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Interview: »Unausgeschlafene Menschen sind weniger bereit zu helfen«

Wer unter Schlafstörungen leidet, verhält sich weniger sozial: Empathie und Hilfsbereitschaft sinken, die Einsamkeit steigt. Wie die Neurowissenschaftlerin Eti Ben Simon im Interview erklärt, können andere Menschen das spüren.
Eine Frau liegt mit offenen Augen im Bett, im Vordergrund ein Wecker
Wenn die Nächte wenig erholsam sind, leiden darunter auch die Kontakte zu anderen Menschen.

Schlafen Sie in der Regel genug? Wenn ja, können Sie sich glücklich schätzen. Denn für viele Menschen gilt das nicht: In den USA etwa bekommt rund jeder Dritte weniger als die mindestens sieben Stunden Schlaf, die von Fachleuten empfohlen werden. Das kann unangenehme Folgen haben. Nach einer zu kurzen Nacht fühlt man sich angeschlagen und mürrisch; alles fällt ein bisschen schwerer als sonst.

Schlaflosigkeit beeinträchtigt aber auch die Aktivität in Hirnregionen, die am Sozialverhalten beteiligt sind. Das ergaben Untersuchungen der Neurowissenschaftlerin Eti Ben Simon von der University of California in Berkeley. Menschen, die weniger schlafen, sind demnach zum Beispiel weniger bereit, anderen zu helfen. Ben Simon spricht im Interview über die Auswirkungen von schlechtem Schlaf auf das menschliche Miteinander.

Frau Ben Simon, in früheren Untersuchungen haben Sie und Ihre Kollegen entdeckt, dass Schlafmangel zu Angstzuständen und Problemen im Umgang mit Emotionen beiträgt. Ihre neueste Forschung zeigt, dass sich schlechter Schlaf auf soziale Interaktionen auswirkt, unabhängig von der Stimmung. Wie haben Sie das herausgefunden?

Wir konnten beobachten, dass sich Menschen von anderen zurückziehen, wenn sie unter Schlafentzug leiden. Wir haben zum Beispiel eine Aufgabe entwickelt, bei der sich ein Versuchsleiter und ein Teilnehmer gegenüberstehen und aufeinander zugehen. Der Teilnehmer sollte angeben, wann es ihm zu nah wurde. Wer unter Schlafmangel litt, brauchte mehr Abstand, um sich wohl zu fühlen. Die schlechtere Stimmung nach Schlafentzug mag dabei eine Rolle spielen, das scheint jedoch nicht der einzige Faktor zu sein. Wir haben in Studien zum Sozialverhalten die Stimmung kontrolliert und festgestellt, dass sozialer Rückzug nicht nur ein Effekt der Stimmung ist. Schlafentzug mindert auch die Aktivität des so genannten Theory-of-Mind-Netzwerks im Gehirn. Dabei handelt es sich um Hirnregionen, die uns dabei helfen, uns in andere Menschen hineinzuversetzen – also zu erahnen, was sie möchten, inwiefern sie uns ähnlich sind oder sich von uns unterscheiden.

Hängen diese Veränderungen im Gehirn auch mit unserem Denken zusammen?

Das haben wir kürzlich in einer Studie untersucht: Wir baten die Versuchspersonen – entweder nach einer durchschlafenen oder nach einer schlaflosen Nacht  –, an verschiedene Menschen zu denken. Dabei zeichneten wir ihre Hirnaktivität mit funktioneller Magnetresonanztomografie auf. Dann beantworteten sie in einem Fragebogen, wie wahrscheinlich sie diesen Leuten helfen würden. Wir fragten nach alltäglichen Handlungen, beispielsweise die Fahrstuhltür offen zu halten, jemandem mit den Einkaufstüten zu helfen und dergleichen. Wir fanden heraus, dass Menschen mit Schlafmangel deutlich seltener bereit waren, anderen zu helfen, und dass dies mit einer Beeinträchtigung ihres Theory-of-Mind-Netzwerks einherging. Je größer die Beeinträchtigung war, desto weniger wollten sie anderen beistehen. Und dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um einen Freund, ein Familienmitglied oder einen Fremden handelte.

Eine ganze Nacht ohne Schlaf ist ziemlich extrem. Was ist, wenn die Menschen wenigstens etwas Schlaf bekommen?

Das haben wir in einer weiteren Studie untersucht. Dieses Mal verfolgten wir den natürlichen Schlaf von Versuchspersonen über vier Nächte und Tage. Wir fanden zwar keinen Zusammenhang mit der Schlafdauer in Stunden, aber die Qualität des Schlafs war entscheidend, also wie oft sie in der Nacht aufgewacht waren und ob der Schlaf erholsam gewesen war: Das entschied darüber, ob sie anderen helfen wollten oder nicht.

Dabei handelte es sich allerdings vor allem um Selbstauskünfte. Wirkt sich schlechter Schlaf tatsächlich auf das Verhalten aus?

Ja. In einer dritten Studie untersuchten wir eine Datenbank mit Spenden für wohltätige Zwecke und verglichen die Woche nach der Umstellung auf die Sommerzeit – wenn die Menschen durchschnittlich eine Stunde Schlaf verlieren – mit anderen Wochen des Jahres. In den Daten aus 15 Jahren haben wir immer wieder gesehen, dass die Menschen in dieser Woche etwa zehn Prozent weniger spenden. In den Bundesstaaten Arizona und Hawaii, in denen es keine Umstellung auf Sommerzeit gibt, ist dieser Effekt nicht zu beobachten. Zudem untersuchten wir die Umstellung auf die Standardzeit, also wenn die Uhr zurückgedreht wird, und konnten auch hier keinen Effekt feststellen. Andere Forscher befassen sich mit ähnlichen Fragen. Erst vor wenigen Monaten hat ein Kollege eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass Ärzte während einer Nachtschicht weniger Schmerzmittel verschreiben als am Tag und dies damit zusammenhängt, dass sie nachts weniger Empathie für die Patienten empfinden.

»Mit unausgeschlafenen Menschen wollen andere weniger gern zu tun haben«

Sie haben außerdem festgestellt, dass sich die Schlaflosigkeit einer Person auf die Menschen um sie herum auswirkt. Wie kommt das zu Stande?

Generell sind wir sehr gut darin, zu spüren, wie es anderen geht und ob etwas mit ihnen nicht stimmt. In einer Studie genügte es schon, unausgeschlafene Menschen in einem einminütigen Videoclip zu sehen: Die zuschauenden Versuchspersonen wollten mit ihnen weniger gern zu tun haben. Schlafentzug kann zum Beispiel dazu führen, dass sich Menschen einsam fühlen. Wir haben nun herausgefunden, dass sich die Einsamkeit auf diejenigen, die mit ihnen Kontakt haben, überträgt. Das beantwortet vielleicht die Frage aus einem alten Beatles-Song: »All die einsamen Menschen, wo kommen sie her?« Offenbar fängt es mit Schlafmangel an. Aber im Ernst: Ich mache mir Sorgen um diese negative Rückkopplung. Wenn man unter chronischem Schlafmangel leidet, kann das Gefühl, keinen Anschluss zu finden, immer stärker werden. Man zieht sich mehr und mehr zurück, ist weniger an Kontakten interessiert. Und auch andere haben dann weniger Interesse daran, mit einem zu interagieren.

Könnte das wiederum zum Zusammenhang zwischen Schlafqualität und Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen beitragen?

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und Schlafmangel. Wir wissen, dass Menschen, die unter Schlafstörungen leiden, später eher an Angstzuständen und Depressionen erkranken. Bei Angstzuständen zum Beispiel ist der Schlaf das Erste, was beeinträchtigt wird. Und paradoxerweise braucht man gerade mehr Schlaf, um wieder ruhiger zu werden.

Wir sind soziale Wesen. Warum sollte unser schläfriges Gehirn ausgerechnet das Netzwerk drosseln, das uns hilft, mit anderen in Kontakt zu treten?

Das Gehirn und der Körper benötigen den Schlaf so sehr, dass wir, sobald der Schlaf fehlt, alles vernachlässigen, was wir nicht unmittelbar brauchen. Tiere in der Natur beispielsweise wurden bisher nur dann unter Schlafentzug gesehen, wenn sie auf Wanderschaft sind, gerade ein Junges bekommen haben oder Nahrung suchen. Schlafmangel ist ein Stresssignal, das uns dazu veranlasst, so viel Nahrung wie möglich anzuhäufen und auf Bedrohungen zu achten. Zu mehr sind wir nicht in der Lage. Je mehr Zeit man wach verbringt, desto mehr wird der Schlaf zur einzigen Sache, auf die man sich konzentrieren muss. Alles andere tritt dann in den Hintergrund.

Heißt das im Umkehrschluss, dass ein besserer Schlaf neben Ernährung und Bewegung entscheidend zur psychischen Gesundheit beiträgt?

Ganz genau. Den Schlaf zu verbessern, kann bei sozialen und emotionalen Problemen helfen. Schlaf ist die Grundlage, noch vor Ernährung und Bewegung. Die Art und Weise, wie wir Nahrung verstoffwechseln und wie unsere Muskeln reagieren, hängt auch vom Schlaf ab. Es ist nicht immer leicht, guten Schlaf wiederherzustellen. Doch wenn wir ihm Priorität geben, können wir damit Symptome wie Stimmung und Ängste beeinflussen – und sogar das Bedürfnis, freundlich zu anderen Menschen zu sein.

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