Astrophysik: Sechs Erklärungen für die Dunkle Materie
Woraus besteht das Universum? Früher dachte man, es sei nur »normale« Materie, also der Stoff, aus dem Sterne, Planeten und auch wir Menschen bestehen. Die Messung von Galaxienbewegungen und die Kartierung großräumiger Strukturen im Kosmos hat seitdem jedoch viele Experten davon überzeugt, dass es noch eine andere Materieform geben muss, die für das menschliche Auge und für Teleskope unsichtbar ist. Doch was verbirgt sich hinter dieser ominösen Dunklen Materie? Ist es ein bisher unbekanntes Elementarteilchen? Und wenn ja, welches? Oder stimmt vielleicht etwas nicht mit unserer Auffassung von Schwerkraft? Wir haben die plausibelsten Theorien zusammengetragen.
1. Versteckte gewöhnliche Materie
Als Astronominnen und Astronomen in den 1970er Jahren feststellten, dass im All Materie fehlt, gingen sie zunächst davon aus, dass man noch nicht sämtliche gewöhnliche Materie aufgespürt hat. Es könnte zum Beispiel sehr kalte Gas- oder Staubwolken geben, die keine Infrarotstrahlung aussenden. Sie müssten allerdings riesige Dimensionen aufweisen und würden sich mittelfristig spürbar erwärmen, wenn sie sich im Umfeld einer Galaxie befinden.
Erkaltete Braune Zwerge und ähnliche massereiche Körper sind eine andere Möglichkeit. Forscher nennen sie liebevoll MACHOs (Massive Astrophysical Compact Halo Objects). Sie bestehen ebenfalls aus normaler Materie, also Atomen und bekannten Elementarteilchen. Allerdings sind sie in vielen Fällen zu dunkel, um auf Teleskopaufnahmen aufzutauchen.
Auf Umwegen kann man sie dennoch aufspüren: Braune Zwerge können als Gravitationslinse wirken und Sternenlicht verstärken, wenn sie vor einem Stern vorbeiziehen. Astronomen haben solche Ereignisse bisher aber nur selten beobachtet. Daher sind sich die meisten Forscher einig: MACHOs bringen auch bei sehr optimistischen Abschätzungen nicht annähernd die Masse zusammen, die man für die Dunkle Materie benötigt.
Das gilt vermutlich auch für Schwarze Löcher: Große Mengen von ihnen könnten am Rand von Galaxien durchs All driften und dank ihrer großen Schwereanziehung die Effekte erklären, die Astrophysiker der Dunklen Materie zuschreiben. Auch sind die dunklen Masseklumpen sehr effektive Gravitationslinsen. Allzu viele von ihnen kann es draußen im All jedoch nicht geben, wie Himmelsdurchmusterungen gezeigt haben.
Dennoch halten manche Experten an dieser Möglichkeit fest. Unter anderem, da Gravitationswellendetektoren in den letzten Jahren Schwarze Löcher mit einem Gewicht von etwa 50 Sonnenmassen aufgespürt haben, die man bis dahin nicht auf dem Schirm hatte.
2. WIMPs und Super-WIMPs
Eine hypothetische Familie sehr schwerer Teilchen tritt mit normaler Materie allein über die Schwerkraft und die »schwache« Wechselwirkung in Kontakt. Letztere lässt für gewöhnlich Atomkerne zerfallen. Auf Licht und andere elektromagnetische Strahlung würden die so genannten WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles) hingegen gar nicht reagieren. Das würde gut zur Dunklen Materie passen.
WIMPs wären so etwas wie die schwergewichtige Verwandtschaft der Neutrinos. Anders als die fast masselosen Geisterteilchen müssten sie mehr als ein ganzes Goldatom wiegen. Ähnlich wie Neutrinos könnten WIMPs quer durch die Erde oder sogar die Sonne fliegen, ohne mit Materie zu interagieren. Nur ganz selten würde eines der Teilchen an einem Atomkern hängen bleiben.
Das ist einerseits eine gute Nachricht, denn auch wenn eine solche Reaktion extrem selten und nur sehr schwierig zu messen ist: Man könnte WIMPs im Prinzip nachweisen, wenn sie mit Atomkernen auf der Erde zusammenstoßen. Einige der empfindlichsten Experimente halten gezielt nach WIMP-Atomkern-Kollisionen Ausschau, etwa das Xenon-Experiment tief unter der Erde im italienischen Gran-Sasso-Massiv. Allerdings hat kein Untergrundexperiment bisher eindeutige Signale für ein Dunkle-Materie-Teilchen entdeckt.
Das ist aber noch nicht der Tod der WIMP-Hypothese. Vielleicht müssen die Wissenschaftler einfach noch gründlicher und mit noch größeren Detektoren nach den massereichen Partikeln Ausschau halten. Es könnte auch sein, dass es einst große Mengen WIMPs im Weltall gab, diese aber inzwischen zu so genannten Super-WIMPs zerfallen sind. Die würden nicht mehr über die schwache Wechselwirkung mit normaler Materie interagieren.
In irdischen Laboren könnte man Super-WIMPs daher nicht nachweisen, sondern lediglich ihren über die Gravitation vermittelten Effekt im Kosmos. Theoretiker haben längst Modelle zu ganz verschiedenen Teilchen aus Dunkler Materie entworfen, die nur über die Schwerkraft wirken. Sollte die rätselhafte Substanz tatsächlich aus ihnen bestehen, wäre das für Experimentalphysiker mehr als ärgerlich: Sie könnten vermutlich nie zweifelsfrei nachweisen, woraus die Dunkle Materie besteht.
3. Axionen
Im Gegensatz zu den beleibten WIMPs handelt es sich bei den Axionen um eine extrem magere Spezies, milliardenfach leichter als Elektronen. Axionen oder axionähnliche Teilchen müssten dementsprechend häufig sein. Es könnte sich um einen einzelnen Elementarteilchen-Typ handeln oder auch um eine ganze Sippe bisher unbekannter Teilchen.
Teilchenphysiker interessieren sich schon lange für Axionen, da sie noch andere Unstimmigkeiten im Weltbild der Physik beseitigen könnten. Eines davon ist das »starke CP-Problem«: Ein Parameter, der unter anderem die Ladungsverteilung in den Bausteinen von Atomkernen beeinflusst, nimmt in der Natur rätselhafterweise den Wert null an. Die theoretischen Physiker Roberto Peccei und Helen Quinn entwickelten bereits 1977 einen Mechanismus, der den Parameter in unserem Universum kurz nach dem Urknall auf null gesetzt haben könnte – und dabei Myriaden von Axionen ausgespuckt hätte.
Auch bei der Frage, warum unser Universum vor allem gewöhnliche Materie und nicht Antimaterie enthält, könnten Axionen helfen. Jedenfalls spielen die ultraleichten Teilchen eine Schlüsselrolle in aktuellen theoretischen Modellen, die dieses Ungleichgewicht mit physikalischen Prozessen nach dem Urknall erklären wollen.
Allerdings haben Detektoren, die Axionen aufspüren sollen, bislang keinen Hinweis auf die Existenz der Leichtgewichte erbracht. Weder sind sie in den 1980er Jahren an Teilchenbeschleunigern aufgetaucht, wo sie einfachen Modellen zufolge massenhaft hätten entstehen müssen. Noch scheinen sie mit Neutronen in Wechselwirkung zu treten, wie Präzisionsexperimente seitdem gezeigt haben. Auch entstehen sie offenkundig nicht in der Sonne.
Aber die Axionen-Suche ist bei Weitem noch nicht am Ende: Eine ganze Reihe von Teams will in den nächsten Jahren mit neuen Strategien nach den Teilchen suchen. Unter anderem wollen sie überprüfen, ob ein »Axionenwind« durch unser Sonnensystem weht, der minimal an Atomkernen rütteln müsste. Erste Messkampagnen sind hier jedoch ebenfalls leer ausgegangen.
4. Heiße Dunkle Materie
Generell könnte das Rätsel auch von Teilchen gelöst werden, die extrem sehr schnell unterwegs sind, Physiker sprechen von »heißer« Dunkler Materie. Gemeint sind neutrinoähnliche Teilchen, die keine WIMPs sind, aber auch nicht zur Klasse der Axionen gehören.
Die drei bekannten Neutrino-Arten sind allerdings zu leicht, um auch nur annähernd einen substanziellen Beitrag zur Dunklen Materie leisten zu können. Sie machen insgesamt bloß ein Prozent des kosmischen Materie-Energie-Haushalts aus. Und andere Teilchen, die ebenfalls schnell wie die Neutrinos durch den Weltraum sausen, können nicht in so hoher Konzentration in einer bestimmten Region vorliegen, um die Strukturen im All zu erklären.
So lässt sich die Verteilung der Masse in Galaxien und großen Galaxienhaufen anhand der Sternbewegungen recht gut abschätzen. Die Dunkle Materie scheint sich ähnlich wie Gaswolken in bestimmten Regionen zu konzentrieren. Heiße Dunkle Materie würde hingegen auseinanderstieben. Heiße Teilchen könnten deshalb nur einen kleinen Anteil der gesamten Dunklen Materie ausmachen.
5. Sterile Neutrinos
Ein interessantes Zwischending wären »sterile« Neutrinos. Im Gegensatz zu den normalen Neutrinos wären diese sehr viel schwerer. Die Masse dieser hypothetischen Elementarteilchen variiert stark je nach Modell. Auch ihre möglichen Wechselwirkungen werden unter Theoretikern kontrovers diskutiert.
Das Interessante an den sterilen Neutrinos: Selbst wenn sie mit gewöhnlicher Materie nur über die Schwerkraft in Verbindung treten, könnten sie sich doch dadurch nachweisen lassen, dass die bekannten Neutrinos bei ihren Oszillationen sich hin und wieder in sterile Neutrinos verwandeln und dadurch quasi verschwinden.
So hat das MiniBooNE-Experiment am Fermilab bei Chicago ungewöhnliche Messdaten zu Tage gefördert, die man als Hinweis auf sterile Neutrinos interpretieren kann. Experten mahnen allerdings zur Vorsicht: Man müsse erst abwarten, ob sich die Spur in anderen Laboratorien reproduzieren lässt.
6. Modifizierte Gravitationstheorien
Alle bisherigen Vorschläge haben gemein, dass sie jeweils eine bestimmte Art mehr oder weniger exotischer Teilchen postulieren. Was aber, wenn trotz intensiver Suche niemand ein solches Partikel finden kann?
Womöglich müssen in diesem Fall die Gesetze der Schwerkraft auf den Prüfstand. Vielleicht gelten sie in den Weiten des Alls nicht in der Form, die wir von der Erde kennen. In diesem Fall würden astronomische Messdaten, die man derzeit durch Dunkle Materie zu erklären versucht, plötzlich Sinn ergeben.
Doch wie müsste man die Gravitationsgesetze anpassen, um trotzdem ein stimmiges Bild des Weltalls zu erhalten? Einsteins Relativitätstheorie ist vielfach erprobt, auf das Genaueste vermessen und hat sich auch in hochgradig komplexen kosmologischen Simulationen immer wieder bewährt.
Jede neue, modifizierte Gravitationstheorie muss also die Erfolge der bisherigen Theorie reproduzieren können. Darüber hinaus muss sie genau diejenigen Effekte erklären, die von der Dunklen Materie stammen. Und hier hapert es bei den meisten Kandidaten: Auch wenn sie manches mit der Dunklen Materie verbundene Phänomen erklären können, geraten sie an anderer Stelle in Widerspruch zu etablierten Messergebnissen.
Der Klassiker der Alternativen ist die so genannte MOND-Theorie (Modifizierte newtonsche Dynamik) – aufgestellt bereits 1983 von Mordehai Milgrom. Sie geht davon aus, dass die Gravitationstheorien von Newton und Einstein unvollständig sind. Bei sehr kleinen Änderungen von Beschleunigungen, wie sie in astronomischen Maßstäben auftreten, kommen stattdessen modifizierte Bewegungsgleichungen zum Tragen. Dunkle Materie wäre dann zumindest im galaktischen Maßstab nicht erforderlich. Allerdings fragen sich viele Forscher, was die physikalische Ursache für eine solche Änderung der fundamentalen Bewegungsgesetze sein könnte.
Nach einem interessanten Vorschlag von Erik Verlinde könnte sich die modifizierte Gravitation auch aus einem Zusammenspiel der Quanteneigenschaften von gewöhnlicher Materie und Dunkler Energie ergeben. Letztere erfüllt nach Auffassung der meisten Astrophysiker den gesamten Kosmos und lässt diesen immer schneller expandieren. Verlindes These hat wegen ihrer Neuartigkeit und Originalität einiges an medialem Echo hervorgerufen. In der Fachwelt ist sie aber durchaus umstritten und hat viel Widerspruch hervorgerufen.
Generell haben Experten die Hoffnung in Sachen Dunkler Materie längst noch nicht aufgegeben: All die Experimente, die der rätselhaften Substanz erfolglos nachgespürt haben, sind aus ihrer Sicht keine Rückschläge, sondern kleine Fortschritte: Denn nun weiß man zumindest, welches der denkbaren Szenarien die Natur nicht gewählt hat.
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