Anendophasie: Wenn die innere Stimme schweigt
Die meisten Menschen sind es gewohnt, hin und wieder in Gedanken mit sich selbst zu reden: Ich muss unbedingt am Wochenende daran denken, die Steuererklärung fertig zu machen. – Was wollte ich noch gleich tun, wenn ich nach Hause komme? Bei manchen bleibt die innere Stimme allerdings (weitgehend) stumm, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inzwischen wissen. Johanne Nedergaard von der Universität Kopenhagen und Gary Lupyan von der University of Wisconsin-Madison schlagen in einer aktuellen Forschungsarbeit vor, das Phänomen auf den Namen »Anendophasie« zu taufen. Außerdem haben sich die beiden Forscher angeschaut, welche Konsequenzen das Ausbleiben von gedanklichen Selbstgesprächen auf kognitiver Ebene haben kann.
Dafür rekrutierten Nedergaard und Lupyan 46 Versuchsteilnehmer, die in einer anderen Studie angegeben hatten, kaum in Gedanken mit sich selbst zu reden, und stellten ihnen verschiedene Aufgaben. Als Vergleichsgruppe dienten 47 Personen, die eigenen Aussagen zufolge besonders häufig stumme Selbstgespräche führen.
Wie die Tests offenbarten, hatten Probanden ohne innere Stimme vor allem bei solchen Aufgaben das Nachsehen, die das verbale Arbeitsgedächtnis beanspruchen. So gelang es ihnen etwa schlechter zu entscheiden, ob sich die Namen von zwei Objekten reimten, zu denen ihnen die Forscher Bilder zeigten. Und auch das Merken von kurzen Wortlisten fiel ihnen schwerer. Ging es hingegen darum, schnell zwischen zwei verschiedenen Aufgaben hin- und herzuwechseln oder ähnliche Objekte anhand ihrer Umrisse zu erkennen, ließ sich kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen ausmachen.
Interessanterweise schafften es einige Teilnehmer ohne innere Stimme, ihre Defizite geschickt zu kompensieren, indem sie einfach offene Selbstgespräche führten und die Wörter laut vor sich hersagten. Diese Personen schnitten ähnlich gut in allen Tests ab wie jene Probanden, die rege innere Monologe führten. Außerdem beschränkten sie sich zum Beispiel eher darauf, sich nur die Anfangsbuchstaben von ähnlich klingenden Wörtern einzuprägen, um so die Last für das Arbeitsgedächtnis zu vermindern. Nedergaard und Lupyan vermuten deshalb, dass Menschen mit Anendophasie im Alltag oft gar nicht auffallen, weil sie mit anderen Strategien trotzdem gut zurechtkommen.
Im Gegensatz zur fehlenden bildlichen Vorstellungskraft, der Afantasie, ist die Anendophasie bislang kaum erforscht. So ist beispielsweise unklar, ob sie mit weiteren Veränderungen in den Gedankenwelten von Menschen einhergeht. Nedergaard und Lupyan gehen nicht davon aus, dass das Phänomen auf eine allgemein fehlende auditive Vorstellungskraft zurückzuführen ist. So würden Personen mit Anendophasie durchaus davon berichten, hin und wieder einen Ohrwurm von eingängigen Musikstücken zu haben – wenn auch seltener.
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