News: Schluckimpfung ist süß
1955 entwickelte Jonas Salk einen Impfstoff, der aus abgetöteten, inaktivierten Polioviren bestand (inactivated polio vaccine, IPV). Der Impfstoff ist jedoch relativ teuer und muss in den Körper injiziert werden. Weltweit durchgesetzt hat sich stattdessen die Schluckimpfung mit lebenden, aber abgeschwächten Viren (oral polio vaccine, OPV), die 1961 Albert Sabin vorschlug. Die Impfung ist einfach und schnell durchführbar – auch unter schwierigen hygienischen Bedingungen – und eignet sich daher gut für Massenimpfkampagnen in Entwicklungsländern. Inzwischen tritt Kinderlähmung dank Schluckimpfung nur noch selten auf. Damit hat die WHO ihr 1988 gesetztes Ziel, die Welt bis zum Jahr 2000 für poliofrei zu erklären, fast erreicht.
Doch jetzt gießen Wissenschaftler vom National Institute of Infectious Diseases in Tokio Wasser in den Wein. Der Virologe Hiromu Yoshida suchte zusammen mit seinen Kollegen in Flüssen und Abwässern Zentraljapans nach dem Virus (The Lancet vom 28. Oktober 2000). Leider wurden sie fündig. Insgesamt 29-mal konnten sie Virusstämme nachweisen, die vermutlich vom Lebendimpfstoff abstammen. Mehr als die Hälfte der Stämme wies Mutationen auf. Die Wissenschaftler befürchten, dass diese Stämme gefährlich sind und bei nicht geimpften Personen Kinderlähmung auslösen könnten.
Über die Schlussfolgerungen wird jetzt heftig diskutiert. Bruce Aylward von der WHO in Genf sieht damit die Wirksamkeit der Impfkampagnen bestätigt: Obwohl das Virus offensichtlich in der Umwelt häufig vorkommt, bricht die Krankheit nicht aus. Der Virologe Vincent Racaniello von der Columbia University warnt vor einem frühzeitigen Verzicht auf die Polioimpfung: "Das Problem beginnt, wenn wir die Immunisierung stoppen, und die Viren sind im Abwasser. Wir wissen wirklich nicht, wie lange sie überleben werden."
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 6.7.1999
"Beunruhigende Zahlen"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 6/98, Seite 32
"Das Post-Polio-Syndrom"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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