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Scheich Bedreddin: Die Rebellion der Derwische

Vor 600 Jahren forderte ein radikaler Denker das Osmanische Reich heraus. Seine Thesen von der Gleichwertigkeit aller Menschen führen zur Rebellion und einem jähen Ende am Strick.
Derwische in einer Miniatur

Der Herrscher hatte befohlen, den Gehenkten an Ort und Stelle hängen zu lassen. Einen Tag und eine Nacht lang baumelte denn auch der nackte Leichnam Scheich Bedreddins an einem Baum auf dem Marktplatz des griechisch-makedonischen Städtchens Serres. Doch schon im Morgengrauen des zweiten Tages nach der Hinrichtung des hoch geachteten Gelehrten, so die Legende, wagten es drei seiner Anhänger den Körper ihres Scheichs abzuhängen, ihn fortzuschaffen und an einem geheimen Ort zu bestatten.

Der Mann, der da genau heute vor 600 Jahren von einem Ast herabhing, Bedreddin Mahmud Bin Israil, war rund sechs Jahrzehnte zuvor, wahrscheinlich 1358, in Simavna zur Welt gekommen, einem befestigten Dorf nahe Adrianopel, dem heutigen Edirne in Thrakien, dem europäischen Teil der Türkei. Bedreddins Vater war Kadi (Richter) und Festungskommandant der erst kürzlich von den Osmanen eroberten Ortschaft, seine Mutter die zum Islam konvertierte Tochter des früheren byzantinischen Befehlshabers Simavnas. Zu jener Zeit hatte das Osmanische Reich gerade erst damit begonnen, in Europa Fuß zu fassen. Nur vier Jahre vor Bedreddins Geburt war es den Türken gelungen, einen dauerhaften Brückenkopf an der westlichen Küste der Dardanellen zu errichten, was ihnen prächtige Aussichten auf weitere Eroberungen eröffnete.

In den uç (Spitze) genannten Grenzregionen standen im Grunde alle Männer sowie zum Teil auch Frauen unter Waffen, waren sie doch unter anderem gegen steuerliche Vergünstigungen verpflichtet, etwaige Eindringlinge abzuwehren und selbst Raubzüge in benachbarten Territorien zu unternehmen. Auch Bedreddin entstammte offenbar einer Familie von Ghazis. Diesen Ehrentitel durften in der osmanischen Frühzeit jene Männer führen, die sich an den Rändern des Reichs als Kämpfer für die Sache Gottes – und die Erweiterung des Herrschaftsgebiets – hervorgetan hatten.

Sie kämpften für ein Reich, dessen Grundstein eine Generation zuvor Osman I. (1258–1326) gelegt hatte, zunächst noch als ein Regionalfürst unter vielen. Nur 25 Jahre später war sein anfangs recht bescheidenes Herrschaftsgebiet in Anatolien auf das Dreifache gewachsen. Zur Zeit der Geburt Bedreddins regierte bereits Orhan I. (1281–1359). Er hatte das Reich von seinem Vater geerbt – und offenbar auch dessen Eroberungsglück: Die Byzantiner hatte er bereits weitgehend aus Kleinasien verdrängt sowie konkurrierende türkische Fürstentümer, so genannte Beyliks, entweder schon einkassiert oder wenigstens in die Schranken gewiesen, Land auf dem europäischen Kontinent erobert und den osmanischen Machtbereich noch einmal verdreifacht.

In Thrakien treffen Kulturen und Religionen aufeinander

Die von unablässigen Grenzkonflikten geprägte Welt des jungen Bedreddin war dabei multiethnischer und multireligiöser, als man es vielleicht erwarten würde: »Auf byzantinischer Seite kämpften vor allem die jeweiligen Provinzialherren und neben diesen dorthin dirigierte Armenier, Slawen, Franken, zunehmend auch Türken«, schreibt der Berliner Sprachwissenschaftler Mesut Keskin in einer umfangreichen Studie zum Leben und Wirken Bedreddins. Auf osmanischer Seite wiederum zogen auch christliche oder bereits islamisierte Armenier und Griechen in den Kampf. Heiraten über die konfessionellen Grenzen hinweg waren keine Seltenheit, wobei in der Regel die Frau die Religion ihres Mannes annahm. Die Herrschenden machten es vor: Byzantinische Prinzen nahmen sich türkische Frauen und osmanische heirateten Griechinnen. Das Volk tat es ihnen gleich, wie ja auch Bedreddins Mutter griechischer Abstammung war.

Dynastiegründer Osman I. | Die Osmanen begannen als eher unbedeutende Regionalfürsten, doch durch stetige Eroberungserfolge wuchs ihr Reich auf eine gewaltige Größe an. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung erstreckte es sich vom Balkan bis nach Persien und Nordafrika im Süden.

Schon früh stellte sich heraus, dass ihr Knabe mit besonderer Intelligenz gesegnet war. Im Heimunterricht legten die Eltern die Grundlage für seine Ausbildung. Neben Arabisch, Persisch und den Sprachen der Grenzländer stand die religiöse Unterweisung auf dem Lehrplan. Bald konnte der Junge den Koran auswendig und verdiente sich so den Ehrentitel Hāfiz, berichtet sein Enkel Halil, dessen mit hagiografischen Elementen angereicherten Lebensbeschreibung, der Menâkibnâme, wir im Grunde fast alles verdanken, was wir über das Leben des Bedreddin wissen.

Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass der kluge Junge eines Tages seine prunkvolle Palastgarderobe gegen das einfache Gewand eines Derwischs eintauschen wird und zum Zeichen seiner Abkehr von der Welt angeblich alle Bücher im Nil versenkt. Stattdessen nahm er Abschied von den Eltern und begann eine vorzügliche, wenn auch konventionelle Bildungskarriere. Erst Jahre später wird er in seine Heimat zurückkehren – mit einer eigenen Philosophie im Gepäck, die das theoretische Gerüst einer Rebellion bildet.

In Bursa, das erst kurz zuvor zur Hauptstadt des Osmanischen Reichs geworden war, vertiefte er seine Studien. Von dort zog er nach Konya, der einstigen Hauptstadt der Seldschuken, die auch nach dem Untergang der Dynastie als anatolisches Zentrum der Kultur und Gelehrsamkeit galt.

Von hier aus ging er bald über Jerusalem nach Kairo an die 988 gegründete al-Azhar, die älteste Hochschule der islamischen Welt. Dort setzte er seine umfangreichen Studien der Theologie und der Rechte sowie der Astronomie, Mathematik, Logik und Philosophie fort und vervollkommnete sie.

Offenbar fiel seine umfassende Bildung bald auch den richtigen Leuten in Kairo auf, ernannte ihn doch der dort residierende Mamlukensultan Barquq (1339–1399) zum Erzieher seines Sohnes.

In der Krise wandelt er sich zum Derwisch

In der Stadt am Nil kam es schließlich zur entscheidenden Wandlung des Mittdreißigers. Eine nicht näher erläuterte Lebenskrise soll den Sohn des Richters von Simavna, so der Beiname Bedreddins, zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlasst haben: Er schloss sich dem Sufiorden Scheich Hüseyin Al-Achlātīs (um 1320–1397) an, der zu jener Sorte von Derwischen gehörte, die es mit der islamischen Regelstrenge nicht so genau nahmen. Er brach mit seinem bisherigen Leben und tat dies auch äußerlich durch das Arme-Leute-Gewand der Derwische kund; die Bücher, über Jahre hinweg die Quelle seiner Gelehrsamkeit, landeten im Fluss.

Sich selbst, so berichtet es der Enkel und Biograf Halil, versenkte er in Trance: »Die Verzückungszustände wurden von Tag zu Tag schlimmer. Selbst dem Ordensgründer Hüseyin Achlati wurde es angst und bang, da er für die Gesundheit Bedreddins zu fürchten begann.« Die Auflösung des Selbst, das Aufgehen in Gott war und ist eine Sehnsucht der Sufis. Bedreddin war in dieser Hinsicht wohl auf einem guten Weg.

Halil war es offenbar ein Anliegen, für die Nachwelt festzuhalten, dass sich sein Großvater erst unter dem Einfluss Al-Achlātīs vom orthodoxen Gelehrten zum freidenkerischen Mystiker wandelte. Wobei die Unterscheidung zwischen Gelehrten und Mystikern nicht nur im Orient und nicht nur zu jener Zeit bei Weitem nicht so einfach war, wie man meinen möchte. Wer sich mit der Essenz der Religion beschäftigte, galt als Weiser. Das aber traf auf den muslimischen Richter, der die Scharia auslegte, ebenso zu wie auf den Esoteriker, der die geheime Bedeutung einzelner Buchstaben und Wörter des Korans zu deuten suchte, um so den tieferen Sinn von Gottes Wort zu ergründen.

Anders als den meisten Christen die Bibel gilt der Koran den gläubigen Muslimen als tatsächlich wörtliche Offenbarung Gottes. Sufis, die unter anderem über den tieferen, verborgenen Sinn der Suren grübelten, bewegten sich daher häufig außerhalb der Normen und Gesetze des sunnitischen Islams, dem die Osmanen anhingen. Trotzdem begegneten ihre Zeitgenossen diesen »vagabundierenden und die Gesellschaftsregeln missachtenden Derwischen«, so Keskin, mit Wertschätzung bis hin zur Bewunderung – und tun dies in vielen Regionen der muslimischen Welt bis heute noch. Im Osmanischen Reich genossen die Derwische, die seit Jahrzehnten vorwiegend aus dem persischen Raum einwanderten, hohes Ansehen – vor allem beim einfachen Volk, und besonders in den konfessionell und ethnisch durchmischten Grenzländern, aber auch an den Küsten Kleinasiens, wo Muslime, Christen und Juden unter türkischer Herrschaft nebeneinander lebten.

Rumi und Shams-e Tabrisi | Aus dem Aufeinandertreffen ging ein Hauptwerk des Dichters hervor, der »Diwan-e Schams-e Tabrizi«. Darin schreibt er: »Ich bin weder Christ noch Jude, auch Parse und Muslim nicht.« Rumi wirkte auch in Konya, wo später Bedreddin studieren sollte.

Einen Eindruck davon, wie weit viele Sufis die engen Grenzen der orthodoxen Religion hinter sich ließen, vermittelt schon ein einziger Vers aus dem »Diwan« des großen persischen Sufimystikers Maulana Dschelaleddin Rumi (1207–1273): »Ich bin weder Christ noch Jude, auch Parse und Muslim nicht.« Bis heute verehren in der islamischen Welt auch streng religiöse Menschen Rumi, der in seinen Schriften eine gewisse Affinität zu Jesus zeigte und für Toleranz eintrat, selbst gegenüber »Götzenanbetern«, die er einlud, sich ihm anzuschließen. Das offene, heute würde man sagen: liberale Religionsverständnis der Derwische, die die Küstengebiete Kleinasiens durchwanderten, erleichterte es denn auch den dort lebenden und plötzlich unter muslimische Herrschaft geratenen Juden und Christen, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden.

Bedreddin wird Scheich des Ordens

In Kairo erwies sich Al-Achlātīs Sorge um Bedreddins Gesundheitszustand augenscheinlich als unbegründet. Im Gegenteil. Der Mann aus Thrakien gewann im Kreis der Derwische an Einfluss und übernahm nach dem Tod des Gründers 1397 sogar dessen Nachfolge. Als Scheich des Kairoer Ordens wirkte er jedoch nur ein halbes Jahr lang, »denn dann gerieten die Derwische in Streit mit ihm, da jeder sich der Nachfolge Achlatis würdiger hielt«, so sein Enkel und Biograf. Der Scheich räumte das Feld und machte sich auf den langen Heimweg nach Norden.

Wie weit er zu diesem Zeitpunkt seine brisante Philosophie entwickelt hatte und wie offensiv er sie verkündete, ist nicht überliefert. Halil hielt lediglich fest, sein Großvater habe beschlossen, die Lehre von der Vereinigung mit Gott zu verbreiten. Unterwegs machte Bedreddin in allen bedeutenden Städten wie Jerusalem, Damaskus, Aleppo oder Konya halt, hielt Predigten und gewann Anhänger.

»Wenn jedes einzelne [Wesen] sagte ›Ich bin Gott‹, entspräche das der Wahrheit«Scheich Bedreddin

In Westanatolien wurden zwei Männer zu seinen Murīds (Gefolgsleuten), die ihm bis zum bitteren Ende verbunden bleiben sollten: Börklüce Mustafa und Torlak Kemal, aus deren Leben wenig mehr bekannt ist, als dass sie die militärischen Anführer des Aufstands waren, den der Scheich in wenigen Jahren entfesseln sollte. Börklüce Mustafa stammte möglicherweise von der Ägäisinsel Samos, könnte daher ein konvertierter Grieche gewesen sein. Die osmanischen Chroniken weisen darauf hin, dass er sich sehr freundlich gegenüber Christen äußerte. So soll er gepredigt haben, dass kein Muslim sein könne, wer den Anhängern Jesu nicht mit Respekt begegne. Von Torlak Kemal heißt es in den Quellen, er sei als Jude geboren worden, habe aber ebenfalls den Islam angenommen.

Zur Zeit der Heimkehr Bedreddins nach Edirne regierte Sultan Bayezid I. (1360–1403) das Reich, der Urenkel des Dynastiegründers Osman. Durch eine Reihe von so rasanten wie erfolgreichen Feldzügen hatte er sich bereits den Beinamen Yıldırım (Blitz) verdient. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1389 hatte er einige wiedererstarkte türkische Fürstentümer unterworfen. In der Schlacht bei Nikopolis in Bulgarien schlug er 1396 eine ausdrücklich gegen die Türkengefahr aufgebotene Streitmacht aus ungarischen und französischen Kreuzrittern vernichtend. Als er im Jahr darauf auch noch das mächtige Beylik der Karaman im Südosten Anatoliens eroberte, beherrschte Bayezid ein Reich, das von der Donau bis zum Fluss Kızılırmak (dem antiken Halys) reichte, somit von der ungarischen bis an die armenische Grenze.

Ein mongolischer Feldherr ringt die Osmanen nieder

Das alte Byzantinische Reich hingegen – über Jahrhunderte der größte Machtfaktor der Region – war zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Stadt Konstantinopel samt Hinterland und einige schmale Landstriche in Griechenland zusammengeschrumpft. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis sich der Sultan auch diese Gebiete einverleiben würde.

Doch dann kam Timur. Am 20. Juli 1402 unterlag Bayezids Heer in der fast 20 Stunden dauernden Schlacht bei Ankara der turkomongolischen Streitmacht Timur Lenks (1336–1405). Der Sultan selbst geriet in Gefangenschaft, in der er im folgenden Jahr verstarb – möglicherweise von eigener Hand. Dabei war dem Heerführer aus dem Fernen Osten nie an einer Herrschaft über Anatolien gelegen. Lediglich den ständigen Raub- und Eroberungszügen der Osmanen an der Grenze seines gewaltigen Reichs wollte er ein Ende setzen. Vielmehr war es dem fast 70-jährigen mongolischen Herrscher ein Herzensanliegen, sein kriegerisches Werk zu vollenden und endlich China einzunehmen, dessen Vasall er trotz all seiner Eroberungen pro forma immer noch war. Also wandte er sich wieder nach Osten und überließ Kleinasien seinem Schicksal.

Sultan Bayezid I. vor Timur | Seine Eroberungskriege brachten dem Osmanensultan Bayezid I. den Beinamen »Blitz« ein. Doch gegen den Mongolenherrscher Timur verlor der Sultan. Um ein Haar wäre das Osmanische Reich untergegangen.

Dort vernahm man drei Jahre später mit Erleichterung die Nachricht vom Tod des großen Feldherrn. Timur war im Februar 1405 auf dem Feldzug gegen China gestorben, übrigens noch ehe er mit seinen Truppen die Grenzen des Reichs der Ming-Dynastie erreicht hatte. Nun, da die mongolische Gefahr bis auf Weiteres gebannt war, machten sich die Osmanen daran, ihr beinah zerfallenes Reich wieder aufzubauen – allerdings auf recht verworrene Weise. Gleich vier von Bayezids Söhnen kämpften in einem zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg um den Thron.

Bedreddin klettert die Karriereleiter weiter empor

In Edirne, wo sich Bedreddin inzwischen niedergelassen hatte, eroberte 1410 Musa Çelebi die Macht, der gemeinsam mit seinem Vater nach der Schlacht bei Ankara in Gefangenschaft geraten, inzwischen aber wieder frei gelassen worden war. Als Sultan im europäischen Teil des Reichs ernannte er Scheich Bedreddin zum Kadıasker, zum obersten Heeresrichter, was etwa dem Posten eines mit weit reichenden Befugnissen ausgestatteten Justizministers entsprach.

Drei Jahre darauf wurde Musa von seinem Bruder Mehmet entmachtet und getötet, der damit auch seinen letzten Rivalen um den Thron ausgeschaltet hatte. Der neue Sultan, nunmehr alleiniger Herrscher über das weitgehend wieder hergestellte Reich, ließ den Großteil der Gefolgsleute seines Bruders hinrichten. Bedreddin aber gewährte er seiner Verdienste um den Staat an sich und seines Ansehens wegen eine Rente und verbannte ihn in den asiatischen Teil des Reichs nach Iznik, dem antiken Nicäa, unweit der Hauptstadt Bursa. Dort widmete sich der Scheich hauptsächlich der Niederschrift seiner Lehren. Zwar hatte er schon zuvor einige Werke verfasst, unter anderem in seiner Zeit als Kadıasker ein juristisches, in dem er die Notwendigkeit unabhängiger Gerichte unterstrich. Nun aber entstand sein philosophisches Hauptwerk »Varidat« (Einsichten oder Eingebungen), in welchem er seine Überzeugungen in religiösen wie in sozialen Fragen zu Papier brachte.

Das Buch, das den Eindruck erweckt, aus Predigten des Scheichs zu bestehen, hebt an mit einem Paukenschlag: »Wisse und zweifle nicht daran: Das Paradies, die Huri, die Bäume, die Früchte, die Flüsse, die Qual, das Fegefeuer, welche in den Büchern geschrieben stehen und von Mund zu Mund gehen, haben eine andere Bedeutung als die offenkundige.« Himmel und Hölle, so Bedreddin, gebe es nicht so, wie sie im Koran beschrieben würden. Vielmehr sei alles Gute und Schöne im Leben das Paradies, alles Böse und Hässliche die Hölle. Überhaupt sollten die Aussagen der heiligen Schriften nicht wörtlich genommen werden. Die Welt sei nicht in sechs Tagen erschaffen worden – und sie werde auch nicht mit einem Jüngsten Gericht enden. Die geheimen Aussagen der göttlichen Offenbarungen würden immer nur dann verstanden werden, wenn die Menschen dafür reif seien.

Hinter Bedreddins Thesen steckt eine gesellschaftliche Sprengkraft

Das bedeutet zugleich, dass alle Aussagen des Korans – für orthodoxe Gläubige immerhin Gottes Wort – ausgelegt und interpretiert werden dürfen und sollen, ja müssen. Selbst den Glauben an die Auferstehung und das Leben nach dem Tod, Grundlagen der islamischen Religion, wies Bedreddin zurück. Wenn die Seele in der Vereinigung mit Gott aufgeht, ist der Körper ohne jede Bedeutung. Der Eine sei in allem, und alles sei in dem Einen, also in Gottes Absolutheit. Daher sind auch alle Wesen im Grunde gleich. »Wenn jedes einzelne von ihnen sagte ›Ich bin Gott‹, entspräche das der Wahrheit, da alle Wesen von Gott kommen.« Ob einer Muslim ist, Jude oder Christ, wird im Lichte dieser Theologie schlicht bedeutungslos.

Bei aller Sprengkraft, die Bedreddins heterodoxer Auslegung der Religion innewohnt, stand er damit letztlich in der Tradition vieler Derwische vor ihm. Die Schlussfolgerungen für die Gesellschaft, die er daraus zog, waren hingegen weit bedrohlicher. Das osmanische Establishment, vom Klerus über das Militär und die Beamtenschaft bis hin zum Sultan selbst, konnte darin einen Angriff auf den eigenen Rang und Status sehen. Alle Menschen, so der Scheich, seien von Geburt an gleich geschaffen. Daher stehe es im Widerspruch zur göttlichen Weisheit, dass manche in Reichtum schwelgten, während andere Hungers litten. Dies gelte es, im Einklang mit Gottes Willen zu ändern. In einer durch Timurs Feldzug und dem darauf folgenden Bürgerkrieg völlig zerrütteten und verarmten Gesellschaft fanden solche Worte natürlich Gehör. Und offenbar beließ es der Scheich nicht beim Theoretisieren, sondern sandte Botschaften und Aufrufe an seine Anhänger in den Provinzen.

Der Aufstand gegen die Mächtigen beginnt

Über das, was dann geschah, berichten mehrere osmanische Chronisten – alle freilich mehr oder weniger Hofschreiber, die die Sichtweise der am Ende siegreichen Herrschenden vertraten. Nur der Grieche Johannes Dukas, der um 1450 als Schreiber des genuesischen Podestàs (Gouverneurs) im heutigen Foça bei Izmir lebte, schrieb weitgehend ohne Partei zu ergreifen über die Vorkommnisse des Jahres 1416. »Ein gewöhnlicher türkischer Bauer«, so Dukas, habe seinerzeit in den Dörfern an der gebirgigen Westküste Kleinasiens begonnen, umstürzlerische Reden zu halten. »Er predigte den Türken die freiwillige Armut und lehrte, außer Frauen müsse alles Gemeingut sein, wie Lebensmittel, Kleider, Zugvieh und Ackergerät.«

Der »gewöhnliche Bauer« war Bedreddins Gefolgsmann Börklüce Mustafa, der auf der Halbinsel Karaburun im Osten von Izmir die Gütergemeinschaft predigte und innerhalb kürzester Zeit eine Rebellenarmee von bis zu 10 000 Muslimen, Christen und Juden um sich scharte. Gleichzeitig versammelte Torlak Kemal nahe dem westlich von Izmir gelegenen Städtchen Manisa ebenfalls tausende Aufständische um sich. Die Aufrührer propagierten, Bedreddin sei der erwartete Mahdi, der das Unrecht auf der Welt beseitigen werde, und erhoben sich zum Sturz der herrschenden Ordnung.

Mehmet I. nahm das alles offenbar nicht sonderlich ernst. Unbotmäßige Regionalfürsten, die sich der osmanischen Herrschaft nicht wieder fügen mochten, nahmen bereits genug Zeit in Anspruch. Nachdem aber zwei Strafexpeditionen gegen die Aufrührer misslungen waren, schlug das Imperium mit aller Gewalt zurück. Die Rebellen hatten keine Chance gegen die geballte Militärmacht des Sultans. Wer von ihnen nicht in der Schlacht fiel, wurde danach niedergemetzelt, Börklüce Mustafa erst ans Kreuz genagelt, dann gevierteilt, Torlak Kemal aufgehängt.

Bedreddin selbst war inzwischen aus Iznik geflohen und über das Schwarze Meer auf den Balkan entkommen. Dort unternahm der 62-Jährige nun selbst einen letzten Versuch des Aufbegehrens, wurde aber verraten und an den Sultan ausgeliefert. Der ließ über ihn in Serres Gericht halten. Kurioserweise wurde der Scheich nicht wegen seines abweichlerischen Glaubens verurteilt, sondern ausdrücklich auf Grund des Aufstands gegen den Herrscher. Für Bedreddin, der am 18. Dezember 1420 nach kurzem Prozess nackt an einem Baum auf dem Marktplatz des Städtchens aufgeknüpft wurde, machte dies freilich keinen Unterschied.

Nachdem seine Gefolgsleute während der Zeit der Verfolgung die sterblichen Überreste des Scheichs mehrmals umgebettet hatten, wurde er schließlich offiziell in Serres bestattet.

Bis heute hat sich der Scheich eine Anhängerschaft erhalten

War Bedreddin auch vergraben, vergessen wurde er nicht. Seine juristischen Schriften galten noch Jahrhunderte nach der Hinrichtung ihres Verfassers selbst orthodoxen Richtern als Standardwerke. Die mystischen Lehren des Scheichs wurden allerdings unterdrückt, das »Varidat« blieb bis ins 20. Jahrhundert verboten. Große Teile von Bedreddins Anhängerschaft dürften sich dem vom schiitischen Islam beeinflussten Alevitentum Anatoliens angeschlossen haben und darin aufgegangen sein. Im Osmanischen Reich wurde diese Glaubensgemeinschaft, die die meisten der für Sunniten bindenden Gebote und Verbote des Korans ablehnt oder missachtet, über Jahrhunderte verfolgt und unterdrückt, wogegen sie ihrerseits immer wieder vergeblich den Aufstand probte. Bis heute wird die immerhin zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei von der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert. Ihre Gottesdienste gelten im besten Fall als folkloristische Events, im schlimmsten als ketzerische Versammlungen. Zudem sind alevitische Personen und Einrichtungen häufig das Ziel von Angriffen, Anschlägen und sogar Pogromen.

Vor allem in seinen einstigen Wirkungsstätten, in Thrakien und Mazedonien, dürfte sich der Scheich bis ins 20. Jahrhundert eine Anhängerschaft bewahrt haben. »Noch heute zeigt man im Westviertel des Städtchens sein Grab«, schrieb vor fast 100 Jahren der Orientalist Franz Babinger, der 1921 die erste Lebensbeschreibung des Scheichs in deutscher Sprache veröffentlichte. Und auch Nazim Hikmet (1902–1963), der Begründer der modernen türkischen Lyrik, berichtet von einer folgenschweren Begegnung mit Anhängern Bedreddins auf dem Balkan. Sein Kindheitserlebnis mündete Jahre später in das 1936 erschienene »Epos von Scheich Bedreddin«, mit der er der Verehrung des ungewöhnlichen Mystikers neues Leben einhauchte. Für die türkische Linke gilt der Scheich mit dem radikalen Gesellschaftsentwurf bald als eine Art weltlicher Schutzpatron.

Inzwischen haben ihn sogar streng religiöse Autoren für sich entdeckt. Ihre Bemühungen, den abweichlerischen Derwisch für den eigenen orthodoxen Glauben zu vereinnahmen, überzeugen zwar hinten und vorne nicht, stehen aber im Einklang mit dem Bestreben der neoosmanisch ausgerichteten Regierung, Aspekte der türkischen Geschichte im eigenen Sinn umzudeuten.

Den Scheich ficht dies freilich nicht an, gibt es doch keine Auferstehung. 1924 nahmen Anhänger Bedreddins, die im Zuge des Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland ihre Heimat verlassen mussten, seine Knochen mit und versteckten sie über Jahrzehnte. Schließlich wurde der Scheich 1961 im Mausoleum Sultan Mahmuds II. (1785–1839) zu Istanbul beigesetzt – zur vorerst letzten Ruhe.

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