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Selbstreflexion: Entdeckungsreise ins Ich

Sich gedanklich zurücklehnen und über das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen nachdenken: Selbstreflexion hilft dabei, sich selbst besser zu verstehen. Das gedankliche Kreisen um die eigene Person kann aber auch zum Problem werden.
Mann steht am Ende eines Stegs und blickt auf eine neblige Seenlandschaft
Der Weg zum Selbst führt ins Ungewisse. (Symbolbild)

Narziss hätte seine Freude an der heutigen Zeit: Der Jüngling aus der griechischen Mythologie war bekannt dafür, sich unentwegt mit sich selbst zu beschäftigen. Die Nabelschau ist heute aktueller denn je: Zahllose Buchratgeber widmen sich ausgiebig der eigenen Person. »Selbstfindung – Wer bin ich? Was will ich?« heißt es da. Oder: »Selbstreflexion: Finde Ruhe, Lebensfreude und Liebe«. Ein anderes Buch trägt den Titel »Das Date mit dir selbst«. Auf Instagram sieht es ähnlich aus. Unter dem Hashtag #selfreflection finden sich inzwischen mehr als eine Million Beiträge, dazu zig Posts mit Übungen, die helfen wollen, sich in der Selbsterkundung zu üben. Denn während es dem selbstverliebten Narziss genügte, sich im Spiegel der Wasseroberfläche zu betrachten, geht es bei der heutigen Selbstreflexion darum, den Grund des Sees bis in die tiefsten Winkel zu erkunden.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person ist seit jeher ein beliebtes Thema in der Kunst und Literatur. Besonders deutlich wird das beispielsweise in der Bewegung der »Confessional Poets«, die in den späten 1950er Jahren in den USA entstand. Die Autorinnen und Autoren der so genannten »Bekenntnisliteratur« kehrten in ihren Gedichten ihr Innerstes nach außen. Peinlichkeiten und Schamgefühle waren keine Tabus mehr. In Skandinavien wurde die Selbsterkundung zeitweise sogar staatlich gefördert. Im 19. Jahrhundert entstand dort eine besondere Art der Volkshochschule, deren Ziel es war, die Bürger und Bürgerinnen bei der Identitätsbildung zu stärken und ihre Selbstbestimmung voranzutreiben. Der Aufenthalt war kostenlos und dauerte zwischen vier bis sechs Monate.

Doch wozu eigentlich? Was bringt es, über das eigene Leben nachzudenken? James Pennebaker, Sozialpsychologe an der University of Texas in Austin, erklärt: »Reflexion bedeutet, dass man sich zurücklehnt und versucht, etwas besser zu verstehen.« Bei einer mathematischen Gleichung ginge es beispielsweise nicht darum, die Aufgabe zu rechnen, sondern sich zu fragen, wie diese funktioniert. Über einen Aspekt von sich selbst nachzudenken, verfolge ein ähnliches Ziel: »In beiden Fällen kann der Akt der Reflexion einen Einblick in ein Problem geben.«

Der Schritt zurück ermöglicht dem Menschen, Distanz einzunehmen und sich selbst aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das spiegelt sich im Begriff wider: Das lateinische Wort »reflectere« bedeutet »zurückwenden« oder »sich zurückbeugen«. Selbstreflexion wäre demnach eine Rückwendung auf sich selbst.

Die drei Formen der Selbstreflexion

In Gesprächen mit Freunden und Freundinnen passiert Selbstreflexion oft ganz nebenbei. Manche greifen dafür auch zu Stift und Papier – eine Methode, die viele Ratgeber empfehlen. Das Nachdenken über sich selbst gehört außerdem zu den wichtigsten Bausteinen einer Psychotherapie. Die eigenen Probleme und ihre Ursachen besser zu verstehen, soll Patientinnen und Patienten dabei helfen, besser mit sich umzugehen.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass Selbstreflexion in Form von Erzählen oder Schreiben den Menschen guttut. Beides steigert das Wohlbefinden, fördert die Identitätsbildung sowie das persönliche Wachstum und hilft, Gefühle besser zu regulieren, fassen die Wissenschaftlerinnen Kelly Marin und Elena Rotondo in einer 2015 erschienenen Untersuchung zusammen. Ob Selbstreflexion in Form eines inneren Monologs ebenso wirkt, ist laut Pennebaker bislang nicht untersucht – zumindest sei ihm keine derartige Studie bekannt. Womöglich genügt es nicht, die Gedanken im eigenen Kopf zu haben. Man muss sie auch ausdrücken, sei es im Gespräch mit anderen oder nur für sich, auf dem Papier.

Schreiben und Erzählen scheinen besonders hilfreich zu sein, wenn es um die Verarbeitung negativer Erlebnisse geht, etwa die traumatische Erfahrung eines schweren Unfalls. Eine der ersten Untersuchungen hierzu stammt aus dem Jahr 1986. Pennebaker, einer der Begründer des therapeutischen Schreibens, testete diese Methode damals an rund 50 Studierenden. Er teilte sie dazu in zwei Gruppen ein: Die eine sollte über ein emotional belastendes Ereignis schreiben, die andere über ein oberflächliches Thema, etwa ihre Studienplanung. Geschrieben wurde 15 Minuten lang an vier aufeinander folgenden Tagen. Vier Monate später berichteten die Teilnehmenden, die emotional schwierige Themen behandelt hatten, über weniger Krankheiten und Krankheitstage als die Kontrollgruppe. Außerdem suchten sie das Gesundheitszentrum der Universität seltener auf.

Studien wie diese wurden später mit vielen weiteren Personengruppen wiederholt, darunter Menschen mit chronischem Asthma, Brustkrebs oder Depressionen. Und doch ist unklar, wie viel das Schreiben bei psychischen Erkrankungen wie einer Depression oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung tatsächlich hilft, heißt es 2022 in einer umfassenden Übersichtsarbeit eines Teams um Monika Sohal vom Northeast Addiction and Mental Health Centre for Holistic Recovery in Kanada. Da die Untersuchungen sehr unterschiedlich aufgebaut sind, vor allem in der Schreibdauer und Stichprobe, ließen sich die Ergebnisse schwer miteinander vergleichen. Empfehlen würden Sohal und ihr Team das Schreiben dennoch: Es sei preiswert, und die Nebenwirkungen seien gering.

»Das Nachdenken über sich selbst gibt Geschehnissen eine Bedeutung«James Pennebaker, Sozialpsychologe an der University of Texas in Austin

Ein Hinweis darauf, warum Selbstreflexion vielen Menschen guttut, steckt im Konzept der Salutogenese. Die Wortneuschöpfung, die der Soziologe Aaron Antonovsky 1987 in seinem Buch »Unraveling the mystery of health« prägte, diente ihm als Gegenbegriff zur Pathogenese. Geht es bei Letzterer vor allem um das Verstehen dessen, was uns krank macht, dreht die salutogenetische Perspektive den Spieß um und fragt, was unsere Gesundheit erhält. Ein zentraler Baustein ist dabei das Kohärenzgefühl. Es beschreibt unter anderem die Fähigkeit, die wichtigen Zusammenhänge des eigenen Lebens verstehen und einordnen zu können. Nachvollziehen zu können, warum etwas geschieht, soll die Selbstwirksamkeit stärken und Sinn schaffen: »Das Nachdenken über sich selbst gibt Geschehnissen eine Bedeutung«, bestätigt Pennebaker. Selbst die Erkenntnis, dass ein Ereignis letztlich zufällig oder unvermeidlich war, könne eine Art von Sinn vermitteln.

Selbstreflexion kann auch schaden

Dennoch tue nicht jede Selbstreflexion gut, sagt der Psychologe Jan Müller vom Institut für Ressourcenorientierte Gesprächsführung Hamburg. »Die Frage ist, wie wir über uns nachdenken und welche Bedeutung wir unseren Erfahrungen geben.« Stecke eine Person beispielsweise in einer negativen Gedankenspirale fest und denke die ganze Zeit »Ich bin ein Versager« oder »Ich bekomme nichts auf die Reihe«, dann sei das wenig hilfreich.

Darauf deutet auch eine US-Studie aus dem Jahr 2017 hin. Die bereits erwähnten Forscherinnen Kelly Marin und Elena Rotondo wollten herausfinden, ob das Reflektieren negativer Ereignisse tatsächlich für jeden Menschen geeignet ist. Sie ließen rund 70 Psychologiestudierende fünf Wochen lang einmal pro Woche für 15 Minuten über ein belastendes Erlebnis schreiben. Als Selbstreflexion werteten die Forscherinnen das aktive Bemühen, den eigenen Erfahrungen eine persönliche Bedeutung zu geben, sie zu erklären und zu bewältigen. Als Grübeln hingegen definierten sie Texte, in denen sich die Gedanken ständig wiederholten und die den Fokus eher auf Ursachen und Folgen einer negativen Erfahrung legten.

Das Ergebnis: Wenn der Grad der Selbstreflexion mit der Zeit anstieg, nahmen Stress und Selbstkritik ab, und die Versuchspersonen entwickelten sich in ihrer Persönlichkeit weiter. Bei denen hingegen, die beim Schreiben zum Grübeln neigten, nahmen die Selbstzweifel zu; sie fühlten sich gestresster und entwickelten sich weniger weiter. Eine genauere Analyse der Texte zeigte zudem, dass sich die grüblerischen Texte tatsächlich mehr um Ursachen und Wirkungen der Ereignisse drehten und weniger um deren persönliche Bedeutung.

»Menschen, die in einer Gedankenspirale feststecken, empfinden sich oft als Spielball der Ereignisse. Sie haben das Gefühl, nichts im Griff zu haben«, bestätigt der Hamburger Psychologe Jan Müller. Er suche mit seinen Klienten und Klientinnen daher nach neuen Perspektiven. Wenn sich zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter im Alltag dauerhaft überfordert fühle, beleuchte er mit ihr neben ihrer Situation auch den gesellschaftlichen Druck, der auf ihr und anderen Frauen liegt. »In finanzieller Hinsicht sind alleinerziehende Mütter benachteiligt«, sagt Müller. »Dazu kommt der Anspruch, dass Mütter beruflich erfolgreich sein und ihr Kind immer rechtzeitig von der Kita abholen sollen.«

Daraus ergeben sich Fragen wie: Sind diese Ansprüche erfüllbar? Ist das gerecht? Die Erkenntnis daraus könnte lauten: »Kein Wunder, dass ich unzufrieden bin. Das verbindet mich mit vielen anderen Frauen, die den Alltag allein stemmen müssen.« Die Klientin mag sich zwar weiterhin unzufrieden oder überfordert fühlen, sagt Müller. Doch das werde für sie nun durch die gesellschaftliche Dimension verständlicher. Sie sehe die Schuld dann nicht mehr nur bei sich und fühle sich mit ihren Problemen weniger allein.

»Über sich selbst nachzudenken bedeutet, mehr Facetten an sich zu entdecken«, sagt Pennebaker. »Das erzeugt oft mehr Verständnis für sich und die eigene Situation, es kann aber auch schmerzhaft sein und überfordern.« Wer gerade die Deadline seiner Abschlussarbeit vor Augen habe, müsse nicht auch noch seine schwierige Kindheit verarbeiten. An der Stelle könne es besser sein, sich auf positive Dinge zu konzentrieren und die Selbstreflexion auf später zu vertagen.

Doch wenn gerade nichts Dringendes ansteht, empfiehlt der Psychologe: »Nehmen Sie sich drei bis vier Tage, um täglich 15 bis 20 Minuten über einen Aspekt von sich oder eine Erfahrung zu schreiben, zu sprechen oder nachzudenken. Bringt es Ihnen etwas, machen Sie weiter.« Pennebaker sieht in der Selbstreflexion aber nicht den einzig wahren Heilsbringer, er denkt pragmatisch. »Nützt es Ihnen nichts, hören Sie damit auf. Probieren Sie es mit Joggen. Machen Sie eine Psychotherapie. Gehen Sie in die Kirche.«

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