Schlechtes Gewissen: Wofür sich Erwachsene heute schuldig fühlen
Die häufigste Ursache für Schuldgefühle ist, gelogen oder die Wahrheit verschwiegen zu haben. Das gilt vor allem bis ins mittlere Lebensalter. Ab 45 Jahren drehen sich die Schuldgefühle öfter darum, nicht genug Zeit mit der Familie verbracht zu haben oder nicht genug für sie da gewesen zu sein. Das berichten Forschende von der FH Erfurt und der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera im Fachjournal »BMC Psychology«.
Der Psychologe Tobias Luck und die Psychologin Claudia Luck-Sikorski hatten in einer Online-Umfrage fast 900 Erwachsene gefragt, ob sie derzeit oder jemals unter Schuldgefühlen litten. Rund drei Viertel bejahten. Im Mittel nannten die Befragten zwei bis drei verschiedene Gründe – Frauen etwas mehr als Männer. Die insgesamt rund 1500 genannten Ursachen ließen sich zu knapp 50 Kategorien zusammenfassen.
»Die meisten Gründe scheinen eher konkret zu sein, zum Beispiel bezogen auf eigene Fehler und Situationen mit bestimmten Personen«, berichten die beiden Forschenden. Überwiegend ging es um ein schlechtes Gewissen gegenüber anderen Menschen oder wegen eigener Schwächen, zum Beispiel Faulheit, Unzuverlässigkeit oder wegen eines ungesunden Lebensstils. Selten drehte es sich um Mitverantwortung für soziale oder globale Probleme (2 Prozent), noch seltener um Verstöße gegen religiöse Gebote und Verbote (0,4 Prozent der genannten Gründe).
Frauen hatten häufiger als Männer ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern, gegenüber anderen Familienmitgliedern und überhaupt aus einem Verantwortungsgefühl für andere heraus. Männer fühlten sich eher wegen Fehlern und Problemen in der Partnerschaft schuldig. Die Altersgruppe ab 60 bereute nicht nur die versäumte Zeit mit der Familie, sondern vergleichsweise oft auch eine Trennung oder Scheidung und eigenes Scheitern oder Versagen. Luck und Luck-Sikorski deuten das im Sinne des Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson: Seiner Theorie zufolge ist das Wichtigste für ältere Menschen der Rückblick auf ein erfülltes Leben und das Gefühl, etwas vollbracht zu haben.
Ihre Befunde wollen sie aber mit Vorsicht interpretieren: Eine offene Fragestellung wie in der vorliegenden Umfrage könnte nur Gründe zu Tage fördern, die den Personen selbst bewusst sind, schreiben sie. Außerdem sei ihre Online-Stichprobe nicht repräsentativ für alle Erwachsenen in Deutschland. Ein zentraler Befund stimmte jedoch nahezu überein mit dem einer repräsentativen Telefonumfrage von Luck und Luck-Sikorski aus dem Jahr 2021. Demnach hatten 68,5 Prozent der Erwachsenen schon einmal Schuldgefühle, nicht viel weniger als die 74 Prozent in der aktuellen Online-Studie.
Anm. d. Red.: In der ersten Fassung stand im zweiten Absatz, dass ein Viertel der Versuchspersonen die Frage nach Schuldgefühlen bejaht habe; tatsächlich waren es jedoch rund drei Viertel. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
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