Selbstbild: Worin wir uns selbst überschätzen
Mitte des 18. Jahrhunderts sagte der Erfinder und Politiker Benjamin Franklin: »Es gibt drei Dinge, die extrem hart sind: Stahl, Diamant und sich selbst zu kennen.« Daran hat sich bis heute nichts geändert: Der Mensch tut sich mit Selbsterkenntnis eher schwer. Wie genau er es sich schwer macht, offenbarten 2012 der Psychologe Thomas Gilovich und seine Kollegin Elanor Williams mit einer Reihe von Experimenten. Für einen Versuch luden sie rund 80 Studentinnen und Studenten zu einem Fotoshooting ein und lichteten sie in unterschiedlichen Posen ab. Anschließend sollten die Studierenden angeben, welches ihrer zwölf Porträts sie am realistischsten abbildete. Außerdem sollten sie die Fotos nach ihrer Attraktivität sortieren.
Man würde erwarten, dass sie vor allem jene Bilder für typisch hielten, die weder besonders schlecht noch besonders schmeichelhaft ausfielen. Doch mehr als die Hälfte der Studierenden zeigten auf das attraktivste Porträt. Auf den anderen elf Bildern empfanden sie sich offenbar unvorteilhafter abgelichtet, als sie ihrer Meinung nach in Wirklichkeit waren.
Gilovich und Williams tauften das Phänomen auf den Namen »better-than-my-average effect« (zu Deutsch in etwa: Besser-als-mein-Durchschnitt-Effekt). Mag unser Durchschnitts-Ich auch Fettröllchen um die bürobleichen Hüften haben: Vor unserem inneren Auge sehen wir uns mit sonnengebräunter, schlanker Figur. Wir gründen unsere Selbsteinschätzung darauf, wie wir im Idealfall sind, und vergessen darüber die triste Realität. Klar, wir standen in Deutsch zwar meist zwischen Note Drei und Vier, aber wir haben schon mal eine Eins geschrieben. Das beweist ja, dass wir es eigentlich können.
So legt es auch ein weiteres Experiment von Gilovich und Williams nahe: Studierende orientierten ihr Selbstbild nicht an den Leistungen, die sie im Schnitt erbracht hatten, sondern an ihrer besten Bewertung. Sollten sie das Leistungsvermögen ihrer Kommilitonen einschätzen, zogen sie allerdings deren durchschnittlich erzielte Noten heran. Frei nach dem Motto: Ich selbst bin zwar besser als mein Schnitt, die anderen aber nicht.
Der Dunning-Kruger-Effekt
Unglücklicherweise betrachten wir uns besonders dann durch die rosarote Brille, wenn es um Kompetenzen geht, an denen es uns mangelt. Diese These vertritt zumindest der US-Psychologe David Dunning. Zusammen mit seinem damaligen Mitarbeiter Justin Kruger veröffentlichte er vor zwei Jahrzehnten eine einflussreiche Studie, in der sie den nach ihnen benannten Dunning-Kruger-Effekt demonstrierten.
In einem ihrer Experimente baten die beiden sowohl Studierende als auch professionelle Comedians, eine Reihe von Witzen zu bewerten. Gerade die Studentinnen und Studenten, deren Urteil am stärksten von dem der Humor-Profis abwich, waren sich besonders sicher, einen guten Scherz von einem schlechten unterscheiden zu können. Auch in anderen Bereichen tauchte der Dunning-Kruger-Effekt auf: Schlechte Bridge-Spieler überschätzen sich deutlicher als gute, schwache Schüler mehr als die Klassenbesten.
David Dunning hält diese Tendenz nicht für bösen Willen oder Selbstbetrug, sondern für unausweichlich: »Die Logik selbst verlangt fast diesen Mangel an Selbsteinsicht«, schrieb er in einem Artikel mit dem Titel »Wir sind alle zuversichtliche Idioten« (»We are all confident idiots«). Um ihre Unfähigkeit zu erkennen, bräuchten Leistungsschwache genau die Expertise, an der es ihnen fehle. Der Dunning-Kruger-Effekt ist nicht unumstritten. Doch selbst Kritiker stimmen zu, dass Experten die eigenen Fähigkeiten auf dem Gebiet ihrer Expertise besser einschätzen können als Laien die ihren.
»Wie wir uns in bestimmten Bereichen einschätzen, hängt eher von unserer Persönlichkeit ab als von unseren tatsächlichen Begabungen«
Aljoscha Neubauer, Universität Graz
Wie sehr Menschen zu einem verzerrten Selbstbild neigen, hängt allerdings wohl auch von der Persönlichkeit ab. In diese Richtung deutet unter anderem eine aktuelle Studie an der Universität Graz, die der Psychologe Aljoscha Neubauer und seine Mitarbeiterin Gabriela Hofer durchgeführt haben. Mehr als 300 Jugendliche von neun verschiedenen weiterführenden Schulen füllten zunächst einen Fragebogen aus, der Rückschlüsse auf fünf Dimensionen der Persönlichkeit erlaubt, die »Big Five«: Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und emotionale Stabilität. Zudem sollten sie einschätzen, wie es um ihre Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen bestellt war. Danach durchliefen sie eine Batterie von Tests, in denen ebendiese Fähigkeiten gemessen wurden, beispielsweise sollten sie Zahlenfolgen ergänzen (numerische Intelligenz), Wörter nach Ähnlichkeiten zuordnen (verbale Intelligenz), sich unkonventionelle Nutzungsideen für Alltagsobjekte überlegen (Kreativität) oder eine fiktive Konfliktsituation entschärfen (emotionale Intelligenz).
Dabei offenbarte sich ein starker Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Selbstbild. So attestierten sich Schülerinnen und Schüler, die sich als sehr offen beschrieben, oft auch große Kreativität und sprachliche Intelligenz. Mit den gemessenen Werten stimmte die Selbsteinschätzung aber nicht unbedingt überein. »Wie wir uns in bestimmten Bereichen sehen, hängt eher von unserer Persönlichkeit ab als von unseren tatsächlichen Begabungen«, sagt Neubauer. Das gilt auch für Erwachsene, wie eine 2017 erschienene Befragung von Frauen und Männern zwischen 52 und 82 Jahren zeigte. Vor allem die besonders extravertierten und offenen unter ihnen neigten dazu, ihre kognitiven Fähigkeiten zu überschätzen. Neurotische Menschen (also solche mit einer niedrigen emotionalen Stabilität) attestierten sich dagegen eher eine geringere geistige Leistungsfähigkeit, als sie tatsächlich hatten.
»Dass wir uns für etwas interessieren, bedeutet nicht automatisch, dass wir darin auch gut sind«
Aljoscha Neubauer
Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Wir tendieren dazu, uns vor allem auf jenen Gebieten eine hohe Expertise zuzuschreiben, die uns interessieren. Wer gerne fotografiert, hält sich oft für einen guten Fotografen. Wer jede freie Minute mit Gartenarbeit verbringt, sieht sich gerne als halben Botaniker. »Dabei hängen Interessen und Begabungen nur schwach zusammen«, erklärt Neubauer. »Dass wir uns für etwas interessieren, bedeutet nicht automatisch, dass wir darin auch gut sind.«
Ein Wesenszug, der in den Big Five nicht auftaucht, ist Narzissmus. Donald Trump, dem man ja einen ungebrochenen Glauben an die eigene Großartigkeit nachsagt, behauptet, er sei ein »sehr stabiles Genie«, oder attestiert sich in Tweets ein gutes Aussehen. Wie viel davon Kalkül ist und wie viel echte Überzeugung, sei dahingestellt. Neubauer und Hofer zeigen jedoch, dass selbstverliebte Personen sich tatsächlich oft in einem besonders rosaroten Licht sehen. Im Grunde ist das nicht weiter überraschend, gehört doch ein übermäßig positives Selbstbild zum Kern von Narzissmus.
Der Hubris-Humility-Effekt
Wie wir uns selbst sehen, ist darüber hinaus auch eine Frage unseres Geschlechts. In den vergangenen 30 Jahren förderte die Forschung immer wieder ein charakteristisches Muster zu Tage: Männer schätzen ihre Geistesgaben oft höher ein, als diese wirklich sind, Frauen dagegen geringer. In der Psychologie hat sich dafür der Begriff »hubris humility effect« eingebürgert (hubris = Überheblichkeit; humility = Bescheidenheit). »Männer sind etwas anfälliger dafür, ihre Fähigkeiten zu überschätzen; sie sind selbstbewusster«, sagt die Psychologin Elanor Williams von der Washington University in St. Louis, die an der eingangs erwähnten Foto-Studie beteiligt war.
Eine interessante Ausnahme lässt sich in manchen afrikanischen Ländern beobachten; dort ist es genau andersherum. Ohnehin gibt es Hinweise darauf, dass der kulturelle Hintergrund für das Selbstbild ebenfalls eine Rolle spielt. Demnach schreiben sich Menschen aus individualistischen Staaten wie den USA oder Großbritannien eine höhere Intelligenz zu als solche aus kollektivistischen Kulturen, etwa Japaner oder Chinesen. So konnte der Psychologe Adrian Furnham vom University College London 2001 nachweisen, dass US-amerikanische Probanden ihren IQ im Schnitt um sieben Punkte höher einschätzten als Teilnehmer aus Japan. Allerdings fehlte in der Arbeit ein Vergleich zur tatsächlich gemessenen Intelligenz.
Für manche Fähigkeiten ist unser Selbstbild deutlich passgenauer als für andere: Wir haben ein treffendes Bild davon, wie gut wir mit Menschen umgehen oder mit Zahlen rechnen können. Deutlich schwerer fällt es uns zu beurteilen, wie es um unseren Humor oder um unsere Kreativität bestellt ist. In einer groß angelegten Analyse haben die US-Forscher Ethan Zell und Zlatan Krizan kürzlich einige Faktoren identifiziert, die die Genauigkeit der Selbsteinschätzung beeinflussen. Je weniger komplex eine Aufgabe demnach ist und je häufiger wir sie schon ausgeführt haben, desto korrekter können wir taxieren, wie gut wir darin sind. Auch fällt es uns leichter, unsere Fähigkeiten in einem klar abgegrenzten kleinen Bereich zu bewerten: Wir wissen eher um unsere Kopfrechen-Fähigkeiten als um unser allgemeines mathematisches Talent.
»Im Beruf sind die Rückmeldungen, die wir erhalten, oft zweideutig, oder sie kommen zu selten und unregelmäßig«
Elanor Williams, Washington University in St. Louis
Einig ist sich die Wissenschaft zudem in einem weiteren Punkt: »Feedback ist für die Treffsicherheit der Selbsteinschätzung ausgesprochen wichtig«, sagt die Psychologin Elanor Williams. »Leider bekommen wir es aber nicht immer in einer Form, die uns helfen würde. Im Beruf sind die Rückmeldungen, die wir erhalten, beispielsweise oft zweideutig, oder sie kommen zu selten und unregelmäßig.« Ehrliches Feedback fällt häufig schwer – die meisten Menschen drücken sich gerne davor oder verpacken es in schöne Worte, um die Gefühle des Gegenübers nicht zu verletzen. Wozu das führen kann, erklärt Williams am Beispiel von Geschenken: Wer nicht sagt, dass ihm die Socken nicht gefallen, müsse eben damit leben, wenn im folgenden Jahr wieder ähnliche unter dem Weihnachtsbaum liegen.
Tatsächlich zeigt die Studie von Aljoscha Neubauer und Gabriela Hofer, dass zunehmende Erfahrungen, etwa mit Schulnoten und anderen Formen der Rückmeldung, einen großen Einfluss auf die Selbstbewertung haben. »In einer Arbeit haben wir zum Beispiel festgestellt, dass die Selbsteinschätzung der räumlichen Fähigkeiten mit 17 deutlich genauer ist als mit 13«, erklärt Neubauer.
Der Blick auf andere fällt oft realistischer aus als der auf die eigene Person. Die amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham gehörten in den 1950er Jahren zu den ersten Wissenschaftlern, die dieses Phänomen systematisch erforschten. Dabei entwickelten sie das »Johari-Fenster« – ein in vier Quadranten aufgeteiltes Rechteck, benannt nach den Vornamen seiner Erfinder. Jeder Quadrant steht für einen Teil der Persönlichkeit: »Die öffentliche Person« ist sowohl uns selbst als auch unseren Mitmenschen bekannt, und »Unbekanntes« ist uns und anderen gleichermaßen verschlossen. »Das Geheimnis« kennen wir selbst, verbergen es aber gegenüber anderen. Und der »blinde Fleck« ist der Teil unserer Persönlichkeit, in den unsere Mitmenschen besseren Einblick haben als wir selbst.
Welcher Teil unseres Selbst von unserer Umgebung treffsicherer beurteilt wird als von uns, ist kein Zufall. Einerseits spielt dabei natürlich eine Rolle, wie gut sich eine Eigenschaft von außen beobachten lässt. Dazu kommt aber noch ein weiterer Punkt: Unser »blinder Fleck« umfasst meist Facetten unserer Persönlichkeit, die entweder sehr positiv oder sehr negativ konnotiert sind. Bei solchen Eigenschaften ist unsere Wahrnehmung oft verzerrt, der Blick von außen dagegen deutlich präziser, hat die kalifornische Psychologin Simine Vazire festgestellt. Selbst bei Merkmalen wie Intelligenz, die sich nicht auf den allerersten Blick erschließen, aber als sehr erstrebenswert gelten, könnten andere daher ein treffsichereres Urteil abgeben als wir.
Simine Vazire spricht ebenfalls von einem »blinden Fleck«, der uns selbst verborgen bleibe, unseren Mitmenschen jedoch nicht. Ein Weg zu einer besseren Selbsterkenntnis sei daher, sich selbst mit fremden Augen zu betrachten. So sieht es auch Elanor Williams. »Der Blick von außen kann helfen, sich genauer einzuschätzen«, sagt sie.
Ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung ist indes gar nicht so schlecht. Es fühle sich schlicht gut an, von seinen Fähigkeiten überzeugt zu sein, sagt Williams. Wer sich positiv einschätzt, ist zudem eher dazu bereit, Dinge einfach einmal auszuprobieren und Grenzen auszutesten. Auf die richtige Dosis kommt es an. Es ist eben ein Unterschied, ob man sich für klug genug hält, um sich in viele Dinge einzuarbeiten – oder aber für ein sehr stabiles Genie.
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