Schimpansen mit Lepra: Die Aussätzigen von Taï
Das Gesicht ist voller Knoten und Auswüchse, dem Tier fehlen Haare, dicke Wucherungen überziehen seine verkrümmten Hände und Füße. Als Fabian Leendertz 2017 zum ersten Mal solche Bilder von entstellten Schimpansen zugeschickt bekam, starrte er erschrocken auf seinen Bildschirm. Der Wissenschaftler leitet die Projektgruppe »Epidemiologie hochpathogener Erreger« am Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin und kennt sich mit Wildtierkrankheiten bestens aus. Seit vielen Jahren erforscht er in Afrika, wie Erreger vom Tier auf den Menschen überspringen und umgekehrt. Er war Zeuge, wie Schimpansen an Milzbrand starben und wie sie an Erkältungskrankheiten dahinsiechten. »Aber selten hatte ich eine Krankheit mit so dramatischen Symptomen gesehen«, sagt der Forscher. »Und ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte.«
Sofort war ihm allerdings klar, dass er der Sache nachgehen musste. Schließlich ist bekannt, dass sich Schimpansen sehr leicht mit allen möglichen menschlichen Krankheiten anstecken können. Würde das unbekannte Leiden die ohnehin schon bedrohte Art weiter gefährden? Und konnte man etwas dagegen tun?
Eine Antwort würden Proben aus dem Cantanhez-Nationalpark liefern. Von dort stammen auch die Fotos, die Leendertz erreichten. Im westafrikanischen Guinea-Bissau studieren Kimberley Hockings von der Universität im britischen Exeter und ihr Team die Schimpansen mit Kamerafallen. Aus den Bildern, die diese automatischen Tierspione machen, können Fachleute alle möglichen Informationen über den Alltag und die Verhaltensweisen der Menschenaffen herauslesen. Doch nun hatten die Kameras bei mehreren Tieren die gruseligen Symptome dokumentiert.
Anders als es in anderen Regionen Afrikas üblich ist, sind diese Schimpansen nicht an die Anwesenheit der Forscher gewöhnt. Die scheuen Patienten direkt zu untersuchen, kam daher nicht in Frage. Also sammelten die Projektmitarbeiterinnen vor Ort Kot unter den Schlafbäumen der Menschenaffen auf und schickten Proben davon an das Labor von Fabian Leendertz und seinen Kollegen. Mit Hilfe von DNA-Tests kamen sie dem Erreger tatsächlich auf die Spur, wie die RKI-Wissenschaftler in einer aktuellen, aber noch nicht in einem Journal veröffentlichten Studie berichten. Was den Schimpansen in Westafrika zu schaffen macht, ist demnach eine der berüchtigtsten Geißeln für die Menschen des Mittelalters: Lepra.
Eine vernachlässigte Krankheit
Auch in Europa war diese Krankheit einst ein ernstes und weit verbreitetes Problem. Die Betroffenen litten unter ganz ähnlichen Symptomen wie die Schimpansen heute. Erst tauchen auf der Haut Flecken auf, die sich später zu Beulen und Knoten auswachsen. Auf Dauer kommen dann Nervenschäden dazu, das Schmerzempfinden lässt immer mehr nach. Ohne Schmerzen behandeln die Betroffenen jedoch häufig ihre Wunden nicht mehr. Dadurch kann es zu massiven Entzündungen kommen, und schließlich können sogar ganze Körperteile absterben. Aber es waren nicht nur die körperlichen Folgen, unter denen die Betroffenen zu leiden hatten. Wer »aussätzig« war, wurde von der Gesellschaft ausgestoßen. Er musste in speziellen Leprahäusern oder -kolonien leben und mit einer Klapper auf sich aufmerksam machen, wenn er in die Nähe anderer Menschen kam.
Doch je mehr sich Hygiene und die allgemeinen Lebensumstände im Lauf der Jahrhunderte verbesserten, umso stärker wurde die Krankheit zurückgedrängt. Der Einsatz von Antibiotika tat ein Übriges, und so spielt Lepra in Europa und vielen anderen Regionen der Erde mittlerweile praktisch keine Rolle mehr.
Bei Menschen ist Lepra heilbar, aber oft kommt die Behandlung zu spät
Anders sieht es dagegen in etlichen tropischen und subtropischen Ländern des globalen Südens aus. Dort betreut allein die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe in ihren medizinischen und sozialen Projekten mehr als 200 000 Patienten mit leprabedingten Behinderungen. Nach Erfahrung der DAHW-Experten ist die Krankheit heute sehr häufig mit Armut und schlechten Lebensbedingungen gekoppelt. Und sie ist bei Weitem noch nicht ausgerottet. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO haben sich 2018 mehr als 200 000 Menschen weltweit neu angesteckt. Dabei führten Indien mit 120 334 und Brasilien mit 28 660 Fällen die Statistik an.
Im Vergleich zum Jahr 2009 ist die Zahl der Neuinfektionen weltweit damit um immerhin 15 Prozent zurückgegangen. Doch das ist nach Ansicht des DAHW noch kein befriedigendes Ergebnis. Zumal auch im Jahr 2018 die Diagnose bei rund 11 000 Menschen erst so spät erfolgte, dass die Betroffenen schon Behinderungen davontrugen.
Dabei müsste das nicht sein. Denn Lepra ist heilbar. Seit 1982 gibt es eine Kombinationstherapie, die mit Unterstützung des DAHW am Forschungszentrum Borstel in Schleswig-Holstein entwickelt wurde. Seit 1983 wird sie von der WHO empfohlen. Die Patienten müssen während der Behandlung für sechs bis zwölf Monate die Antibiotika Rifampicin, Dapson und Clofazimin einnehmen, die mit vereinten Kräften den Erreger abtöten.
Dass es die Krankheit trotzdem noch gibt, liegt nach Einschätzung der DAHW-Experten unter anderem daran, dass Betroffene heutzutage immer noch stigmatisiert werden. Viele verheimlichen daher ihre Infektion, bis sie schon zu irreversiblen Schäden geführt hat. Oft haben Menschen auch einfach keinen Zugang zu medizinischer Behandlung. Dazu kommt, dass andere Infektionen heutzutage deutlich mehr im Fokus des öffentlichen und auch des wissenschaftlichen Interesses stehen. Die WHO zählt Lepra daher zu den »vernachlässigten Tropenkrankheiten«.
Dabei gibt es rund um die Infektion noch sehr viele ungeklärte Fragen. In Fachkreisen gilt Lepra nicht nur als eine der ältesten Krankheiten der Menschheit, sondern auch als eine der geheimnisvollsten. Zwar hat der norwegische Arzt Gerhard Armauer Hansen schon im Jahr 1873 das Bakterium Mycobacterium leprae als Verursacher identifiziert. Doch erst 2008 entdeckte ein Forscherteam in den USA noch einen weiteren, bis dahin unbekannten Lepraerreger namens Mycobacterium lepromatosis. Gegen beide Bakterien gibt es bisher keine Impfung. Und ihre Erforschung hat gleich aus mehreren Gründen ihre Tücken.
So sind die Erreger im Labor extrem schwer zu züchten. Zudem treten die Symptome bei den Patienten im Schnitt erst nach fünf, manchmal aber auch erst nach mehr als 20 Jahren auf, so dass sich die Infektionswege nur sehr schwer nachvollziehen lassen. Auch kann niemand sagen, warum die Krankheit mitunter manche Familienmitglieder befällt und andere nicht. Es ist nicht einmal genau bekannt, wie die Ansteckung überhaupt vor sich geht. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Tröpfcheninfektion, wobei sich die Lepraerreger allerdings deutlich schlechter übertragen als etwa Erkältungsviren. Man muss offenbar über längere Zeit engen Kontakt zu einem Infizierten haben, um sich anzustecken.
Der Sprung ins Tierreich
»Dass die Erreger auch Tiere befallen können, hatte man lange Zeit überhaupt nicht auf dem Schirm«, sagt Fabian Leendertz. In den letzten Jahren sind dann aber doch einzelne Fälle bekannt geworden, bei denen eine solche Übertragung in freier Wildbahn und nicht in den Labors stattgefunden hatte.
So berichtete ein Forscherteam um Richard Truman von der Louisiana State University in Baton Rouge 2011 von den Ergebnissen genetischer Studien im Süden der USA. Demnach tragen Menschen und Neunbinden-Gürteltiere dort ein und dieselbe besondere genetische Variante von Mycobacterium leprae in sich, die aus keinem anderen Teil der Welt bekannt ist. Folglich muss es zu einer Übertragung zwischen Mensch und Gürteltier gekommen sein. Noch häufiger scheint das Bakterium in Brasilien überzuspringen, wo sowohl mehr Menschen als auch mehr Gürteltiere mit Leprabakterien infiziert sind. »Dort werden Gürteltiere auch gegessen, so dass der Erreger auch den Weg zurück zum Menschen findet«, erklärt Leendertz.
In Großbritannien dagegen hat die Reise der Bakterien bisher wohl nur vom Menschen in Richtung Tier stattgefunden. Dafür sind dort sogar beide bekannten Arten des Erregers in freier Natur aufgetaucht. Nachdem im Vereinigten Königreich zunehmend Eichhörnchen mit lepraähnlichen Hautveränderungen an Kopf und Gliedmaßen gesichtet worden waren, sind Charlotte Avanzi vom Global Health Institute der École Polytechnique Fédérale de Lausanne und ihre Kollegen der Sache nachgegangen. Sowohl in kranken als auch in äußerlich gesunden Tieren aus England, Irland und Schottland haben sie bei ihren Untersuchungen Vertreter von Mycobacterium lepromatosis gefunden, die denen von menschlichen Patienten in Mexiko ähnelten. Erreger aus Eichhörnchen von der kleinen Insel Brownsea Island im Süden Großbritanniens gehörten dagegen zur Art Mycobacterium leprae und waren mit den Erregern verwandt, die im Mittelalter in England kursierten.
Auch Primaten wie Schimpansen oder Javaneraffen haben sich nachweislich schon früher mit Lepraerregern infiziert. Dabei handelte es sich allerdings um Zootiere, die sich vermutlich bei ihren Pflegern angesteckt hatten. »Dass Lepra auch wild lebende Affen befallen kann, war auch für uns eine Überraschung«, sagt Fabian Leendertz. Doch bereits ein Jahr nachdem er die schockierenden Bilder aus Guinea-Bissau gesehen hatte, wurde er mit weiteren Fällen konfrontiert – diesmal im Taï-Nationalpark an der Elfenbeinküste, wo er selbst arbeitet.
Schon seit 1979 stehen die Schimpansen dort täglich unter wissenschaftlicher Beobachtung, sie sind an Menschen gewöhnt und gehen ihnen nicht aus dem Weg. Aber erst 2018 haben die Forscher bei einem Männchen namens Woodstock die ersten verräterischen Hautveränderungen entdeckt. »Daraufhin haben wir uns alte Fotos von ihm angesehen und festgestellt, dass er schon mindestens seit 2017 leichte Symptome wie Knötchen an den Ohren hatte«, sagt Leendertz. Nur war das niemandem aufgefallen.
Denn ähnlich wie beim Menschen fängt die Krankheit auch bei Schimpansen erst unspektakulär an und verschlimmert sich dann, bis die Symptome nicht mehr zu übersehen sind. Tatsächlich haben die Wissenschaftler mit Hilfe alter Bilder und Gewebeproben noch eine weitere Betroffene im Taï-Nationalpark identifiziert. Dabei handelte es sich um ein älteres Weibchen namens Zora, das 2009 einem Leoparden zum Opfer gefallen war.
Abgesehen von den vier erkrankten Tieren in Guinea-Bissau sind das bis heute allerdings die einzigen bekannten Fälle. Unter den 467 Schimpansen, die im Taï-Nationalpark in den letzten 20 Jahren intensiv beobachtet wurden, war kein weiterer mit den auffälligen Symptomen. »Lepra scheint also bei diesen Menschenaffen eine seltene und nicht besonders ansteckende Krankheit zu sein«, sagt Leendertz.
Um die Zukunft der Bestände fürchten er und seine Kolleginnen und Kollegen daher im Moment nicht. Auch wenn die Krankheit neben Wilderei und diversen weiteren Bedrohungen natürlich eine weitere Belastung für die Schimpansen ist. Denn in fortgeschrittenem Stadium dürfte sie die Tiere so stark behindern, dass sie Raubtieren leichter zum Opfer fallen.
Woodstock geht es bisher allerdings noch einigermaßen gut. Selbst wenn sich sein Zustand verschlechtern sollte, werden die Forscher aber wohl nichts für ihn tun können. »Wildtieren eine mehrmonatige Antibiotika-Therapie zu verabreichen, ist einfach nicht möglich«, sagt der RKI-Experte. Also werden er und sein Team sich wohl darauf beschränken müssen, die Krankheit weiter zu beobachten und zu hoffen, dass sie nicht aus dem Ruder läuft.
Das Rätsel der Herkunft
Vor allem aber wollen sie zusammen mit afrikanischen Partnern herausfinden, wie sich die Tiere überhaupt infiziert haben. Das könnte helfen, das rätselhafte Leiden nicht nur bei Schimpansen, sondern auch bei Menschen besser zu verstehen. »Es kann gut sein, dass sich Zora und Woodstock gegenseitig angesteckt haben«, sagt Leendertz. »Schließlich stammten sie aus eng befreundeten Familien.« Aber was ist mit den Artgenossen, die hunderte Kilometer entfernt in Guinea-Bissau leben?
Die Erreger im Kot dieser Tiere stammen aus einer anderen genetischen Linie als die an der Elfenbeinküste. Und beide Varianten kommen bei menschlichen Patienten in Westafrika nur sehr selten vor. Zudem leben beide Schimpansenpopulationen weit entfernt von Siedlungen und Feldern und haben keinen engen Kontakt zu Menschen. Auch die Forscher, die sie beobachten, halten ständig mehrere Meter Abstand. »Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass sich die Tiere bei Menschen angesteckt haben«, sagt Leendertz. Wo aber sonst?
Schon lange hegen einige Fachleute den Verdacht, dass es ein noch unbekanntes Reservoir für die Erreger geben könnte. Denn auch beim Menschen hatte es immer wieder rätselhafte Leprafälle gegeben, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Kursiert der Erreger also vielleicht unbemerkt noch in anderen Tieren? Schimpansen begnügen sich keineswegs mit vegetarischer Kost, sie sind selbst Jäger. Ist ihnen vielleicht ein infiziertes Beutetier zum Verhängnis geworden? Fabian Leendertz will im Moment nichts ausschließen.
Es könnte sogar sein, dass der Erreger irgendwo in der Umwelt lauert. Bekannt ist, dass Leprabakterien im Boden überleben und sich eventuell auch in Amöben, Raubwanzen und Zecken vermehren. »Für die Menschen der Region könnte das eine wichtige Information sein«, sagt der RKI-Forscher. »Wenn wir erst die Quelle der Infektion kennen, können wir vielleicht auch eine Strategie entwickeln, wie sich das Ansteckungsrisiko verringern lässt.«
Also werden die Forscherinnen und Forscher sowohl die gesunden als auch die kranken Schimpansen weiter genau überwachen. Zudem werden sie die in den letzten 20 Jahren gesammelten Kot- und Urinproben noch genauer anschauen. Was war bei Woodstock anders als bei anderen Artgenossen? Was hat er zu der Zeit gefressen, als er sich vermutlich angesteckt hat? Über solche Indizien hoffen sie den Kreis der möglichen Lepra-Reservoirs eingrenzen zu können.
Zudem entwickelt das Team einen Test, mit dem man herausfindet, ob ein Schimpanse bereits Antikörper gegen das Leprabakterium entwickelt hat. Dazu muss man das Tier nicht fangen, eine Urinprobe genügt. Die zu bekommen, ist für Fachleute kein Problem: Sie müssen nur mit einer Mikropipette die Pfützen aufsammeln, die auf dem Laub unter den Schlafbäumen der Tiere glitzern. Wenn einer der Menschenaffen gerade im Begriff ist, oben aus dem Geäst seine Blase zu entleeren, kann man auch einfach eine an einem langen Ast befestigte Plastiktüte unter seinen Sitzplatz halten. Schon hat man eine Probe, die man auf Antikörper untersuchen kann. Auf diese Weise wollen die Forscher mehr über die Verbreitung des Erregers herauszufinden.
»Bis wir das Reservoir tatsächlich entdeckt haben, kann es allerdings eine Weile dauern«, sagt Leendertz aus langjähriger Erfahrung. Sofern sie keinen Glückstreffer landen, könne sich das über Jahre hinziehen. Der Forscher denkt da zum Beispiel an einen neuen Milzbranderreger, den er und seine Kollegen bereits 2004 in Schimpansen gefunden haben. »Wo der herkam, wissen wir immer noch nicht.«
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