Mathematische Unterhaltungen: Mathematik mit Wasser und Wein
Vor mir stehen zwei Gläser, eines mit Wasser, eines mit Wein. Ich schöpfe eine Kelle Wasser aus dem Wasserglas in das Weinglas, rühre gut um und schöpfe dann eine ebenso volle Kelle aus dem Wein- ins Wasserglas. Ist jetzt mehr Wasser im Wein oder mehr Wein im Wasser?
Der Erste, der mir diese klassische Frage stellte, war ein befreundeter Mathematiker. Ich gestehe, in dieser Situation suchte ich Tiefsinn in der Aufgabe. In der Beschreibung steckt eine Asymmetrie: Man hätte ja auch erst aus dem Wein- ins Wasserglas schöpfen können und dann zurück, was offensichtlich etwas anderes ist. Andererseits: Es kommt ja beim zweiten Schöpfungsakt ein Teil des Wassers wieder in sein ursprüngliches Glas zurück, was den Unterschied zwischen den beiden Gemischen wieder verringert …
Die Lösung des Problems ist geradezu beschämend einfach (und mein Freund hat sich köstlich über meine gedanklichen Verrenkungen amüsiert). In jedem der beiden Gläser ist nach dem doppelten Schöpfungsakt genau so viel Flüssigkeit wie zuvor. Wie viel Wasser ins Weinglas gewandert ist, müssen wir gar nicht wissen. Es muss ebenso viel Wein ins Wasserglas gewandert sein, sonst könnten die Gesamtmengen nicht stimmen. (Wohlgemerkt: Wir reden vom Volumen der Flüssigkeit, nicht von der Masse. Ja, Wein ist wegen des Alkoholgehalts geringfügig leichter als Wasser. Aber solche Unterschiede spielen hier keine Rolle.)
Wer das nicht glaubt, kann es nachrechnen. Mehr als etwas Schulalgebra ist dafür nicht erforderlich.
Angenommen, im Wasserglas befinde sich anfangs die Menge \(V_1\) an Wasser, im Weinglas die Menge \(V_2\) an Wein, die Kelle fasse die Menge \(k\) an Flüssigkeit, sagen wir in Millilitern (ml). Nachdem die erste Kelle aus dem Wasserglas ins Weinglas geschöpft wurde, befindet im Weinglas die Menge \(V_2 + k\) an Flüssigkeit, und zwar \(k\) ml Wasser und \(V_2\) ml Wein. Anders ausgedrückt: Das Wasser hat an der Mischung den Anteil \(\frac{k}{V_2+k}\) und der Wein den Anteil \(\frac{V_2}{V_2+k}.\)
Diese Mischung ist auch in der Kelle, die jetzt aus dem Weinglas geschöpft wird. Das macht \(k \cdot \frac{k}{V_2 + k}\) ml Wasser und \(k \cdot \frac{V_2}{V_2 + k}\) ml Wein. Im Weinglas verbleiben \(V_2 \cdot \frac{V_2}{V_2 + k}\) ml Wein und \(V_2 \cdot \frac{k }{V_2 + k}\) ml Wasser. Wird die Kelle nun ins Wasserglas entleert, so befinden darin die \(k \cdot \frac{V_2}{V_2 + k}\) ml Wein aus der Kelle. Also enthält am Ende das Wasserglas \(k \cdot \frac{V_2}{V_2 + k}\) ml Wein und das Weinglas dieselbe Menge Wasser, was zu beweisen war.
Die algebraische Lösung beantwortet nicht nur die Eingangsfrage, sondern auch etliche mehr, die gar nicht gestellt wurden. So lässt sich die Menge an Wasser beziehungsweise Wein, die vom einen Glas ins andere gewandert sind, jetzt berechnen, sowie man die Daten über die Volumina \(V_2\) und \(k\) hat.
Das ursprüngliche Wasservolumen \(V_1\) geht überhaupt nicht in die Formel ein. Es ist vollkommen gleichgültig, wie viel Wasser ursprünglich im Glas war – es muss nur ausreichen, um die Kelle zu füllen. Zu allem Überfluss kommt es für die behauptete Gleichheit auch nicht auf die Werte von \(k\) und \(V_2\) an. Insbesondere dürfen sie beide null sein. Hat die Kelle das Volumen null, dann transportiert sie auf dem Hin- wie auf dem Rückweg gar nichts, und die Wassermenge im Weinglas ist dieselbe wie die Weinmenge im Wasserglas, nämlich null. Dasselbe gilt, wenn das Weinglas ursprünglich leer war. Dann schöpft die Kelle nur eine Portion Wasser hin und wieder zurück.
Es ist also auch nicht erforderlich – und wurde in der Aufgabenstellung nicht verlangt –, dass anfangs beide Gläser die gleiche Menge Flüssigkeit enthalten. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind auch am Ende die Mischungsverhältnisse nicht entgegengesetzt gleich. Wenn anfangs beide Gläser 800 ml Flüssigkeit enthalten und die Kelle 200 ml fasst, dann ist zwar hinterher im Weinglas 80-prozentiger Wein und im Wasserglas 80-prozentiges Wasser; doch diese Art von Gleichheit geht verloren, sobald die Anfangsfüllungen verschieden sind. Dagegen bleibt die Gleichheit der Volumina erhalten.
Viele volle Gläser
Der Mathematiker Immo Diener hat die Aufgabenstellung auf eine beliebige Anzahl von Gläsern mit zugehörigen Flüssigkeiten erweitert und einige überraschende Ergebnisse gewonnen. Zumindest wirken sie auf den ersten Blick kontraintuitiv.
Bei mehreren Gläsern erscheint es irgendwie unpassend, von Wasser und mehreren Sorten Wein zu reden. Man denkt dann zu leicht an Weinpanscherei. Stellen wir uns also vor, \(N\) Gläser stehen in einer Reihe von links nach rechts, und jedes enthält eine Sorte Fruchtsaft. In Glas 1 ist 1-Saft, in Glas 2 ist 2-Saft, und so weiter. Man schöpft eine Kelle voll Saft aus Glas 1, schüttet sie in Glas 2, rührt gut um, schöpft wieder, füllt damit Glas 3 et cetera. Die Kelle wandert der Reihe nach von Glas 1 bis Glas \(N\) und wieder zurück. Glas 1 hat auf dem Hinweg eine Kellenfüllung verloren und auf dem Rückweg wiederbekommen; bei allen anderen Gläsern ist das Flüssigkeitsvolumen nach dem Durchgang der Kelle – Hinweg wie Rückweg – dasselbe wie zuvor. Also ist in jedem Glas am Ende dieselbe Flüssigkeitsmenge wie am Anfang.
Das allein ist noch wenig erstaunlich. Es gilt jedoch für jedes Paar von Gläsern in der Reihe, was für die kurze Reihe aus zwei Gläsern gilt: Am Ende ist dieselbe Menge \(b\)-Saft in Glas \(a\) wie \(a\)-Saft in Glas \(b\), einerlei welche Nummern man für \(a\) und \(b\) einsetzt.
Das will einem zunächst nicht in den Kopf. Um das besser nachzuvollziehen, kann man die Sache zunächst für drei Gläser durchdenken. Im ersten Schritt nimmt die Kelle eine Portion reinen 1-Saft aus Glas 1 und schüttet sie in Glas 2. Dort entsteht dadurch ein gemischter 1-2-Saft. Das genaue Mischungsverhältnis hängt vom Volumen \(V_2\) ab. Im nächsten Schritt transportiert die Kelle eine Portion 1-2-Saft nach Glas 3, wodurch ein gemischter 1-2-3-Saft entsteht, kommt mit einer Portion dieser Mischung nach Glas 2 zurück und erzeugt dort damit einen weiteren 1-2-3-Saft, allerdings im Allgemeinen mit einem anderen Mischungsverhältnis.
Was aber wichtig ist: Das Verhältnis zwischen 1- und 2-Saft ist in der Kelle aus Glas 3 immer noch dasselbe wie in Glas 2! Deswegen findet sich in Glas 2 auch nach dem Einschütten 1-2-Saft in demselben Mischungsverhältnis wie zuvor, allerdings verdünnt durch eine gewisse Menge 3-Saft. Auf ihrem letzten Weg transportiert die Kelle also eine gewisse Menge 3-Saft zusammen mit der 1-2-Mischung, die sie – in größerer Menge, aber mit demselben Mischungsverhältnis – auch ohne den Abstecher nach Glas 3 enthalten hätte.
Jetzt kann man die ganze Folge noch einmal durchdenken, zerlegt jedoch in Gedanken die Kelle in zwei. Kelle A fasst die Menge an 3-Saft, die am Ende in Glas 1 landet, Kelle B den Rest. Die Folge der Schöpfungen läuft genauso ab wie zuvor – beide Kellen schöpfen stets gleichzeitig –, nur tut man so, als ob beim letzten Schritt in Kelle A nur reiner 3-Saft wäre und in B der Rest, das heißt 1-2-Saft, wie er sich auf dem Hinweg in Glas 2 eingestellt hat. Für das Endergebnis macht das keinen Unterschied, es mischt sich ja alles; aber es hilft, die Aktionen beider Kellen getrennt zu betrachten.
Kelle A hat im Endeffekt auf dem Hinweg eine A-Portion 1-Saft aus Glas 1 entnommen und auf dem Rückweg eine Portion 3-Saft in Glas 1 deponiert – so wurde die Größe von Kelle A definiert. Also ist in Glas 3 so viel 1-Saft wie 3-Saft in Glas 1. Kelle B hat dagegen 1-Saft nach Glas 2 und 1-2-Saft nach Glas 1 zurückgeschafft, hat also dasselbe getan wie die Kelle im 2-Gläser-Beispiel, allerdings nur mit einer B-Portion – sie fasst ja weniger als die ursprüngliche Kelle. Also ist in Glas 2 so viel 1-Saft wie 2-Saft in Glas 1.
Zwei wesentliche Gedanken sind bei diesen Überlegungen hilfreich. Es hilft, die Mischungen gedanklich in verschiedene Anteile zu zerlegen und das Schicksal dieser Anteile getrennt von den anderen zu verfolgen, zum Beispiel indem man die Kelle nachträglich in Teilkellen zerlegt. Oder man tut so, als würden sich die Flüssigkeiten nicht vermischen, sondern säuberlich übereinanderschichten wie Öl und Wasser. Dennoch greift die Kelle von jeder Komponente der geschichteten Flüssigkeit denselben Anteil ab, wie er auch im Glas vorliegt, so als würde man ein Rohr geeigneten Durchmessers in die Flüssigkeit eintauchen, unten verschließen und wieder herausheben.
Und: Ein einmal etabliertes Mischungsverhältnis zwischen zwei Säften bleibt erhalten, auch wenn die Mischung auf dem Weg der Kelle vom betroffenen Glas bis zum Ende und zurück von anderen Säften verdünnt wird. Deswegen findet sich beim Rückweg der Kelle stets dasselbe Verhältnis zwischen dem Ursaft von Glas \(n\) und seinen linken Nachbarsäften, wie es schon auf dem Hinweg in Glas \(n\) entstand. Das gilt insbesondere, bevor der Inhalt der Kelle auf dem Rückweg in Glas \(n\) geschüttet wird, und deshalb auch danach. Unter Anwendung dieser beiden Prinzipien lässt sich die Behauptung in voller Allgemeinheit beweisen.
Von Antisäften zu Gleichungssystemen
Ist es möglich, den Prozess umzukehren? Kann man durch eine geeignete Folge von Schöpfungsakten wieder reinen Saft in irgendeinem Glas erzeugen? Offensichtlich nicht; es ist ja nicht möglich, eine Mischung zu entmischen.
Da müsste es schon Antisaft geben. Das wäre ein Stoff, der sich, mit der gleichen Menge Saft derselben Sorte zusammengebracht, mit diesem gemeinsam in nichts auflösen würde. Zu allem Überfluss hätte Antisaft negative Masse: Schüttet man eine Menge a-Antisaft in ein Glas, das gar keinen a-Saft enthält, dann würde gleichwohl das Gesamtvolumen absinken.
Diese abwegig anmutende Prozedur ist nichts weiter als ein Standardverfahren zur Lösung linearer Gleichungssysteme
Und dann müsste es noch eine Zauberkelle geben, die – Hokuspokus – ihren Inhalt in sein Gegenteil verwandelt, also aus jeder Menge Saft einer Sorte dieselbe Menge Antisaft derselben Sorte macht und umgekehrt. Eine Zauberkelle würde dann aus einem Gefäß schöpfen, zaubern, den Inhalt in ein anderes Gefäß gießen und damit aus dem Zielgefäß zumindest eine Sorte Saft komplett entfernen, vorausgesetzt, die Größe der Kelle ist richtig bemessen. Wenn man diesen Prozess für jedes Paar von Gefäßen durchführt, kann man nach und nach alle Beimischungen aus sämtlichen Gläsern entfernen und erhält den Urzustand einer Reihe reiner Säfte zurück.
Diese abwegig anmutende Prozedur ist nichts weiter als ein Standardverfahren zur Lösung linearer Gleichungssysteme. Jedes Glas entspricht einer Gleichung des Systems und jede Saftsorte einer Unbekannten. Tatsächlich eliminiert man aus jeder Gleichung eine Unbekannte nach der anderen, indem man ein genau bemessenes Quantum Saftmischung aus einem anderen Gefäß entnimmt, möglicherweise verzaubert und in das fragliche Gefäß schüttet: Man addiert zu einer Gleichung ein geeignetes Vielfaches einer anderen.
Gut, dass man bei der Lösung irgendwelcher linearen Gleichungssysteme nicht mit echten Säften und Antisäften panschen muss.
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