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Selbstwert: Warum es so schwerfällt, sich selbst zu mögen

Manche Leute plagen sich mit Selbstzweifeln und sind selten mit sich zufrieden. Woran liegt das? Und kann man das ändern? Der erste Schritt: verstehen, wie man sich selbst im Weg steht.
Frau hält einen Spiegel mit ihrem eigenen verwaschenen Abbild

»Man füttert ein Kind mit Milch und Lob«, stellte schon vor 200 Jahren der englische Schriftsteller Charles Lamb fest. Eine Weisheit, die auch viele Eltern verinnerlicht haben: Lob gilt als Dünger für die kindliche Psyche, der – richtig dosiert – den Selbstwert von Kindern erblühen lässt und ihnen den Weg in ein glückliches Leben ebnet. Denn wer sich selbst wertschätzt, hat es leichter. Menschen mit einer wohlwollenden Einstellung zur eigenen Person erkranken seltener an Depressionen, und sie sind zufriedener mit ihrer Arbeit und ihren Beziehungen.

Studien deuten zudem darauf hin, dass es das positive Selbstbild ist, das diese Effekte hervorruft: Zwar mag Arbeitslosigkeit den Selbstwert beeinträchtigen. Zusätzlich gilt aber auch: Wer sich mag, findet leichter einen Job.

Kein Wunder, dass Mütter und Väter den Selbstwert ihrer Sprösslinge stärken möchten. Und nicht nur sie: Im Jahr 1986 rief der US-Bundesstaat Kalifornien eine Taskforce ins Leben, die sich der Förderung eines positiven Selbstbildes widmen sollte. Denn augenscheinlich tun sich viele Menschen schwer mit dem Gedanken, dass sie gut sind, so wie sie sind. Wer etwa bei Amazon als Suchwort »Selbstwertgefühl« eingibt (Selbstwert bezeichnet den Wert, den jemand sich zumisst; Selbstwertgefühl seine emotionale Reaktion darauf), hat die Wahl zwischen 50 000 Buchtiteln. Ein großer Teil davon sind Ratgeber, die helfen wollen, den Selbstwert zu stärken. Aber geht das überhaupt – können wir lernen, uns mehr zu mögen? Und warum fällt das manchen Menschen eigentlich so schwer?

»Unser Selbstwert hat einen unveränderlichen Kern«
Jenny Wagner, Psychologin an der Universität Hamburg

»Es gibt eine gewisse durchschnittliche Tönung des Selbstgefühls, die jeder von uns mit sich herumträgt«, schrieb 1890 der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James. Damit lag er richtig: Wie wir zu uns stehen, ist zumindest zum Teil fest in unserem Wesen verankert. »Unser Selbstwert hat einen unveränderlichen Kern«, erklärt Jenny Wagner, die an der Universität Hamburg den Arbeitsbereich Pädagogische Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung leitet. »Er ist etwa zur Hälfte auch über längere Zeiträume – eine unserer Studien lief über zehn Jahre – stabil.«

Denn einerseits ist das Maß der Eigenliebe eine Frage der Gene. Auf mehr als ein Drittel beziffert die Persönlichkeitspsychologin Wiebke Bleidorn von der University of California in Davis den Einfluss der Erbanlagen auf den Selbstwert. Als Basis für ihre Schätzung diente ihr unter anderem der Vergleich zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch; sie waren sich im Schnitt hinsichtlich ihres Selbstwertgefühls deutlich ähnlicher als zweieiige Zwillinge, die im Mittel nur 50 Prozent ihrer Gene gemeinsam haben.

Zudem scheinen frühkindliche Einflüsse langfristig zu beeinflussen, wie sehr wir uns wertschätzen. Dazu zählen insbesondere Faktoren, die der Schweizer Wissenschaftler Ulrich Orth unter dem etwas vagen Begriff »Qualität der häuslichen Umgebung« zusammenfasst: Behandeln Mutter und Vater ihr Kind mit Zuneigung und Wärme? Fördern sie seine Entwicklung – besitzt es beispielsweise eigene Bücher, üben die Eltern mit ihm Zahlen und Buchstaben? Ist das Haus sauber und das Spielzimmer hinreichend sicher?

Je mehr davon zutrifft, desto höher ist die Chance, dass der Nachwuchs später eine positive Einstellung zu sich entwickelt, konnte Orth in einer Langzeitstudie zeigen. Der Einfluss der frühkindlichen häuslichen Umgebung ging zwar zurück, je älter das Kind wurde. Er ließ sich aber noch bei 27-jährigen Studienteilnehmern nachweisen. Anders ausgedrückt: Wenn wir als Dreijährige von unseren Eltern permanent abgewiesen werden, kann das bis ins Erwachsenenalter an unserem Selbstwert nagen. Ob wir eher dazu tendieren, uns toll zu finden oder uns niederzumachen, ist also nicht zuletzt eine Frage des Elternhauses.

Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang (elterliche) Anerkennung? Studien zeigen, dass Lob ein zweischneidiges Schwert ist, das unter bestimmten Umständen auch Schaden anrichten kann. Dem niederländischen Psychologen Eddie Brummelman zufolge besteht diese Gefahr insbesondere dann, wenn Kinder für ihre Eigenschaften gelobt werden, zum Beispiel: »Du bist wirklich super in Mathe!« Brummelman spricht in diesem Zusammenhang von einem Lob der Person (»person praise«), im Gegensatz zu einem Lob für die Leistung, die sie vollbracht hat (»Da hast du dich aber besonders angestrengt!«). Nach einem Lob der Person tun sich Kinder erheblich schwerer damit, Niederlagen zu verdauen. Sie schämen sich dann für eine schlechte Leistung erst recht in Grund und Boden, und zwar vor allem, wenn sie ohnehin schon unter einem negativen Selbstbild leiden.

Lob signalisiert: Jemand hat die Macht, mich zu bewerten

Der mögliche Grund dafür: Wenn man nach einem Erfolg Kinder dafür lobt, wie sie sind, beziehen sie den Misserfolg ebenfalls auf ihre Person und nicht etwa darauf, dass sie sich vielleicht nicht genügend angestrengt haben. Aus einem »Ich habe diesmal nicht genug geübt« wird dann ein »Ich kann das nicht, ich bin dumm«. Brummelman ist generell skeptisch gegenüber dem Versuch, Lob als eine Art Medizin gegen ein negatives Selbstbild zu verwenden: »Der Buchautor Alfie Kohn hat einmal gesagt: Das bedeutendste Merkmal eines positiven Urteils ist nicht, dass es positiv ist, sondern dass es ein Urteil ist«, sagt er. Lob signalisiert: Jemand hat die Macht, mich zu bewerten, und zwar abhängig davon, wie ich mich verhalte. Es kann Kinder unter Druck setzen, den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden.

Für viel wichtiger hält der Niederländer daher, dass Eltern ihrem Nachwuchs das Gefühl vermitteln, sie vorbehaltlos zu akzeptieren: Du bist gut, wie du bist, komme, was wolle. »Wenn Kinder wissen, dass andere sie ohne Bedingungen mögen, tendieren sie dazu, einen sichereren Selbstwert zu entwickeln.« Ein Zusammenhang, den auch die Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz von der Universität Bamberg unterstreicht: »Wir haben oft verinnerlicht, nur dann etwas wert zu sein, wenn wir etwas leisten«, sagt sie. »Diese Kopplung gilt es zu überwinden.«

Gene und frühkindliche Einflüsse stellen gewissermaßen die Weichen für den Grundton unseres Selbstwerts. Von ihm ausgehend folgt die Art und Weise, in der wir uns selbst sehen, oft einem typischen Verlauf. Ulrich Orth von der Universität Bern hat 2018 die Ergebnisse von fast 200 Studien mit 160 000 Teilnehmenden zwischen 4 und 94 Jahren analysiert. Im Schnitt schätzten sich die Probandinnen und Probanden umso mehr, je älter sie wurden. Besonders ausgeprägt ist diese Steigerung in den ersten drei Lebensjahrzehnten. Später nimmt der Selbstwert nur noch langsam zu, bis er typischerweise mit etwa 60 Jahren ein Plateau erreicht und ab 70 wieder langsam abfällt. Erst bei Menschen über 90 sinkt er dann rapide.

Die Wertschätzung, die wir uns entgegenbringen, entwickelt sich aber keineswegs so regelhaft, wie diese Kurve suggeriert. Individuelle Erfahrungen können sie fördern oder beschädigen, zum Teil auch nachhaltig. »Selbstwert hängt sehr stark von sozialen Beziehungen ab«, betont die Persönlichkeitspsychologin Jenny Wagner von der Universität Hamburg. »Er ist umso höher, je mehr wir das Gefühl haben, dazuzugehören und gemocht zu werden. Soziale Ausgrenzung führt dagegen zu Selbstwertverlusten.«

Zusammen mit Forschenden anderer Universitäten hat Wagner 2015 eine Studie mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt, die für ein Jahr ins Ausland gegangen waren. Jeden Monat sollten sie angeben, wie gut sie inzwischen sozial integriert waren, und zudem einen Selbstwert-Fragebogen ausfüllen. »Sobald die Schülerinnen und Schüler sich ihrem neuen Umfeld zugehörig fühlten, sahen wir spätestens in der Befragung einen Monat später, dass sie sich selbst positiver bewerteten«, erklärt Wagner.

Die Soziometer-Hypothese: Selbstwert als Alarmanlage

Der US-Psychologe Mark Leary und seine Kollegin Deborah Downs bezeichneten das menschliche Selbstwertsystem Mitte der 1990er Jahre als eine Art Sensor fürs Zwischenmenschliche. Ähnlich wie ein Tachometer die Geschwindigkeit misst, erfasst dieser »Soziometer« ständig den Zustand unseres sozialen Netzwerks. Ein niedriger Selbstwert ist demnach ein Alarmsignal, das uns motivieren soll, an unseren Beziehungen zu arbeiten. »Leary begründet das evolutionsbiologisch«, erläutert Wagner: »Sein Argument lautet: Als Mensch überlebt man nicht allein; wir brauchen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.«

Unser Sozialtacho kann aber auch zu sensibel reagieren. Dann reichen manchmal schon Kleinigkeiten, damit wir uns in Frage stellen: eine kritische Bemerkung, eine Auseinandersetzung im Straßenverkehr, das Gefühl, nicht ausreichend gewürdigt worden zu sein. Selbst Menschen, die eigentlich eine hohe Meinung von sich selbst haben, können über einen fragilen Selbstwert verfügen. Sie scheinen Zurückweisungen mitunter besonders schlecht zu verkraften. Manche Studien legen beispielsweise nahe, dass sie verstärkt zu Rassismus und Gewalt neigen.

Ein niedriger Selbstwert ist unangenehm; das zeigt schon die Fülle an Ratgebern, die Abhilfe versprechen. Und dennoch hat er die Tendenz, sich hartnäckig zu halten. Es ist nicht einfach, eine positivere Sicht auf sich zu entwickeln. Das liegt einerseits an einem Mechanismus, den die Bamberger Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz als Konsistenz-Motiv bezeichnet: Wir neigen dazu, Informationen auszublenden, die unserem Selbstbild zuwiderlaufen. Ein Beispiel: »Wenn wir uns für unattraktiv halten und uns dann jemand sagt: Mensch, du siehst ja super aus!, dann unterstellen wir möglicherweise, der andere wolle uns schmeicheln.« Selbstbestätigung lässt uns die Welt verständlicher erscheinen – diese »Selbstverifikations-Hypothese« formulierte der US-Sozialpsychologe William Swann schon vor 40 Jahren.

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Menschen mit geringem Selbstwert so oft auf ihre Schwächen fokussieren. »Sie vergleichen sich zum Beispiel häufig mit Personen, die in bestimmten Bereichen besser sind als sie«, sagt Schütz. Sie sehen nur: Der spielt viel besser Fußball als ich. Dass sie dafür andere Talente haben, blenden sie aus. »Das ist natürlich eine ausgesprochen ungünstige Strategie.« Hinzu kommt noch ein drittes Phänomen: Ein negatives Selbstbild hat oft Konsequenzen, die ebendieses Selbstbild verstärken. Wer etwa von sich selbst nicht überzeugt ist, hat eher Schwierigkeiten, einen guten Beruf zu finden, was wiederum nicht dazu beiträgt, eine positivere Haltung zu sich zu finden.

Astrid Schütz zufolge können derartige Teufelskreise Minderwertigkeitsgefühle festschreiben oder verstärken. Das belegt auch eine Studie, die 2018 von Forschenden aus den USA, Kanada und Neuseeland veröffentlicht wurde. Sie hatten darin gezeigt, dass in Beziehungen Partner mit einem niedrigen Selbstwert besonders oft befürchten, zurückgewiesen werden. Als Konsequenz verhalten sie sich sehr defensiv, provozieren damit aber oft gerade die Zurückweisung, die sie fürchten.

Ein negatives Selbstbild kann großen Leidensdruck verursachen. Helfen könne dann oft eine Therapie oder ein Coaching, sagt Schütz, in moderaten Fällen auch Selbstreflexion. »Es geht dabei zunächst einmal darum, ungünstige automatische Gedankenmuster zu durchbrechen und die Perspektive zu wechseln – etwa, indem man jeden Abend notiert, was tagsüber gut gelaufen ist. Auf diese Weise lernt man, stärker auf die kleinen Erfolge des Alltags zu fokussieren.«

Selbstwert: Ein sozialer Impfstoff?

Für hilfreich hält Schütz auch Achtsamkeitstrainings, die einen wertneutralen Blick auf das eigene Selbst schulen. Sie führt momentan zum Thema Achtsamkeit und Selbstwert eine Studie durch. Die Hamburger Forscherin Jenny Wagner betont zudem noch einen weiteren Punkt: »Unsere Arbeiten zeigen immer wieder, wie wichtig positive soziale Interaktionen für den Selbstwert sind.« Wer sich in seinen eigenen vier Wänden verkriecht, beraubt sich dieser Chance.

Die kalifornische Taskforce zur Förderung des Selbstwerts bezeichnete in ihrem Abschlussbericht 1990 eine wohlwollende Einstellung zur eigenen Person als »wahrscheinlichsten Kandidaten für einen sozialen Impfstoff«. Er immunisiere gegen alle möglichen gesellschaftlichen und individuellen Übel – von Teenagerschwangerschaften über Drogenmissbrauch bis hin zu kriminellem Verhalten. Astrid Schütz würde das so nicht unterschreiben. Dennoch empfiehlt sie Menschen mit einem niedrigen oder instabilen Selbstwert, an sich zu arbeiten und gegebenenfalls Hilfe zu suchen. »Einfach, weil sie dann besser mit ihrem Leben zurechtkommen.«

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