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Mikrobiologie: Scheintod eines Virus

Als Größte in ihrem Reich kann man sie unter dem Lichtmikroskop gerade eben erkennen: Pockenviren. Wie sie unsere Zellen geschickt hinters Licht führen, um sich Eintritt zu gewähren, war bis heute noch bei keinem anderen Virus beobachtet worden.
Infektion mit Vaccinia Viren
Der Franzose Edmond Dantès entkam aus seinem Kerker des Felsengefängnisses Chateau d'If durch ein geschicktes Täuschungsmanöver: Im Leichensack seines Zellennachbarn hielten ihn die Wärter für tot und warfen ihn ins Meer. Eine vergleichbare List nutzt das Pockenvirus, um sein Ziel zu erreichen. Der Unterschied: Dantès wollte raus – das Virus rein.

Replikationszyklus | Das Vaccinia-Virus dockt an die Oberfläche der Wirtszelle (grün) und wird über Makropinozytose einverleibt. Aus dem mebranumhüllten Vesikel (violett) entkommt das Virus-Kapsid (blau/violett) mit Hilfe eines niedrigen pH-Wertes in das Zytoplasma. Noch im Kapsid kommt es zur Transkription der frühen Gene, die durch mitgeführte Enzyme vermittelt wird. Die DNA-Replikation läuft innerhalb von sechs Stunden ab, wobei zirka 10 000 neue Kopien gebildet werden. Es werden die späten Gene exprimiert und intrazelluläre reife Viren (MV) zusammenzusetzten.Um diese schließt sich eine Doppelmembran aus zellulären Bestandteilen. In die Peripherie verdrängt, knospt das Virus in Golgi-Vesikel (hellgrau), die die äußere Hülle darstellen. Das umhüllte Virus (EV) wird entlang von Aktinfilamenten zur Zellmembran transportiert und dann ausgeschleust. Dabei erhält es eine weitere Hülle (grau).
Einen guten Trick braucht das Vaccinia-Virus unbedingt, damit die Wirtszellen ihn einlassen und seiner Vermehrung freien Lauf gewähren. Denn der Erreger ist der größte unter den Viren; fast so groß wie manche unserer Körperzellen. Es handelt sich um einen engen Verwandten des Kuhpockenviruses, der auch Menschen infizieren kann. Wie es trotz seiner Riesengestalt unbemerkt in eine Vielzahl menschlicher Zellen eindringen kann, haben die Forscher Jason Mercer und Ari Helenius von der Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich jetzt Stück für Stück analysiert.

Der entscheidende Schritt, den es zu untersuchen galt, war hierbei nicht das Andocken der Pockenviren an die Wirtszelle, sondern der nachfolgende Vorgang, bei dem die Zelle das Virus mit seiner Membran umschlingt und in sich aufnimmt. Derartiges ist allgemein als Endozytose bekannt. Fresszellen beispielsweise benutzen sie, um fremde Eindringlinge und Abfall toter Zellen zu beseitigen.

Aktin-Formation nach Infektion | Auf der linken Seite eine HeLa-Zelle, in der man in rot das Aktin-Gerüst sieht. Auf der rechten Seite eine mit Vaccinia-Viren (grün) infizierte HeLa-Zelle. Das Aktin-Gerüst ist deutlich umgeformt.
Wie das Vaccinia-Virus sich Zutritt verschafft, verfolgten die Forscher zunächst unter dem Mikroskop. Währenddessen veränderten Sie verschiedenste Enzyme (unter anderem PAK1), Zellstrukturproteine (Aktin, Dynamin und Myosin) oder Ionenpumpen in ihrer Aktivität und fanden ein ganzes Spektrum an wichtigen Faktoren, die allesamt auf eine bestimmte Art der Endozytose hinwiesen: die Makropinozytose. Im Gegensatz zu der Phagozytose der Fresszellen ermöglicht dieser Akt der Einverleibung es fast allen Körperzellen, große Bausteine mit ihrer Membran zu umschlingen und in einer intrazellulären Blase im Zytoplasma abzuschnüren.

Vaccinia-Virus | Ein Vaccinia-Virus unter dem Elektronenmikroskop. Sichtbar sind das Kapsid in der Mitte des Virus (dunkelgrau) und zwei Hüllmembranen.
Die eigentliche Aufgabe der Makropinozytose ist es, apoptotische Zellen, die sich selbst zerstört haben, zu beseitigen. Diese toten Zellen präsentieren ein Merkmal auf ihrer Zelloberfläche, um ihr Schicksal zu signalisieren – das Phosphatidylserin (PS). Das Lipid gibt den umliegenden Körperzellen das OK, die tote Zelle zu beseitigen.

PS fanden Forscher bereits in den 1980er Jahren vermehrt auf reifen Pocken-Viren: Bis zu 40 Prozent der Lipiddoppelschicht der Virushülle besteht aus dem Lipid. Ebenfalls bekannt war, dass PS wichtig für die Infektiösität ist. Was die Wissenschaftler damals jedoch nicht wussten, war, dass das Lipid auch bei der Apoptose das ausschlaggebende Eat-Me-Signal präsentiert.

3D-Ansicht der Virusinfektion | Vaccinia-Viren (rot), die HeLa-Zellen infizieren und dabei von Zellmembranausstülpungen (grau) umschlossen werden. Dieses Bild wurde mit der neuen 3D FIB/SEM Tomografie Methode hergestellt.
Mit dieser neuen Erkenntnis fügte sich das Bild zusammen: Vielleicht nutzt also auch das Pockenvirus das PS, um sich als apoptotische Zelle zu tarnen und vom Wirt aufgenommen zu werden? Um die Annahme zu stützten, zeigten die Forscher, dass ohne PS in der Virenhülle diese zwar noch an die Wirtszelle binden konnten, jedoch nicht mehr von dieser umstülpt und aufgenommen wurden. Auch ließ sich das PS nicht durch ein anderes ebenfalls negativ geladenes ähnliches Lipid ersetzten. Ausschließlich PS hat die Macht den Eintritt in die Körperzelle zu vermitteln.

Die Forscher sprechen von einer Art Mimikrie, die das Pockenvirus betreibt, indem es eine apoptotische Zelle nachahmt, damit die pflichtbewusste Wirtszelle den scheintoten Virus entsorgt. Fast so gerissen wie der Täuschungskünstler Edmond Dantès – auch bekannt als der Graf von Monte Christo. Nur das dieser neben seiner Rolle als Scheintoter noch ein paar andere Masken auf Lager hatte.
  • Quellen
Mercer, J., Helenius, A.: Vaccinia Virus Uses Macropinocytosis and Apoptotic Mimicry to Enter Host Cells. In: Science 320(5875), S. 531–535, 2008.

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