Schlittschuheffekt: Eis schmilzt schon bei minus 150 Grad
Dass Eis rutscht und glitscht, ist so alltäglich, dass man oft vergisst, wie ungewöhnlich diese Eigenschaft ist: Feste Stoffe erzeugen normalerweise einen Widerstand, wenn man sie aneinanderreibt. Warum sich gefrorenes Wasser so anders verhält, darüber rätseln Fachleute seit Jahrzehnten. Es bildet, so viel weiß man inzwischen, selbst bei überraschend tiefen Temperaturen eine dünne Oberflächenschicht, die quasi einer Vorstufe des Schmelzens ähnelt. Diese senkt die Reibung drastisch. Doch wie die Schicht genau aussieht, ist unbekannt. Ein Team um Ying Jiang von der Peking University hat nun mit Hilfe eines Rasterkraftmikroskops atomgenau aufgeschlüsselt, was dort vor sich geht. Wie die Arbeitsgruppe in der Fachzeitschrift »Nature« berichtet, besteht die äußerste Doppelschicht von Wassermolekülen aus nanometergroßen Bereichen mit unterschiedlicher Kristallstruktur. Oberhalb von rund minus 150 Grad Celsius bilden sich an den Grenzen zwischen diesen kristallinen Zonen ungeordnete Bereiche, die bei steigenden Temperaturen immer größer werden. Diese einer Flüssigkeit ähnelnden Zonen sind die gesuchte Vorstufe des Schmelzens.
Ursprünglich ging man meist davon aus, dass hinter dem Schlittschuheffekt – dem reibungslosen Gleiten selbst auf kaltem Eis – tatsächlich eine dünne Schicht geschmolzenen Wassers steckt. Hintergrund ist eine weitere Anomalie des Wassers: Wenn es gefriert, dehnt es sich aus. Deswegen schmilzt es, wenn man es zusammendrückt, zum Beispiel eben unter einem Schlittschuh. Jedoch zeigen Rechnungen, dass das den Effekt nicht erklären kann. Die nötigen Drücke sind so groß, dass der Mechanismus nur sehr nah am Gefrierpunkt funktioniert. Der Effekt tritt jedoch auch bei kaltem Eis auf. Spätere Forschungen zeigten dann, dass schon weit unter dem Gefrierpunkt eine quasiflüssige Oberflächenschicht entsteht. Deren Ursprung allerdings blieb unklar.
Tatsächlich ist es keineswegs überraschend, dass die Oberfläche nicht bloß der Kristallstruktur des Eises im Festkörper entspricht. Ungenutzte Bindungsstellen und geladene Gruppen wechselwirken dort so miteinander, dass sich die molekulare Ordnung verändert. Doch was dort passiert, ist schwer zu messen. Denn Rastertunnelmikroskope, die Oberflächen atomgenau auflösen können, brauchen leitende Oberflächen, reines Eis isoliert aber. Normale Rasterkraftmikroskope dagegen wechselwirken so stark mit dem Wasser, dass sie die gesuchten Strukturen stören. Deswegen verwendete das Team um Jiang eine spezielle Technik, bei der ein Kohlenmonoxidmolekül an der Spitze des Instruments nur schwach mit dem Wasser wechselwirkt.
Mit diesem Verfahren zeigte das Team um Jiang, dass Eis bei einer Temperatur von minus 153 Grad Celsius an seiner Oberfläche dreieckige, nanometergroße Bereiche bildet. Sie bestehen aus zwei verschiedenen Kristallstrukturen: der hexagonalen Struktur, die auch in massivem Eis herrscht, und der kubischen. Diese Domänen sind wiederum periodisch angeordnet. Bei solch tiefen Temperaturen ist die Eisoberfläche also auch kristallin. Die Struktur entsteht, weil in ihr weniger freie Bindungen herumhängen als bei einer idealen Oberfläche. Tatsächlich erweist sich diese Ordnung jedoch als instabil, wie die Arbeitsgruppe berichtet: Schon bei einer geringen Erwärmung bilden sich an den Grenzen zwischen den verschiedenen Kristalltypen Gruppen aus Molekülen, die aus der Reihe tanzen. Sie bilden lokale Verbünde, die nicht mehr der Kristallstruktur des Eises gehorchen, sondern sich aus ihren normalen Positionen herausbewegt haben. Diese Gruppen sind die Keimzellen der Flüssigkeit, die mit steigender Temperatur die dreieckigen, kristallinen Bereiche immer stärker verdrängt – und schließlich schon weit unter dem Gefrierpunkt die ganze Oberfläche mit einer »Schmierschicht« überzieht.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.