Selbstgespräche: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold
Neulich im Supermarkt: Eine Dame mittleren Alters steht vor dem Wurstregal und greift nach einer Packung Mortadella, da hält sie plötzlich inne und murmelt: "Nein, die hast du doch noch zu Hause." Schon komisch, Erwachsene mit sich selbst reden zu hören! Unwillkürlich denkt man dabei an Singles, die schon zu lange Singles sind. Oder an eine psychische Störung. Könnte zwar sein – ist aber eher selten.
Heute erheben sogar immer mehr Forscher das Selbstgespräch auf das Podest des Nützlichen. "Psychologisch gesehen sind Selbstgespräche meist ganz normal und hilfreich", erklärt Thomas Brinthaupt, Psychologe von der Middle Tennessee State University in Murfreesboro (USA). Frustration, Trauer und Wut bekämen so eine Art Ventil, ebenso wie Freude und Vergnügen. Die Psychologin Dolores Albarracin von der University of Illinois in Urbana-Champaign hält das Selbstgespräch sogar für eines der wichtigsten Werkzeuge, mit denen wir unser Verhalten steuern.
Dass Individuen mit sich selbst kommunizieren, sei ein faszinierendes Phänomen. "Wir schicken uns laufend selbst Botschaften, um uns zu kontrollieren", pflichtet Albarracins Kollegin Alexa Tullett von der University of Toronto (Kanada) bei.
Vieles von dem, was Forscher auf diesem Feld beschäftigt, wissen Kinder offenbar ganz intuitiv. Mit etwa zwei Jahren fangen sie an, das Selbstgespräch von sich aus zu kultivieren. Im Alter von drei bis fünf Jahren reflektiert etwa jedes zweite Kind im Dialog mit dem Ich vor dem Schlafengehen die Erlebnisse des Tages.
"Das Selbstgespräch ist eines der wichtigsten Werkzeuge, mit dem wir unser Verhalten steuern."
Dolores Albarracin, Psychologin an der University of Illinois in Urbana-Champaign (USA)
Problemlösen leicht gemacht
Das zeigt sich vor allem, wenn sie knifflige Aufgaben bewältigen sollen. Winsler und seine Kollegen Louis Manfra und Rafael Diaz stellten in einer 2007 veröffentlichten Studie rund 80 Drei- bis Fünfjährigen diverse Rätsel. Mal wurde den kleinen Probanden dabei ausdrücklich aufgetragen, mit sich selbst zu sprechen; dann wiederum sollten sie das nicht tun. In einer dritten Versuchsbedingung wurde ihnen keine dezidierte Anweisung gegeben, woraufhin sie sich natürlich verhielten.
Resultat: Wer mit sich selbst sprach, löste ein Problem im Schnitt deutlich schneller und besser als diejenigen, denen das Selbstgespräch verwehrt wurde. Dreijährige, die rege vor sich hin plappern, können auf diese Weise etwa das Leistungsniveau eines Vierjährigen mit Redeverbot erreichen.
Winslers Botschaft an Eltern, Erzieher und Lehrer: "Lasst sie reden – es hilft!" Mütter und Väter gingen oft irrtümlich davon aus, ihre Sprösslinge würden mit ihnen statt mit sich selbst reden, und antworteten voreilig. Und zu viele Pädagogen pochten auf absolute Ruhe. "Doch Kleinkinder brauchen das Selbstgespräch, um ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen", so der Psychologe.
Bereits 2006 hatten Manfra und Winsler in einer Studie berichtet, dass sich etwa die Hälfte der Drei- bis Fünfjährigen über das "Wesen" des Selbstgesprächs – nämlich die Kommunikation mit der eigenen Person – im Klaren sei. Genau diese Kinder nutzen das Selbstgespräch auch häufiger und sind in ihrer sprachlichen Entwicklung im Schnitt weiter als Altersgenossen, was nach Ansicht der Forscher den Wert des Selbstgesprächs unterstreicht.
Etwa vom sechsten Lebensjahr an verbannen Mädchen und Jungen die laut vor sich hin gesprochene Gedankenwelt nach und nach ins Unhörbare. In einer Übergangsphase flüstern oder murmeln sie noch eine Zeit lang, wenn sie im Beisein anderer Aufgaben lösen – wahrscheinlich aus anerzogener Rücksichtnahme. Das gilt jedoch nicht für viele Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die nach Winslers Beobachtungen auch im späteren Kindesalter noch laut mit sich selbst reden und damit so manchen Erwachsenen verstören.
Jeder tut es – meist allerdings im stillen Kämmerlein
Dennoch, so vermerken die Psychologen Thomas Brinthaupt, Michael Hein und Tracey Kramer in einer 2009 erschienenen Studie ausdrücklich, legen einschlägige Untersuchungen nahe, dass alle Menschen, egal welchen Alters, regelmäßig mit sich sprechen. Allerdings meist, wenn sie allein sind – aber nicht nur dann. Dessen ungeachtet betrachtete die Wissenschaft das Selbstgespräch von Erwachsenen lange Zeit als Ausdruck psychischer Leiden wie Depressionen oder Angst. Daher stand der emotionale Gehalt jener Sätze, die Menschen an sich selbst richten, lange im Fokus des Forscherinteresses.
"Solche Äußerungen lassen durchaus Rückschlüsse auf die spontane Gedankenwelt der Betroffenen zu", sagt Brinthaupt. Das sei in der Psychotherapie oft nützlich; im Fall einer Schizophrenie hat das Selbstgespräch sogar pathologischen Charakter. Hier merken die Patienten jedoch in der Regel gar nicht, wenn sie mit sich selbst kommunizieren, und antworten mitunter auf Stimmen, die in Form akustischer verbaler Halluzinationen zu ihnen "sprechen".
In den 1980er und 1990er Jahren begannen sich Psychologen zunehmend für das Selbstgespräch gesunder Erwachsener zu interessieren. Erfüllte es möglicherweise eine wichtige Funktion bei der so genannten Selbstregulation? Unter diesem Begriff subsumieren Wissenschaftler all jene bewussten und unbewussten psychischen Vorgänge, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Gefühle und Impulse steuern.
Renommierte Forscher wie der Sozialpsychologe Roy Baumeister von der Florida State University oder der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel von der Columbia University in New York gestanden dem Selbstgespräch zwar schon früh eine wichtige Rolle bei der Umsetzung selbst gesetzter Ziele oder bei der Handlungskontrolle zu. Doch experimentell untersucht haben sie diese Annahme nicht.
Selbstgespräche fördern die Selbstkontrolle
Ganz anders Alexa Tullett und Michael Inzlicht an der University of Toronto: In einer 2010 publizierten Untersuchung sollten ihre Probanden einen Knopf drücken, sobald auf einem Bildschirm ein bestimmtes Symbol erschien. Leuchtete ein anderes Symbol auf, so galt es hingegen, die Reaktion zu unterdrücken. Die Selbstkontrolle wurde den Teilnehmern dadurch erschwert, dass sie viel häufiger drücken als nicht drücken mussten – was zum automatischen Betätigen des Knopfes verführt.
Um während dieser Prozedur Selbstgespräche auszuschalten, sollten manche Studienteilnehmer leierkastenartig ein x-beliebiges Wort wiederholen. Ergebnis: Im Vergleich zu Probanden, die etwa ebenso viel sprachen – nur eben mit sich selbst –, versagte die Selbstkontrolle bei ersteren deutlich öfter. Der Dialog mit dem Ich fördert laut den Forschern also offenbar die Handlungskontrolle.
Für Thomas Brinthaupt kommt es bei der Untersuchung von Selbstgesprächen auch darauf an, zwischen der lauten, also für andere deutlich hörbaren Rede einerseits und dem "inneren Monolog" andererseits zu unterscheiden.
Dimensionen des Ich-Bezugs
Gemäß der so genannten "Self-talk Scale" von Thomas Brinthaupt und Kollegen erfüllen Selbstgespräche meist eine oder mehrere dieser vier Funktionen:
- Selbstkritik üben: "Das hätte ich anders machen sollen!"
- Sich selbst "managen": "Ich darf nicht vergessen, auf dem Heimweg noch bei der Reinigung Halt zu machen."
- Soziale Situationen einschätzen: "Überleg dir genau, was du nachher bei der Verabschiedung des Kollegen sagen willst."
- Sich selbst bestätigen: "Das habe ich gut gemacht!"
Ein Team um Brinthaupt hat die bislang vorliegenden Studien systematisch ausgewertet und auf dieser Grundlage eine "Self-talk Scale" entwickelt, mit deren Hilfe sich vier Fassetten des Phänomens systematisch erfassen lassen (siehe Kasten). In ersten Studien haben die US-Psychologen diesen Fragebogen an einer Stichprobe von mehreren hundert Probanden getestet.
"Wer welche Art von Selbstgesprächen führt, hängt unter anderem von der Persönlichkeit des Einzelnen ab", resümieren Brinthaupt und seine Kollegen in der 2009 publizierten Studie. Wer besonders häufig laut mit sich spricht, erweist sich in entsprechenden Untersuchungen beispielsweise als stark auf sich selbst fokussiert, nutzt mehr sprachliche als visuelle Informationen und neigt eher zu Zwangshandlungen. Wer zudem häufiger von Selbstkritik und Einschätzung sozialer Situationen im Dialog mit sich selbst berichtet, verfügt meist über weniger Selbstvertrauen und geht häufig härter mit sich selbst ins Gericht als andere Zeitgenossen.
Umgekehrt bestätigen ausnehmend selbstbewusste Charaktere sich gern im Selbstgespräch, indem sie betonen, wie gut sie eine Herausforderung gemeistert haben. Nach Brinthaupts Einschätzung nutzen Menschen den Dialog mit sich selbst vor allem dazu, ihre momentane Stimmung zu heben oder negative Erlebnisse zu neutralisieren. Daher komme darin überdurchschnittlich oft gute Laune zum Ausdruck.
Hinzu kommt die Bedeutung des Selbstgesprächs in der Motivationspsychologie. Sportfans erinnern sich womöglich an einen köstlichen Selbstdialog des deutschen Tennisprofis Thomas Haas. "So kannst du nicht gewinnen, Hasi! Das geht nicht! Zu schwach einfach! Zu viele Fehler!", lamentierte der gebürtige Hamburger während einer der Spielpausen bei seiner Viertelfinalpartie der Australian Open 2007. "Ich zahle Leute für absolut nichts, nur damit ich mich aufregen kann. Ich habe keinen Bock mehr auf diese Scheiße." Und Sekunden später setzte er dann hinzu: "Aber du gewinnst dieses Match! Kämpf!" Am Ende gewann Haas die Begegnung tatsächlich.
Heilige Kuh der Motivationstrainer
Sich mit Floskeln wie "Das packst du!" anzuspornen, gilt als eine der heiligen Kühe der Motivationstrainer. Auf diese Weise, so heißt es, erreicht man seine Ziele leichter und rascher. Dem widerspricht allerdings ein Forscherteam um Dolores Albarracin nach einer Studie von 2010.
Gemeinsam mit ihren Kollegen Ibrahim Senay und Kenji Noguchi kam die Psychologin vielmehr zu dem Schluss: Statt allein auf bestätigende Anfeuerung zu setzen, sei es oft erfolgversprechender, sich auch Fragen zu stellen, etwa: "Packe ich das?"
Die Wissenschaftler hatten rund 50 junge Probanden in ihr Labor bestellt. Alle sollten unter Zeitdruck aus zehn Wörtern jeweils andere Wörter bilden, so genannte Anagramme. Zuvor hatten sie sich entweder eine Minute lang fragen sollen, ob sie das schaffen würden – oder sich ebenso lange zureden, dass es kein Problem sei. In einem zweiten Versuch wurde den Probanden vorgegaukelt, man wolle ihre Handschrift analysieren. Dafür mussten sie die folgenden Wörter und Kurzsätze wiederholt aufschreiben: "will I?" (werde ich?), "I will" (ich werde), "I" (ich) und "will" (werde).
Anschließend folgte wiederum die Anagramm-Aufgabe. In beiden Experimenten schnitten jene Probanden deutlich besser bei der Problemlösung ab, die sich die Frage stellten, ob mündlich oder schriftlich. Die Art der Formulierung beeinflusste demnach, welche Gedanken und Handlungsimpulse daraus erwuchsen.
In einem dritten Test wollte das Team wissen, ob die Frage (statt einer Anfeuerung) die Motivation der Studienteilnehmer erhöhte. Wieder wurden sie mit den Worten und Kurzsätzen "vorbereitet" – und dann gefragt, wie viel Sport sie in der kommenden Woche treiben wollten. Mit einem standardisierten Text prüften die Forscher schließlich die Motivationslage. Auch hier zeigte sich: Wer sich die Frage gestellt hatte, war eher gewillt, das Vorhaben zu verwirklichen.
Gedanken und Impulse lenken
"Geht es um spezifische Aufgaben, ist diese Frageform als Motivationstechnik besser geeignet, um das Ziel zu erreichen", erklärt Albarracin. In "fragenden" Selbstgesprächen führten sich die Betreffenden vermutlich eher vor Augen, warum es sich lohnt, sich für die jeweilige Sache einzusetzen. Wer sich seine persönlichen Gründe klarmacht, profitiert davon.
Nach wie vor gilt die Sportpsychologie als Domäne der Erforschung des Selbstgesprächs. In einer 2011 veröffentlichten Metaanalyse 32 einschlägiger Untersuchungen aus den vergangenen 20 Jahren haben Forscher um den Sportpsychologen Antonis Hatzigeorgiadis von der Universität in Thessaloniki (Griechenland) ermittelt, dass Selbstgespräche im Schnitt tatsächlich die Leistungen von Sportlern verbessern. "Sie erhöhen die Chance, die optimale Performance abzurufen", betont der Psychologe.
Er fand auch Hinweise auf den jeweiligen Nutzen der Selbstrede in unterschiedlichen Situationen: Geht es beispielsweise darum, filigrane motorische Fähigkeiten und die jeweilige Technik in einer Sportart zu verbessern, sind klare Anweisungen am sinnvollsten – zum Beispiel "Ellbogen hoch" beim Freistilschwimmen.
Anfeuerungen wie "Gib alles" verpuffen bei solchen Anforderungen häufig. Diese scheinen hingegen eher angebracht zu sein bei Aufgaben, die Krafteinsatz oder Ausdauer erfordern. Dabei stärken sie das Vertrauen in sich und die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Offenbar fördert das Selbstgespräch die Leistung generell mehr bei fein- als bei grobmotorischen Bewegungsabläufen; sie hilft also besser beim Einlochen eines Golfballs als beim Radfahren.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass ein Selbstgespräch zuallererst die Konzentration beeinflusst und damit eher das Einüben neuer Aufgaben als das Optimieren bereits erlernter Techniken. Trotzdem, so Hatzigeorgiadis, könnten Einsteiger wie auch erfahrene Athleten von der Methode profitieren. Am wichtigsten sei es hierfür, auch das Selbstgespräch selbst regelmäßig zu üben.
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