Smart Living: Senioren könnten Technik nutzen - wenn sie wollten
Frau Schmitt ist über 80, sie lebt allein. Unterstützung erhält sie von der Technik in ihrer Wohnung. Sensoren in der Couch messen und bewerten zum Beispiel ihren Herzschlag und Blutdruck. An diesem Tag stellen sie Unregelmäßigkeiten fest. Kein Notfall, aber man sollte es besser mal überprüfen. Mit ihrer Zustimmung vereinbart das System einen Termin bei ihrem Hausarzt und bestellt ein Taxi. Da eine Nachbarin aus dem Quartier ein ähnliches Ziel hat, wird sich Frau Schmitt die Kosten für die Fahrt sogar teilen können.
Die ältere Dame gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie ist Teil einer Vision der Abteilung Smart Living & Biometric Technologies am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) in Darmstadt. Im Gegensatz zu Smart Home und Smart City ist das Smart-Living-Konzept nicht begrenzt auf eine bestimmte Örtlichkeit, sondern soll alle Aspekte des Lebens umfassen. »Bei Smart Living steht der Mensch im Fokus«, betont der Leiter der Abteilung, Florian Kirchbuchner. Das Konzept beschreibe Komfort- und Sicherheitsszenarien für technikaffine und freizeitorientierte Menschen sowie für Personen, die auf Unterstützung angewiesen sind, so der Experte.
»Eigentlich sind wir kläglich gescheitert«Florian Kirchbuchner
Kirchbuchner ist Informatiker und schon lange Teil der wissenschaftlichen Smart-Living-Community. Er erinnert sich, dass vor zehn Jahren eine euphorische Stimmung herrschte. Jeder habe gedacht, dass sich die Systeme schnell etablieren werden. Doch auch heute gebe es nur Smart-Living-Inseln. »Eigentlich sind wir kläglich gescheitert«, lautet sein nüchternes Fazit. Das hat verschiedene Gründe. Eine enorme Herausforderung ist, dass Smart-Living-Konzepte nur in größeren Dimensionen funktionieren. Ein einzelnes Apartment mit intelligenter Technik macht noch längst kein Smart Living. Das Zuhause muss eingebettet sein in größere intelligente und vernetzte Strukturen. Man dürfe das alles, also Smart Home, Smart Living und Smart City, nicht allein denken, findet Kirchbuchner.
Ein Problem ist die Privatsphäre; ein echtes Smart-Living-Konzept funktioniert nicht ohne einen umfangreichen Datenaustausch: »Ich möchte ja, dass der Sensor Körperwerte zum Arzt schickt, dass automatisch ein Termin vereinbart wird und mich dann ein Taxi pünktlich abholt«, erklärt Kirchbuchner das Dilemma. Dazu müssen Privatpersonen, Unternehmen, medizinische Einrichtungen, Behörden und so weiter miteinander vernetzt werden und Daten austauschen.
Methoden und Technologien, die Cybersicherheit und Privatsphärenschutz über alle Lebensbereiche hinweg nachhaltig sicherstellen, gibt es allerdings noch nicht. Lösungen soll unter anderem das Nationale Forschungszentrum für angewandte Cybersicherheit (CRISP) der Fraunhofer Gesellschaft in Darmstadt liefern. Seit dem 1. Januar 2019 ist dieses eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte dauerhafte Einrichtung. Viele hundert Wissenschaftler arbeiten hier an der Daten- und Cybersicherheit in allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Insbesondere die digitale Vernetzung innerhalb einer Smart City, die Weitergabe von Informationen und die Schnittstellen seien hier wesentliche Forschungsschwerpunkte, weiß Kirchbuchner. Doch bis wirklich umsetzbare Konzepte vorliegen, dauert es gewiss noch einige Jahre.
Skepsis gegenüber Technik
Allein die Technik für Datenschutz und Kompatibilität der Systeme reicht aber für deren Umsetzung nicht aus. Dazu braucht es Standards und einen rechtlichen Rahmen. Daher hat etwa das VDE Prüf- und Zertifzierungsinstitut ein Gremium gebildet, um eine Standardisierung für smarte Technologie auszuarbeiten. Ein Zertifikat für Smart-Home-Produkte stellt das Institut bereits aus. »Es deckt jedoch nur Teilaspekte ab. Ein Standard ist dies noch nicht«, so Kirchbuchner.
Auch die führenden Akteure der Branche haben erkannt, dass sie das enorme Potenzial des Smart-Living-Markts nur ausschöpfen können, wenn sie sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Mit der Wirtschaftsinitiative »Smart Living«, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie koordiniert wird, wollen sie die für die smarte Technik nötigen strukturellen und rechtlichen Grundlagen schaffen. Weiterhin hat sich die Initiative zum Ziel gesetzt, die gesellschaftliche Akzeptanz von Smart Living zu verbessern. Denn tatsächlich besteht in vielen Teilen der Bevölkerung noch große Verunsicherung und Misstrauen gegenüber der Technologie.
Kirchbuchner kennt das. Insbesondere ältere Menschen würden der Technik mit sichtlicher Skepsis begegnen, berichtet er. Für die Etablierung der Smart-Living-Systeme ist dieser Zustand ziemlich ungünstig, da vor allem Senioren davon erheblich profitieren würden. Mit Hilfe der digitalen Assistenzsysteme können sie deutlich länger in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben. Geht es nach den Entwicklern, wird Smart Living künftig die Altersbetreuung zum Teil übernehmen. Es gibt einen demografischen Wandel und zu wenig Pflegepersonal, außerdem lösen sich Familienstrukturen auf – alles Argumente für eine digitale Hilfe im Alter. Viele Betroffenen sehen das aber noch anders: »Sie wollen schlicht nicht zugeben, dass sie auf Unterstützung angewiesen sind«, so Kirchbuchner. Technik, die ihren Alltag erleichtern würde, lehnen sie daher erst einmal ab.
»Jemanden, der gefallen ist und lange auf Hilfe warten musste, muss man nicht vom Nutzen der Überwachungskameras und Sensoren überzeugen«Florian Kirchbuchner
Intelligente Funktionen, die nicht mit dem Alter assoziiert sind, können in solchen Fällen die anfängliche Skepsis reduzieren: »Ein Boden, der Stürze erkennt, kann genauso gut erkennen, wenn ein Einbrecher zum Fenster eindringt«, erläutert Kirchbuchner in der Manier eines Verkäufers. Eigentlich könne man sogar sagen, dass viele Komfortfunktionen nur Nebenprodukte der Assistenzsysteme sind. Doch »Verkaufsargument« hin oder her: »Jemanden, der gefallen ist und lange auf Hilfe warten musste, muss man nicht vom Nutzen der Überwachungskameras und Sensoren überzeugen«, sagt Kirchbuchner. Langfristig wird außerdem die Zeit den Assistenzsystemen in die Hände spielen, denn die jungen Generationen haben bereits eine viel höhere Akzeptanzrate als ihre Großeltern.
Obwohl Senioren der Digitalisierung ihrer persönlichen Umgebung eher kritisch gegenüberstehen, sind die meisten bisherigen Smart-Living-Modellprojekte für sie konzipiert. Das liegt zum einen daran, dass die digitalen Assistenzsysteme einen großen Mehrwert für ältere Menschen haben. Zum anderen lässt sich das Konzept nur in größeren Wohnprojekten und ganzen Quartieren sinnvoll umsetzen. Ein Smart-Living-Fachplaner muss dazu die unterschiedlichen beteiligten Handwerker, wie Maurer, Elektriker und Fliesenleger, koordinieren. Für den privaten Wohnungsbau ist so etwas in der Regel einfach zu teuer. Für altersgerechte Wohnkonzepte, die im größeren Maßstab aus einer Hand entstehen, bietet es sich jedoch an.
Modellprojekt mit Demenz-WG
Das Wohn- und Quartierzentrum, kurz WoQuaZ, in Weiterstadt, einer Kleinstadt in Hessen, ist ein solches Smart-Living-Modellprojekt. In dem Gebäude befinden sich insgesamt 22 seniorengerechte Wohnungen und eine Demenz-WG. Neben vollkommen »nicht smarten« Einrichtungen, wie behindertengerechten Wohnungen, Tagespflege, Café oder Wäscheservice, gibt es dort viel elektronische Unterstützung: »Die unsichtbare Technik betreut den Bewohner – für ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden«, heißt es auf der Internetseite. Die Wohnungen sind dazu mit Sensoren ausgestattet. Wenn das Fenster zur Stoßlüftung geöffnet wird, regulieren sich die Heizungen nach unten. Muss man nachts auf die Toilette, geht das Licht automatisch an.
Etliche weitere Smart-Home-Funktionen erleichtern den Alltag im eigenen Zuhause. All diejenigen, die solche Komfortspielereien nicht brauchen, können sie jederzeit einzeln deaktivieren. Wirklich sinnvoll ist die Technik bei Notfällen: Wenn ein Bewohner stürzt und hilflos auf dem Boden liegt, wird ein Alarm ausgelöst. Dann kommt jedoch nicht gleich der Notarzt, sondern es wird erst einmal der Nachbar informiert. Denn oftmals ist eine helfende Hand von nebenan ausreichend. Und falls dem nicht so ist, kann die Technik weitere Hilfsmaßnahmen einleiten, etwa einen Krankenwagen rufen.
»Smart Living ist für Leute, die es sich leisten können«Florian Kirchbuchner
In der Regel sind die Systeme ziemlich kostspielig, weshalb gilt: »Smart Living ist für Leute, die es sich leisten können«, sagt Kirchbuchner. Doch das wolle man künftig ändern. In dem Pilotprojekt »Zusammenleben 4.0« in Halle-Neustadt entsteht zum Beispiel in ehemaligen Plattenbauten ein smartes und seniorengerechtes Modellquartier für 4000 Menschen. Die Bewohner haben meist wenig Geld und können sich weder ein smartes Zuhause noch ausreichend Pflege und medizinische Betreuung leisten.
Doch Smart Living soll die »Kosten für die Pflege und Gesundheit in der Altersversorgung durch den Einsatz von innovativer Technik reduzieren«, heißt es in der Projektbeschreibung. Zudem solle das Quartier dafür sorgen, dass Selbstbestimmtheit und soziale Teilhabe bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Mit Smart Living wird menschenwürdiges Altern finanzierbar, so die Message.
Digitales Quartier zur Überwachung von Senioren
Im »Zusammenleben 4.0« plant man, neben den Wohnungen auch das Quartier mit smarten Technologien auszustatten. Eine Idee ist beispielsweise, den Rollator zu sperren, wenn sein Nutzer das Wohnviertel verlassen will. Man kann Navigationshilfen installieren, damit die Bewohner wieder zurückfinden. »Hier geht es wirklich weg vom Smart Home hin zum digitalen Quartier, das die Bewohner im Alltag unterstützt«, sagt Kirchbuchner. »Aufbauend auf solchen Vierteln haben wir dann irgendwann auch die digitale Stadt.«
Doch bis Smart Living tatsächlich in alle Lebensbereiche vordringt und nicht mehr nur auf digitalisierten Inseln existiert, dauere es vielleicht noch 20 oder 30 Jahre, schätzt der Experte. Das eigentlich größte Problem der Technik habe man nämlich bisher gar nicht gelöst: »Sie passt sich nicht von selbst den individuellen Bedürfnissen an.« Jeder Mensch hat andere Vorlieben und Intentionen, die Situationen sind von Person zu Person verschieden.
Aber die heute auf dem Markt erhältlichen Produkte sind nicht in der Lage, ausreichend von selbst zu differenzieren, sondern müssen aufwändig konfiguriert werden. Kirchbuchner glaubt daher, dass die Systeme erst »intelligenter« werden müssen, bevor sie flächendeckend zum Einsatz kommen. Hoffnung setzt er auf die selbstlernenden Algorithmen: »Damit werden wir in den nächsten zehn Jahren deutliche Fortschritte machen.« Und dann wird auch die imaginäre Frau Schmitt endlich stellvertretend für eine Vielzahl echter Senioren stehen.
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