, ist im Alltag eher problematisch. Denn Kontrolle ist nicht gleich Kontrolle, wie der Psychologe Joachim Westenhöfer von der Hochschule Hamburg herausfand. Er ließ normal- und übergewichtige Personen sowie Bulimie-Patientinnen einen Fragebogen zu ihrem Essverhalten ausfüllen. Dabei stellte sich überraschenderweise heraus, dass sowohl Normalgewichtige als auch bulimische Menschen eine hohe Punktzahl auf der Skala "kognitive Kontrolle" erreichten. Beide Personengruppen steuern ihr Essverhalten also bewusst. Aber warum erreichen normale und gestörte Esser ähnliche Punktwerte? Um das herauszufinden, analysierte Westenhöfer Testfrage für Testfrage. So zeigte sich, dass die beiden Gruppen ihre Punkte bei jeweils unterschiedlichen Fragen gesammelt hatten. Die Bulimie-Patienten übten eine so genannte rigide, die Normalgewichtigen eine flexible Kontrolle aus.

Diese Woche mal nur eine Tafel Schokolade

Rigide wäre beispielsweise der Vorsatz "Ich esse nie wieder Süßigkeiten". Bei flexibler Kontrolle würde es "Ich esse diese Woche mal nur eine Tafel Schokolade" heißen. Die rigide Verhaltenskontrolle basiert demnach auf eindeutigen, strikten Verboten. Diese kann der Mensch jedoch wesentlich schwerer einhalten als den Vorsatz, eine Zeit lang weniger zu naschen. Schon ein kleines Bonbon lässt die selbst gesetzte Grenze zusammenbrechen. Die Folge sind Heißhungerattacken, ganz nach dem Motto: "Jetzt ist ja eh schon alles egal!"

Ein weiteres Experiment konnte den Mechanismus bestätigen. Diesmal unterschieden die Forscher zunächst zwischen normalgewichtigen rigiden Essern und ungezügelten Essern, also Personen ohne Kontrollverhalten. Anschließend bekamen die Teilnehmer die Aufgabe, den Geschmack von Eiscreme zu testen. Dabei durften sie von den verschiedenen Geschmackssorten so viel probieren, wie sie wollten. Das Ergebnis: Rigide Esser verspeisten im Schnitt 80 Gramm Eis, die ungezügelten 220 Gramm. Danach wurde der Test wiederholt, mit dem Unterschied, dass die Teilnehmer vor Beginn einen Milchshake als Dankeschön bekamen. Und siehe da: die Ergebnisse im anschließenden Eiscreme-Test kehrten sich um. Die rigiden Esser verspeisten mehr als die Ungezügelten. Der Milchshake hatte ihre Verhaltenskontrolle zusammenbrechen lassen.

Bodenlose Tüte | Mit dem ersten Griff fällt die Hemmschwelle.
Ähnlich ergeht es uns mit der Chipstüte vor dem Fernseher. Kaum ist die erste Hand voll Knabberzeug in unserem Mund verschwunden, bereiten uns die übrigen 190 Gramm kein Problem mehr. Wir kennen das.

Andere Szene, genauso typisch: Sie ist eifersüchtig. Er ist nämlich anderen Frauen gegenüber viel charmanter als zu Hause. Sie hat es genau gesehen, neulich… Die Situation artet zur Grundsatz-Diskussion aus. Sie fängt an zu heulen, er stürmt zur Tür hinaus und knallt sie hinter sich zu. Sie bleibt zurück, ein Häufchen Elend. Nur eine Tafel Edelnougat-Schokolade kann sie jetzt wieder aufmuntern.

Es muss nicht immer Streit sein, auch andere Stress-Situationen lassen uns zu Süßem und Ungesundem greifen. Georgina Oliver, Psychologin am University College in London konnte 2000 mit einer weiteren psychologischen Studie beweisen, dass Süßes die Seele tröstet: Dazu teilte sie die Probanden zunächst mit Hilfe eines Fragenbogens in verschiedene Gruppen ein. Sie unterschied dabei zwischen normalen Essern und "emotional eaters", also Menschen, die bei emotionalen Belastungen besonders viel essen. Anschließens gab sie den Teilnehmern die Aufgabe, ein Rede vor einem großen Publikum zu halten. Das löste großen Stress aus. Anschließend durften sich die Probanden an einem Buffet bedienen. Die "emotional eaters" entschieden sich überwiegend für fettige oder süße Speisen.

Essen fürs emotionale Gleichgewicht

Schon von Geburt an verbinden wir die Nahrungsaufnahme mit sozialer Zuwendung und Geborgenheit. Essen stelle unser emotionales Gleichgewicht wieder her, berichtet Pudel. Aber warum muss es im späteren Leben ausgerechnet Schokolade sein? Schuld daran sind unsere Eltern, wie Pudel in einem seiner Fachartikel schreibt: Sie bringen den Kindern bei, negative Emotionen gerade durch Süßes auszugleichen. Außerdem schmecken Schokoriegel unglaublich gut. Damit sorgen sie für ein positives Erlebnis.

Außer der Vorliebe für Ungesundes bei Stress bringen Büffets noch ganz andere Verhaltensunarten an den Tag. Wohl jeder hat auf einer Hochzeit folgendes beobachtet: Schon während der feierlichen Ansprache scharren die Gäste nervös mit den Füßen, der Blick schweift immer wieder ab auf das üppige Buffet. Kaum hat das Brautpaar dieses für eröffnet erklärt, stürzen sich alle auf die nett angerichteten, reichhaltigen Speisen. Jeder packt seinen Teller so voll wie möglich, Schnitzel, Spätzle und Mousse au Chocolat verschwinden in unsere Mägen. Was bleibt ist das Völlegefühl. Grundsätzlich isst man immer mehr, wenn man leichten Zugang hat, fand Volker Pudel heraus. Unser natürliches Sättigungsgefühl kommt da gar nicht so schnell hinterher. Ein Beispiel: "Während eines Tests boten wir unseren Probanden belegte Brötchen an. Je größer dabei das sichtbare Angebot war, desto häufiger griffen sie auch zu", berichtet Pudel. Schuld daran ist wieder die Erziehung: Mit dem Befehl "Iss deinen Teller leer!" programmieren Eltern ihre Kinder darauf, eigene Sättigungssignale zu überhören.

Kindliche Intuition

Dabei wissen eigentlich schon die Kleinsten, was gut für sie ist und was nicht. Heraus fand das die amerikanische Ärztin Clara Davis bereits in den 1920er und 1930er Jahren. Nach dem Abstillen ließ sie Säuglinge für sechs bis zwölf Monate ihre Speisen selbst auswählen. Dazu bekamen sie Lebensmittel in kleinen Schälchen auf einem Tablett angeboten. Sie konnten probieren, soviel sie wollten, bei Bedarf half eine Kinderkrankenschwester beim Essen. Instinktiv suchten die Kinder genau das aus, was ihr kleiner Körper brauchte: Obst und verschiedene Milchprodukte.

Bereits im Grundschulalter können sie dann bewusst gesunde von ungesunden Lebensmitteln unterscheiden, wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung untersuchte. Sie wollte von den Kindern wissen, welche Lebensmittel stark machen und gesund sind. Einstimmig hieß es "Vollkornbrot, Tomaten und Nudelsuppe". Spitzenreiter in der Kategorie "Das mag ich!" waren hingegen Lebensmittel, die die Kinder zuvor als ungesund eingestuft hatten: Pudding, Hamburger und Schokoriegel. Schließlich lockt neben dem bevorzugten Geschmack auch noch der Reiz des Verbotenen. Und gerade diesem zu widerstehen, fällt den Kindern schwer. Oft genug sehen sie mit an, wie Mama selbst nach einem stressigen Arbeitstag Plätzchen nascht mit der Begründung, sie brauche das "für die Nerven". So versagt laut Pudel die Vorbildfunktion der Eltern. An ihre Stelle treten Kindergärten und Schulen, wo Jahr für Jahr mehr Kinder bis nach dem Mittagessen bleiben. Und genau dort steckt ein enormes Potential, den Kindern einen gesunden Umgang mit Lebensmitteln mit auf den Weg zu geben. "Alles ist in Deutschland geregelt, nur das Nahrungsangebot in öffentlichen Einrichtungen nicht! In Kindergärten erfüllt das Essen den Tatbestand der Körperverletzung", kritisiert Volker Pudel, bekannt für seine Polemiken gegen Ernährungsberater und die Nahrungsmittelindustrie.

Eine weitere Hürde auf dem Weg zu einem vernünftigen Essverhalten ist die Tatsache, dass alleine das Wissen um falsche Ernährung nicht ausreicht. Wirklich einsehen, dass Schokolade dick macht, können Kinder nämlich nicht. Es ist nun einmal so: Wer abends noch Kekse und Gummibärchen nascht, wacht morgens nicht gleich als Walross auf. Der zeitliche Abstand zwischen Fehlverhalten und dessen Konsequenzen ist für Kinder viel zu groß. Sie wollen genießen, Hier und Jetzt. Wen interessiert da schon, was in ein paar Jahren ist? Ein Problem, mit dem selbst Erwachsene noch häufig zu kämpfen haben. Für sie steht gutes Essen in der von Pudel ermittelten Lusthierarchie nämlich ganz weit oben, gleich nach Urlaub, Familie und Sex. Also dann: Guten Appetit!

Simone Müller

Dieser Beitrag ist Teil eines Projektes der Studenten des 3. und 5. Semester Wissenschaftsjournalismus der Hochschule Darmstadt zum Thema "Ernährung":
Das große Fressen

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