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Bildung: Schlechtes Zeugnis für die Ehrenrunde

Immer mehr Bundesländer wollen das Wiederholen von Schuljahren abschaffen. Psychologen und Bildungsforscher zweifeln schon seit Langem an der gegenwärtigen Praxis: Sitzenbleiben nutzt weder den betroffenen Schülern noch dem restlichen Klassenverband.
Setzen, Sechs!

Auch in diesem Jahr werden einige Schüler mit einem mulmigen Gefühl in die Sommerferien starten: Hat es in Mathe oder Englisch doch nicht mehr zu einer Vier gereicht? Muss ich ab dem Herbst das letzte Schuljahr wiederholen? Solche Fragen könnten sich jedoch bald erübrigen, denn nicht mehr alle Bundesländer pochen bei schlechten Leistungen auf eine "Ehrenrunde": In Hamburg und Berlin ist sie bereits weit gehend Vergangenheit, nun wollen auch Niedersachsen und Rheinland-Pfalz nachziehen und das Sitzenbleiben abschaffen.

Aus Gehirn und Geist 6/2013
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In Gesellschaft und Politik ist eine hitzige Debatte über den Sinn und Unsinn von Schuljahreswiederholungen entbrannt. Hilft ein zusätzliches Jahr wirklich, die Leistungsrückstände aufzuholen? Oder sollte man schwache Schüler doch besser weiterversetzen? Psychologen und Bildungsforscher äußern schon lange Zweifel an der pädagogischen Wirksamkeit dieser alten Strategie. So konnten verschiedene Studien national wie international in den vergangenen Jahren zeigen, dass schlechtere Schüler ihre Leistungen in einzelnen Fächern nicht automatisch durch das Wiederholen eines Schuljahrs verbessern. Bereits 2006 untersuchte ein Team um den Psychologen Matthew Burns von der University of Minnesota die Lesefortschritte US-amerikanischer Schüler von der ersten bis zur achten Klasse. Schüler, die zwischendurch eine Ehrenrunde absolvierten, entwickelten dennoch keine besseren Lesefähigkeiten, weder im Vergleich zum Vorjahr noch zu anderen Jugendlichen, die trotz ähnlich schlechter Leistungen versetzt worden waren.

Zu einem enttäuschenden Ergebnis kamen 2010 auch Timo Ehmke vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel und seine Kollegen. Sie wollten herausfinden, ob sich das Wiederholen von Schuljahren zumindest positiv auf die Kenntnisse in Mathematik und den Naturwissenschaften auswirkt. Dazu analysierten sie die Leistungen von über 7000 deutschen Schülern aus den Klassenstufen neun und zehn. Die Forscher konnten zwar zeigen, dass Sitzenbleiber ein besseres Selbstkonzept im Bezug auf das Rechnen entwickelten; die Wissenslücke im Vergleich zu den versetzten Schülern ließ sich durch das zusätzliche Jahr aber nicht schließen.

Sitzenbleiber sind unmotivierter

Die meisten Schüler wiederholen auf der Realschule

Etwa zwei Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland mussten nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Schuljahr 2010/2011 eine Klasse wiederholen. Das entspricht rund 163 400 Kindern und Jugendlichen. Der Anteil schwankt je nach Bundesland: Während Bayern mit über drei Prozent Spitzenreiter ist, sind in Brandenburg nur gut ein Prozent aller Schüler betroffen. Jungs müssen häufiger ein Schuljahr wiederholen als Mädchen. Die meisten Wiederholer besuchen die Realschule, gefolgt von Hauptschulen; Gymnasien und integrierten Gesamtschulen liegen gleichauf hinten. Insgesamt ist der Trend zum Sitzenbleiben in den letzten zehn Jahren rückläufig – was auch auf geänderte schulische Regelungen hinsichtlich Benotung und Versetzung zurückzuführen ist.

Auch wenn man sich die allgemeinen akademischen Auswirkungen anschaut, sieht es düster aus für das Sitzenbleiben. So legen etwa verschiedenen Studien des Psychologen Andrew Martin von der University in Sydney nahe, dass die Ehrenrunde nicht nur wenig Nutzen bringt – sie macht die betroffenen Schüler auch insgesamt unmotivierter und lustloser. Aus diesem Grund kommen Sitzenbleiber offenbar seltener mit erledigten Hausaufgaben zur Schule und schwänzen öfter den Unterricht. Dies konnte Martin allerdings nicht nur bei Schülern feststellen, die ein Jahr wiederholen mussten, sondern auch bei solchen, die später eingeschult wurden oder aus anderen Gründen älter waren als ihre Klassenkameraden.

Einige Studien deuten schließlich sogar darauf hin, dass Sitzenbleiben der beste Indikator dafür ist, dass Jugendliche das Schulsystem ein mal ganz ohne Abschluss verlassen. Dieser Effekt tritt vor allem dann auf, wenn Jugendliche spät in ihrer Schulkarriere ein Jahr wiederholen müssen – also etwa in den Klassenstufen neun oder zehn. Hinzu kommen zahlreiche Metaanalysen, die zumeist ein kritisches Licht auf das Sitzenbleiben werfen. Und werden doch positive Effekte für die Lernkarriere attestiert, so sind diese häufig nur von vorübergehender Natur.

Ausgeschlossen | Studien deuten darauf hin, dass Sitzenbleiber ihre Mitschüler häufiger schikanieren. Sie werden aber auch selbst öfter zu Mobbing-Opfern.

Auf lange Sicht haben die Betreffenden oft die gleichen Leistungsprobleme wie zuvor. Zudem lassen sich auch keine Hinweise darauf finden, dass die anderen Schüler im Klassenverband langfristig vom Aussortieren der Schwächsten profitieren.

Aggressives Verhalten

Weniger eindeutig belegt ist, welche Folgen die Nichtversetzung in sozialer und emotionaler Hinsicht für Kinder und Jugendliche hat. So stellte Martin zwar fest, dass das Selbstwertgefühl vieler seiner jungen Probanden unter dem Sitzenbleiben litt; dem Umgang und Kontakt zu Freunden und Klassenkameraden schadete das allerdings nicht. Andere Studien kamen dagegen zu dem Schluss, dass sich Sitzenbleiber auch häufiger aggressiv verhalten als leistungsschwache Jugendliche, die trotzdem versetzt werden. Forscher um Laura Crothers von der Duquesne University in Pennsylvania befragten Lehrer an öffentlichen und privaten Schulen beispielsweise nach auffälligen Verhaltensweisen bei ihren Schülern. Das Resultat: Jugendliche, die älter waren als ihre Klassenkameraden, sei es durch Sitzenbleiben oder durch eine spätere Einschulung, neigten deutlich häufiger dazu, andere zu schikanieren, zu beleidigen oder auszugrenzen. Gleichzeitig mussten Sitzenbleiber auch öfter selbst Schikanen von anderen Mitschülern erdulden.

Die Ehrenrunde ist zudem eine recht teure Maßnahme. Insgesamt kostet sie das deutsche Bildungssystem jährlich rund 931 Millionen Euro, wie der Bildungsforscher Klaus Klemm 2009 in einer von der Bertelsmann Stiftung beauftragten Studie vorrechnete. Er schlussfolgerte, dass man die Klassenwiederholungen lieber abschaffen solle, da es unsinnig sei, so viel Geld in eine Maßnahme zu investieren, deren Nutzen sich nicht belegen lässt. Wenn das Sitzenbleiben unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten so schlecht wegkommt, stellt sich die Frage, warum nicht schon viel eher über eine Abschaffung nachgedacht wurde. Klemm und Ehmke erklären dies damit, wie unser dreigliedriges Schulsystem grundsätzlich gestaltet ist: Lerngruppen sollen möglichst homogen sein und somit gleich schnell lernen. Um das zu erreichen, werden 13-jährige nicht gemeinsam mit 15-jährigen Schülern unterrichtet, und die Lernstärkeren besuchen das Gymnasium, während die Lernschwächeren auf der Hauptschule landen. Dieser Ansatz wird offenbar auch von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft getragen.

Verschiedenen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Forsa zufolge ist nach wie vor das Gros der deutschen Bevölkerung für das Sitzenbleiben, und selbst Schüler finden es nicht gerecht, wenn Leistungsschwache einfach so in die nächste Klasse versetzt werden. Nicht zuletzt stellt sich natürlich die Frage nach wirkungsvollen Alternativen. Denn auch wenn schlechteren Schülern keine Nachteile durch das Erklimmen der nächsten Jahrgangsstufe entstehen, haben sie immer noch Defizite, die an anderer Stelle ausgeglichen werden müssen. Eine mögliche Lösung schlägt Bildungsforscher Klemm vor: die ohne das Sitzenbleiben gesparten 931 Millionen Euro in wirkungsvollere, individuelle Fördermaßnahmen investieren.

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