Schreibabys: Eltern am Limit
Das Schreien dringt Susanne Stoll* bis ins Herz. Bis eben war alles schön. Die Sonne schien. Die Wiesen um sie herum blühten. Die einjährigen Zwillingskinder schliefen friedlich im Kinderwagen.
Doch jetzt ist ihre Tochter wach – und hört nicht auf zu weinen. Wie fast jeden Tag. Mit einem Mal ist alles wieder da: Angst, Wut, Verzweiflung, Schuld. Das Schreien hämmert gegen Susannes Schädel und betäubt ihre Gedanken. Sie kann nicht mehr. Sie hat in den vergangenen Wochen alles probiert. Sie hat das Baby getragen, geschaukelt, gewippt. Nichts half. Sie war beim Arzt, um herauszufinden, ob ihrer Tochter etwas fehlt. Doch die ist gesund. Und brüllt. Kurzerhand nimmt sie den Säugling aus dem Wagen, setzt ihn auf den Boden – und läuft weiter. Sie fühlt sich großartig.
Dann schaut Susanne Stoll zurück, sieht ihre Tochter auf dem Feld, sieht, wie ihr Kind ihr hinterherschaut. Ein Würmchen mitten im Nirgendwo. Trotz des Sonnenscheins schaudert es sie. »Ich war nur zehn Meter von ihr weg. Ich wusste, dass nichts passieren konnte. Aber diesen Moment werde ich nicht vergessen«, erzählt sie heute.
Wenn das Weinen nicht aufhört
Als Schreibabys gelten Säuglinge, wenn sie mehr als drei Stunden täglich an mindestens drei Tagen die Woche über einen Zeitraum von drei Wochen weinen. So besagt es die erstmals 1954 formulierte »Dreierregel« des US-amerikanischen Säuglingsforschers Morris Wessel. Wie viele Kinder in diese Kategorie fallen, ist schwer zu sagen. Die Zahlen für westliche Industrieländer schwanken je nach Methode und Definition des Weinens stark. Nach einer Studie eines Teams um Rüdiger von Kries, Leiter des Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist rund jedes sechste Baby ein Schreibaby.
Wie Susanne Stoll geraten viele Eltern solcher oft weinenden Kinder an ihre Grenzen. Kommen existenzielle Sorgen hinzu, etwa Geldprobleme, Arbeitslosigkeit oder Konflikte innerhalb der Partnerschaft, steigt die Belastung zusätzlich. »In den vergangenen Jahren hat die Verunsicherung der Eltern zugenommen«, erzählt Margret Ziegler. Die Ärztin leitet am kbo-Kinderzentrum in München die »Sprechstunde für Schreibabys«. Sie sagt: »Diese grundlegenden Ängste erschweren die Situation für die Eltern enorm. Selbst ohne solche Probleme kann man es allein mit einem Schreikind nicht schaffen.«
»Nur bei fünf bis zehn Prozent der Schreibabys finden Ärzte und Ärztinnen eine organische Ursache«Margret Ziegler, Ärztin
Meist beginnt das exzessive Schreien bei den Babys in den ersten Wochen nach der Geburt, erreicht seinen Höhepunkt nach sechs bis acht Wochen und nimmt nach ungefähr drei Monaten wieder ab. Es gibt aber auch Kinder, bei denen das exzessive Schreien über ein Jahr lang anhält. Früher glaubten Fachleute, der Grund für das Brüllen seien Bauchschmerzen auf Grund von Verdauungsstörungen und Blähungen, daher der Name Dreimonatskoliken. Doch: »Nur bei fünf bis zehn Prozent der Schreibabys finden Ärzte und Ärztinnen eine organische Ursache«, erklärt Ziegler. Es könne beispielsweise sein, dass das Kind keine Kuhmilch verträgt. Dann helfe es, wenn die Mutter während der Stillzeit auf Milch und Milchprodukte verzichtet.
Inzwischen geht man davon aus, dass die Hauptursache für die Schreiattacken eine andere ist: Die Säuglinge reagieren in den ersten Monaten besonders empfindlich auf Reize und können sich dann nicht oder nur schwer selbst beruhigen. Fachleute verwenden dafür den Begriff Regulationsstörung. Darunter fallen neben dem exzessiven Schreien auch Schwierigkeiten beim Schlafen oder Stillen und Füttern. In vielen Fällen treten die Probleme gemeinsam auf. »Schlafen war bei meiner Tochter ganz schwierig«, erzählt Susanne Stoll. »Ich habe viel gesungen, um sie zu beruhigen.« Häufig sei Singen und Herumlaufen mit dem Baby in der Trage das Einzige gewesen, was geholfen habe. »Oft genug hat aber auch das nichts gebracht.«
Braucht ein Kind im Alter von sechs Monaten länger als 30 Minuten und die Anwesenheit von Vater oder Mutter zum Einschlafen, kann eine Einschlafstörung vorliegen. Wacht es noch im Alter von acht Monaten häufig oder für eine längere Zeit nachts auf, sprechen Fachkräfte nach Ausschluss anderer Ursachen von einer Durchschlafstörung. Das betrifft je nach Studie zwischen 10 und 33 Prozent der Kinder. Margret Ziegler vergleicht das mit einem Dauerjetlag. Die Übermüdung der Babys drückt sich im Schreien aus. Auch Störungen des Essverhaltens kommen immer wieder vor. Fachleute gehen davon aus, dass zwischen einem Viertel und einem Sechstel der Kinder sich weigern zu essen. Für die Eltern wird das Füttern zum Kampf. Woran liegt es, dass manche Kinder hier so große Schwierigkeiten haben?
Studien von Ayten Bilgin und Dieter Wolke an der britischen University of Warwick liefern Hinweise darauf, dass eine Frühgeburt die Wahrscheinlichkeit für Regulationsstörungen erhöht. Die Zwillinge von Susanne Stoll mussten in der 31. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt geholt werden, da dem Mädchen Sauerstoffmangel drohte. Der Arzt sagte damals: »Ihr Baby hat Stress.« Dieser Satz hat sich in Susannes Gedächtnis eingebrannt. Lange warf sie sich vor, es habe an ihr selbst, ihrer »schlechten Plazenta« gelegen. »Unser Sohn hat hingegen kaum geschrien. In diesem Punkt war er ganz anders als seine Zwillingsschwester.«
»Viele Eltern geben sich die Schuld, auch wenn sie keine trifft«, sagt Ziegler. »Es gibt einfach Kinder, die empfindsamer sind als andere. Warum das so ist, weiß man nicht.« Die meisten Eltern fühlen sich hilflos oder geradezu ohnmächtig, wenn sie ihr Kind nicht beruhigen können. Sie geraten in einen Teufelskreis, der die Beziehung belastet und aus dem sie ohne fremde Hilfe nur schwer ausbrechen können. Manche werden depressiv. Einer Studie um die Wissenschaftlerin Jenny Radesky von der University of Michigan zufolge wiesen Mütter, deren Kinder viel weinten, zwei Monate nach der Geburt doppelt so häufig depressive Symptome auf wie Mütter, deren Kinder weniger schrien. Das konnten andere Forschungsarbeiten bestätigen. Diese untersuchten auch die umgekehrte Beziehung – also ob Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft eine Depression hatten, häufiger weinten. Einen Zusammenhang konnten sie allerdings nicht feststellen.
Es geht um mehr als ums Baby
Die Säuglingsforscherin Mechthild Papoušek eröffnete vor mehr als 30 Jahren am kbo-Kinderzentrum in München die erste deutsche Sprechstunde für Schreibabys. Sie betrachtet nicht das Baby als Patienten, sondern vielmehr die Beziehung zwischen Eltern und Kind, die unter dem kindlichen Regulationsproblem und der elterlichen Überforderung leidet, was gemeinsam behandelt werden muss.
Susanne Stoll hat sich Unterstützung geholt. Zuvor war sie lange überzeugt, sie müsse es allein hinkriegen. »Andere Mütter schaffen es doch auch«, dachte sie damals. Sie fühlte sich schlecht. Viele Eltern schotten sich aus diesem Grund ab. Sie haben Angst vor blöden Kommentaren oder den missbilligenden Blicken von Passanten und Passantinnen. Ihr Mann Jürgen Stoll schämte sich. »Beim ersten Spaziergang mit dem Kinderwagen bin ich nach zehn Minuten wieder umgedreht, weil mir das Geschrei peinlich war«, sagt er. »Ich habe die Kinder dann lieber mit dem Auto spazieren gefahren.« So hatten sich die beiden das Elternsein nicht vorgestellt.
»Mit einem Kind, das viel schreit oder viel quengelt und kaum schläft, kommen alle Eltern an ihre Grenzen«Ingrid Löbner, Therapeutin
Die andauernde Schlaflosigkeit war für sie letztlich der Grund, einen Termin bei der Therapeutin Ingrid Löbner von pro familia zu vereinbaren – einem Verbund aus Beratungsstellen zu Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung. »Viele Eltern machen sich ständig Vorwürfe, dabei machen sie meist schon alles intuitiv richtig. Über die Zeit verlieren sie aber das Vertrauen in ihre Fähigkeiten«, sagt Löbner, die unter anderem bei Mechthild Papoušek gelernt hat: »Mit einem Kind, das viel schreit oder viel quengelt und kaum schläft, kommen alle Eltern an ihre Grenzen.«
In ihrer Sprechstunde orientiert sich die Therapeutin am Münchner Modell. Das Konzept wurde von Papoušek entwickelt. In einem ersten Schritt klärt Ingrid Löbner über Regulationsstörungen auf, aber auch über das Schlafbedürfnis und die individuellen Entwicklungsschritte von Säuglingen. Sie versucht den Eltern zu erklären, dass diese keine Schuld trifft, und erklärt ihnen, dass sie sämtliche Gefühle versteht. »Allein aussprechen zu dürfen, dass man sein Baby zwar liebt, aber auch gleichzeitig genug von ihm hat, es zwischendurch nicht mehr erträgt, es nicht mehr mag – das hilft wahnsinnig«, weiß Löbner.
Dann überlegt sie zusammen mit den Eltern, was entlasten würde. »Das können Freunde und Familie sein, die das Kind mal abnehmen, oder auch eine Haushaltshilfe«, sagt Löbner. Es geht darum, dass die Eltern Kraft tanken können, indem sie hin und wieder abschalten, Kaffee mit Freunden trinken oder in der Badewanne entspannen. In manchen Fällen ist das allerdings nicht so einfach umzusetzen – vor allem, wenn die anderen Familienmitglieder, besonders die Großeltern, weit weg wohnen. »Wären wir nicht zu zweit gewesen, ich wäre verzweifelt«, sagt Susanne Stoll. Wenn sie nicht mehr konnte, übernahm ihr Mann. Er arbeitete damals – während der Corona-Pandemie 2020 und 2021 – viel im Homeoffice. Weder Freunde noch Familie konnten sie in dieser Zeit entlasten. Zu groß war vor allem zu Beginn der Pandemie die Angst vor der unbekannten Krankheit, mit der sich die beiden Frühchen hätten anstecken können.
Im nächsten Schritt versucht Ingrid Löbner mit den Eltern herauszufinden, wie sich das Kind beruhigen kann. Oft hilft es, wenn das Baby ganz nah an der Mutter liegt, erzählt sie von ihren Erfahrungen. »Wenn Mutter und Kind sich und ihre Bindung deutlich spüren.« Diese Kommunikations- und Beziehungsarbeit sei der zentrale Bestandteil in den Sprechstunden – auch am kbo-Kinderzentrum. Die Interaktionen zwischen Eltern und Kind werden unter anderem mit Hilfe von Videoaufnahmen analysiert und besprochen.
»Leider hören viele Eltern – auch von Fachkräften –, da müssten sie halt durch«Ingrid Löbner, Therapeutin
Zentral sei in erster Linie aber genügend Schlaf: »Schaffen es die Eltern, dass das Baby vor allem am Tag mehr schläft, bessert sich oft auch das Schreien«, erzählt Margret Ziegler. Doch sie weiß, wie schwer das zu erreichen ist. Deswegen sei dafür in den ersten Lebensmonaten fast jedes Mittel recht. »Wenn das Kind auf dem Schoß besser einschläft, dann soll es dort liegen. Schläft es vormittags besser, dann sollte man Termine auf den Nachmittag legen.« Eltern brauchen diese Auszeiten, damit sie die Freude am Kind wiederfinden.
Hilfe sollten Sie suchen, wenn:
- Ihr Kind nicht mehr an Gewicht zunimmt, nicht trinken mag, viel spuckt und dabei Schmerzäußerungen zeigt oder vermehrt den Rücken überstreckt,
- Sie sich hilflos, erschöpft oder überfordert fühlen,
- Sie merken, dass das Schreien Sie so wütend und verzweifelt macht, dass Sie Sorge haben, sich nicht mehr kontrollieren zu können. Auf keinen Fall dürfen Sie Ihr Kind schütteln oder schlagen!
Hier gibt es Hilfe:
- »Trostreich – Interaktives Netzwerk Schreibabys« bietet betroffenen Eltern Tipps und Kontaktadressen unter www.trostreich.de.
- Die Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit e. V. veröffentlicht auf der Website www.gaimh.de ebenfalls Adressen von Beratungsstellen sowie weitere Informationen.
- Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen präsentiert (werdenden) Eltern ein umfangreiches Online-Angebot und nennt auch Beratungsstellen. Mehr unter www.elternsein.info.
Augen zu und durch?
»Leider hören viele Eltern – auch von Fachkräften –, da müssten sie halt durch«, berichtet Löbner. Das sei keine böse Absicht, doch Durchhalteparolen sind ihr zufolge der falsche Weg und mitunter sehr gefährlich: In einer Studie spielte ein Team um die Forscherin Nichole Fairbrother frischgebackenen Müttern zehn Minuten lang ein Tonband mit einem brüllenden Säugling vor. Anschließend gaben 23,5 Prozent der Teilnehmerinnen an, Gedanken gehabt zu haben, dem Baby etwas anzutun. Auch wenn das natürlich nicht heißt, dass sie wirklich handgreiflich werden würden, ist das höchst bedenklich.
Doch manche Eltern können irgendwann nicht mehr, wenn das Baby nicht schläft und ständig schreit. Kommen existenzielle Ängste dazu, weil sie beispielsweise ihre Arbeit oder ihre Wohnung verlieren und keine Hilfe erhalten, dann kann auch ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen. Schütteln Eltern den Säugling, fällt dessen Kopf nach vorne und hinten, weil die Nackenmuskeln noch zu schwach sind, um ihn zu halten. Dabei können Blutgefäße reißen; womöglich kommt es zu einer lebensgefährlichen Hirnblutung und in der Folge zu lebenslangen Behinderungen wie Lähmungen, Schwerhörigkeit oder Sehstörungen bis hin zur Blindheit.
Das passiert allerdings eher selten: Fachleute gehen in Deutschland von schätzungsweise 100 bis 200 Fällen pro Jahr aus, bei denen Babys ein Schütteltrauma erleiden, auch Shaken-Baby-Syndrom genannt. Das liegt unter anderem an der guten Aufklärung von Ärztinnen, Krankenpflegern und Hebammen sowie den Hilfsangeboten für Eltern mit Schreibabys, die es in fast jeder größeren Stadt gibt. Sie sind eine der wichtigsten und ersten Anlaufstellen bei Kindern mit Regulationsstörungen und helfen besser als das Internet, in dem oft konträre Informationen kursieren. Laut Ingrid Löbner sollten sich erschöpfte Eltern frühzeitig fachliche Unterstützung holen und nicht erst, wenn die Dreierregel erfüllt ist. »Die brauchen wir in erster Linie für Studien.«
Auch Susanne Stoll sagt heute, sie hätte sich schon früher Hilfe suchen sollen. »Die Einschätzung von Profis hätte mir vermutlich viele Gedanken erspart.« Was ihr besonders gutgetan hat: über ihre Probleme zu sprechen, gehört und nicht verurteilt zu werden. Sie konnte wieder entspannter mit ihren Kindern umgehen. Was es allerdings nicht gab: den einen entscheidenden Tipp. Häufig wird Eltern geraten, in Situationen, in denen sie nicht mehr können, durchzuatmen und Abstand zu gewinnen. Das tat Susanne Stoll auch während des denkwürdigen Spaziergangs auf dem Feld. »Selbstverständlich hätte ich meiner Tochter nie etwas angetan. Ich liebe meine beiden Kinder.« Damals aber brauchte sie diesen kurzen Moment. Dann legte sie das Baby zurück in den Kinderwagen. Inzwischen sind ihre Kinder fast vier Jahre alt und ihre Tochter weint deutlich weniger.
* Name geändert
Was können Sie für Ihr Kind tun?
- Klären Sie mögliche organische Ursachen für das viele Schreien bei Ihrem Kinderarzt oder Ihrer Kinderärztin sowie bei Ihrer Hebamme ab.
- Babys sind empfindlich gegenüber zu vielen Eindrücken, Anregung und Unruhe: Schaffen Sie einen ruhigen, geregelten Tagesablauf, etablieren Sie Rituale, die dem Kind Sicherheit geben.
- Manche Kinder beruhigen sich durch bestimmte Maßnahmen wie eine Spazierfahrt im Kinderwagen, ein warmes Bad, eine Bauchmassage, sanftes Schaukeln in einer Wiege.
- Versuchen Sie die Fütterungstechnik zu verändern, lassen Sie das Kind beispielsweise während des Trinkens besonders häufig aufstoßen.
- Probieren Sie einen Beruhigungssauger aus.
- Geben Sie Medikamente nicht ohne Rücksprache mit Ärzten. Es gibt viele verschiedene Mittel, die keinen nachweislichen Erfolg haben, aber Nebenwirkungen hervorrufen können.
- Sorgen Sie für eine komplett rauchfreie Umgebung.
- Holen Sie sich Hilfe, wenn Sie merken, dass Sie am Ende Ihrer Kräfte sind und die Belastung nicht länger aushalten.
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