Schiffswracks: Das Leben nach dem Untergang
Der Wind stand vermutlich günstig an jenem 10. März des Jahres 241 v. Chr. Aber sonst sah es nicht gut aus für die Flotte der alten Seemacht Karthago. Eigentlich hatte Kommandant Hanno auf den Überraschungseffekt setzen und heimlich an der von Rom belagerten Westküste Siziliens landen wollen. Doch die Gegner waren auf der Hut. Und im Vorteil. Die römischen Mannschaften waren besser ausgebildet, ihre Schiffe hatten nur das Nötigste an Bord und waren damit deutlich wendiger als die mit Ausrüstung und Vorräten überladenen Fahrzeuge aus Nordafrika. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Seeschlacht vor den Ägadischen Inseln westlich von Sizilien endete für Karthago im Desaster, mehr als die Hälfte der Flotte wurde vernichtet oder erbeutet. Damit war der Erste Punische Krieg zu Gunsten Roms entschieden. Und der Schauplatz des Geschehens hatte sich in einen mit Schiffstrümmern übersäten Meeresfriedhof verwandelt.
Heute ist dieses Gebiet nicht nur aus archäologischer Sicht ein spannendes Forschungsfeld, sondern auch aus ökologischer. Denn auf den alten Trümmern wimmelt neues Leben. So haben Taucher aus rund 90 Meter Wassertiefe einen jener Rammsporne geborgen, die oft am Bug von antiken Kriegsschiffen befestigt waren: ein hohles, gut 90 Zentimeter langes und 170 Kilogramm schweres Stück Bronze, mit dessen Hilfe das gegnerische Schiff gerammt und versenkt werden sollte. Wie die Untersuchungen der Forschenden zeigen: Auf dem Grund des Tyrrhenischen Meeres hat sich die einst todbringende Waffe in ein Refugium für alle möglichen Wasserbewohner verwandelt.
Insgesamt 114 Tierarten hat ein Team um Maria Flavia Gravina von der Universität Tor Vergata in Rom auf der Oberfläche und im Inneren des Sporns entdeckt. Jene hatten mit vereinten Kräften eine eigene kleine Stadt geschaffen. »Die wichtigsten Bauherren in dieser Gemeinschaft sind Borstenwürmer, Moostierchen und einige Muschelarten«, erklärt Edoardo Casoli von der Universität La Sapienza in Rom, der an der Studie mitgearbeitet hat. »Ihre Röhren, Schalen und Kolonien heften sich direkt an die Oberfläche des Wracks.« Dazwischen spannen sich kleine Brücken, die aus den Kolonien von Moostierchen bestehen.
»So alte Wracks wirken praktisch als ökologisches Gedächtnis ihrer Kolonisation«
Maria Flavia Gravina, Universität Tor Vergata, Rom
Woher aber kommen all diese Bewohner? Offenbar haben sich in »Rammsporn City« Zuzügler aus den verschiedensten anderen Lebensräumen versammelt. Manche stammen von Seegraswiesen, andere sind normalerweise in schuttbedeckten Flachwasserbereichen, auf lichtüberfluteten Felsen oder in den eher schummrigen Riffen der Kalkalgen zu Hause. »Auf jüngeren Schiffswracks ist die Lebensgemeinschaft meist nicht so vielfältig wie in den Lebensräumen der Umgebung«, sagt Maria Flavia Gravina. »Dort findet man vor allem Arten, deren Larvenstadium lange dauert und die sich weit verbreiten können.«
Seit dem Ersten Punischen Krieg ist offenbar genug Zeit vergangen, um auch andere Bewohner anzulocken. In mehr als 2200 Jahren hat sich auf dem Sporn ein Querschnitt durch das Meeresleben der ganzen Region angesiedelt. Da gibt es lang- und kurzlebige Larven, bewegliche und sesshafte Erwachsene. Einzelgänger leben neben Koloniebewohnern, sexuell aktive Arten neben Anhängern der Jungfernzeugung. »So alte Wracks wirken praktisch als ökologisches Gedächtnis ihrer Kolonisation«, sagt Maria Flavia Gravina.
Die Crew der Eisenfresser
Doch auch die Überreste von deutlich jüngeren Schiffen sind ökologisch interessant. Sobald sie einmal ohne menschliche Besatzung am Meeresgrund liegen, werden sie von einer neuen Crew geentert. Deren Mitglieder sind zum Teil so klein und unscheinbar, dass über ihre Aktivitäten noch nicht viel bekannt ist. Wie ein Film überziehen unzählige Bakterien, Pilze und andere Mikroorganismen die Rümpfe, Planken und Masten. Und es lohnt sich, diese verborgene Welt genauer zu untersuchen. Denn die Mikroben entscheiden mit über das Schicksal des Wracks und seiner übrigen Bewohner.
Ein Team um Kyra Price von der East Carolina University in Greenwich hat zum Beispiel die Mikroorganismen unter die Lupe genommen, die sich auf dem Pappy-Lane-Wrack angesiedelt haben. Dieses ehemalige Kriegsschiff liegt zwar erst seit den 1960er Jahren im flachen Wasser des Pamlico Sounds in North Carolina. Doch die paar Jahrzehnte haben genügt, um auf dem stählernen Rumpf eine vielfältige Mikrobengemeinschaft gedeihen zu lassen. Auf den Wrackteilen ließ sich das Erbgut von 28 Bakteriengruppen mit ganz unterschiedlichen Lebensstilen nachweisen.
Prominent vertreten waren beispielsweise Organismen, die ihre Energie durch das Oxidieren von Eisen gewinnen – mit anderen Worten, die also Rost produzieren. Solche »Eisenfresser« haben ziemlich schnelle Entermannschaften in ihren Reihen, die wohl zu den ersten Besiedlern von Stahloberflächen gehören. Vertreter dieser Gruppe hat das Team so gut wie überall auf dem 50 Meter langen Schiff gefunden – allerdings in unterschiedlicher Dichte und Zusammensetzung. Denn Stahl ist aus Mikrobensicht offenbar nicht gleich Stahl. Vielleicht herrscht an einer Stelle ja ein besseres Angebot an Eisen oder Sauerstoff als an einer anderen. Oder in einem ehemaligen Treibstofftank finden sich immer noch Kohlenwasserstoffe, die manche Mikroben nutzen können und andere nicht. Jedenfalls scheint so ein versunkenes Schiff aus unterschiedlichen ökologischen Nischen zu bestehen, die seine Bewohner unter sich aufgeteilt haben.
Neuer Stamm auf altem Schiff
Das sieht man dem Wrack schon äußerlich an. So fanden sich auf stark verrosteten Teilen mehr und zum Teil auch andere Bakterien als auf noch weitgehend intakten. Sogar einen bisher unbekannten Stamm von »Eisenfressern« aus der Gruppe der Zetaproteobacteria hat das Team an einer korrodierten Stelle entdeckt und auf den Namen Mariprofundus ferrooxydans O1 getauft.
Gerade solche Wrackbewohner sollte man nach Einschätzung des Teams im Auge behalten. Schließlich können die Aktivitäten der Eisenoxidierer durchaus dazu beitragen, wertvolle historische Schiffe in rostigen Schrott zu verwandeln. Bestimmte Bakterien aber lassen sich möglicherweise als Frühwarnsystem nutzen: Wenn man deren Auftreten rechtzeitig feststellen könnte, ließe sich die Zerstörung vielleicht bremsen. Allerdings zeigen die Ergebnisse der Studie auch, dass es wahrscheinlich kein Patentrezept für die Erhaltung von Schiffswracks gibt: Jedes einzelne braucht wohl ein individuell zugeschnittenes Schutzkonzept, das die Baumaterialien ebenso berücksichtigt wie die verschiedensten Umweltfaktoren und die Zeit, die seit dem Untergang vergangen ist. Denn das alles beeinflusst, welche Bakterien sich wo sammeln.
So sind in den winzigen Entermannschaften keineswegs nur zerstörerische Kräfte am Werk. Schließlich zersetzen Mikroben nicht nur Eisen, sondern kurbeln auch eine ganze Reihe von anderen chemischen Prozessen an. Sie spielen beispielsweise eine wichtige Rolle in den Kreisläufen von Stickstoff, Kohlenstoff und Schwefel. Und damit halten sie auf den Wracks eigene kleine Ökosysteme am Laufen, deren Einfluss erstaunlich weit in die Umgebung ausstrahlt.
Mikrobielle Vielfalt am Grund
Solchen Prozessen sind Leila Hamdan von der University of Southern Mississippi und ihre Kolleginnen im Golf von Mexiko auf der Spur. Dort haben sie beispielsweise das Wrack der 1944 gesunkenen Luxusyacht Anona untersucht. Seit dieses Schiff mehr als 1200 Meter unter dem Meeresspiegel in der Tiefsee liegt, hat es sich in eine Insel der mikrobiellen Vielfalt verwandelt. Und die endet keineswegs an den Schiffswänden. Selbst 200 Meter von diesen entfernt fanden sich im Sediment des Meeresgrundes noch typische Wrackbewohner.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam das Team bei einem Experiment an zwei hölzernen Segelschiffen aus dem 19. Jahrhundert, die ebenfalls in den Tiefen des Golfs von Mexiko liegen. In deren Umkreis haben die Forscherinnen in verschiedenen Entfernungen Stücke aus Kiefern- und Eichenholz platziert und nach vier Monaten wieder eingesammelt. Per DNA-Analyse haben sie dann alle Bakterien, Pilze und anderen Mikroorganismen untersucht, die sich in der Zwischenzeit darauf angesiedelt hatten.
Auch in diesem Fall eroberten die Wrackbewohner die neuen Lebensräume in ihrer Umgebung. Ihre größte Artenvielfalt erreichten sie in bis zu 125 Meter Entfernung von den Schiffen, doch selbst auf den 200 Meter weit weg liegenden Holzstücken war ihr Einfluss noch deutlich zu erkennen. Das ist ein überraschend großer Radius. Zwar erhöhen ebenso natürliche Strukturen in der Tiefsee die biologische Vielfalt in ihrer Nachbarschaft. Bei einem auf den Grund gesunkenen Walkadaver ließ sich ein solcher Einfluss aber nur bis in etwa zehn Meter Entfernung nachweisen, rings um die besonders artenreichen Methanquellen waren es etwa 100 Meter.
Drei Millionen Wracks schlummern am Meeresgrund
Offenbar profitieren viele Mikroben von den Wracks auf eine ganz ähnliche Weise wie etwa von Totholz oder Felsen: Sie finden dort feste Oberflächen, an die sie sich anheften können. Und die haben Seltenheitswert in der recht eintönigen Welt aus Sand und Schlamm, die vielerorts den Meeresgrund prägt. »Wir wissen schon lange, dass natürliche Hartsubstrate dort unten einen großen Einfluss auf die biologische Vielfalt haben«, sagt Leila Hamdan. »Unsere Studie hat nun aber zum ersten Mal gezeigt, dass auch von Menschen geschaffene Habitate mit darüber entscheiden, welche Mikroorganismen sich auf den harten Oberflächen in ihrer Umgebung ansiedeln.«
Damit könnten versunkene Schiffe eine deutlich größere ökologische Wirkung entfalten, als man lange angenommen hatte. Immerhin sollen nach Schätzung der Weltkulturorganisation UNESCO weltweit etwa drei Millionen Wracks am Grund der Ozeane schlummern. Jedes davon ist ein potenzieller Lebensraum für eine reiche Mikrobengemeinschaft. Und die wiederum kann Nahrung und Lebensgrundlagen für zahlreiche andere Organismen schaffen. »An diesen Biofilmen liegt es letztendlich, dass sich die harten Oberflächen am Meeresgrund in Oasen der Vielfalt verwandeln«, sagt Laila Hamdan.
Wie erfolgreich sie dabei sind, lässt sich auch auf dem niederländischen Kontinentalschelf besichtigen. In diesem Bereich der Nordsee besteht der Boden heutzutage größtenteils aus Sand und anderen weichen Substraten. Harte Oberflächen findet man kaum. Doch das war nicht immer so. Alte Karten und Forschungsberichte zeigen, dass noch im 19. Jahrhundert zwischen 20 und 35 Prozent des dortigen Meeresgrundes mit Austernbänken, Findlingen aus der Eiszeit und anderen Hartsubstraten bedeckt waren. Durch Erosion, zerstörerische Fischereipraktiken und das Aussterben der Austern sind diese Lebensräume inzwischen fast komplett verschwunden. Für ihre Bewohner gilt das aber nicht: Etliche Arten, die auf einen festen Untergrund angewiesen sind, haben offenbar eine neue Heimat auf versunkenen Schiffen gefunden.
Wrack ersetzt zerstörte Austernbänke
Zu diesem Ergebnis kam eine Studie, die das private Forschungsunternehmen Bureau Waardenburg im Auftrag der niederländischen Regierung durchgeführt hat. Das Team um den Meeresökologen Joop Coolen hat zehn Wracks untersucht, die bis zu 75 Kilometer vor der Küste liegen. Dabei stießen die Forscher auf insgesamt 165 Tierarten. Fünf davon waren in den Niederlanden überhaupt noch nie nachgewiesen worden, von 64 weiteren hatte niemand gewusst, dass sie auf dem Kontinentalschelf vorkommen. Jedes Wrack hatte dabei seine eigene, einzigartige Gemeinschaft mit etlichen Arten, die sonst nirgends auftauchten.
Obwohl die untergegangenen Schiffe nur einen winzigen Teil des Meeresgrundes einnehmen, konzentriert sich hier also eine ungewöhnlich hohe Artenvielfalt. Und für etliche Bewohner sind sie wohl zur letzten Rettung geworden. So finden der Atlantische Kabeljau (Gadus morhua), der Klippenbarsch (Ctenolabrus rupestris) und die Leopardengrundel (Thorogobius ephippiatus) dort Lebensraum und Schutz vor der Fischerei.
Die Forscher halten es durchaus für möglich, dass einige dieser Fische ganz aus der Region verschwunden wären, wenn es keine Schiffswracks gäbe. Das Gleiche gilt für Arten wie die Wellhornschnecke (Buccinum undatum) und den Gepfriemten Zwergkalmar (Alloteuthis subulata), die ihre Eier an festen Oberflächen anheften. Oder für Höhlenbewohner wie den Taschenkrebs (Cancer pagurus) und den Europäischen Hummer (Homarus gammarus).
Hoffnung für die Europäische Auster
Vielleicht kann das versunkene Erbe der Seefahrer ja sogar neue Chancen für die Europäische Auster (Ostrea edulis) bieten. Früher gab es in der Nordsee riesige Bestände dieser beliebten Meeresfrüchte. Doch eine zu intensive Fischerei hat sie schon im 19. Jahrhundert massiv dezimiert. In Deutschland ist die Art spätestens in den 1950er Jahren »funktional ausgestorben«. Es gibt also zu wenige Tiere, um aus eigener Kraft wieder gesunde Bestände aufzubauen. Ähnlich schlecht geht es den Muscheln auch in den Niederlanden. In letzter Zeit sind in der Nähe der dortigen Küsten zwar einige Populationen entdeckt worden. Auf hoher See gilt sie als ausgestorben.
Irgendwo muss es dort aber wohl doch noch einen Bestand geben, der sich vermehren kann. Ein Indiz dafür hat Joop Coolen, der inzwischen am niederländischen Meeresforschungsinstitut Wageningen Marine Research arbeitet, im Juli 2019 gefunden. In einer Vertiefung neben dem Wrack eines Dampfschiffs, das vor etwa 100 Jahren nordwestlich der Insel Texel untergegangen ist, stießen er und sein Team auf eine Europäische Auster. Drei bis vier Jahre alt und quicklebendig. Ein weiteres Exemplar fanden die Forscher bei einem Tauchgang im September des gleichen Jahres direkt auf dem Schnellboot-Begleitschiff Gustav Nachtigal, das die britische Luftwaffe 1944 vor der Insel Schiermonnikoog versenkt hat.
Woher die Larven dieser Muscheln gekommen sind, weiß bisher niemand. Doch sie haben ihre neue Heimat aus eigener Kraft erreicht – und dort wohl günstige Verhältnisse vorgefunden. Das macht die Wracks nach Ansicht der Forscher zu viel versprechenden Stellen für die Wiederansiedlung dieser Art. Auf alten Schiffen anzuheuern ist offenbar durchaus auch für bedrohte Meeresbewohner attraktiv.
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